Schulbedarfskampagne: Jetzt Schulcomputer beim Jobcenter/Sozialamt beantragen!

Schulbedarfskampagne: Jetzt Schulcomputer beim Jobcenter/Sozialamt beantragen!

Erstellt am 23.10.2018

Immer mehr Sozialgerichte verurteilen Jobcenter zur Übernahme der Kosten für einen PC/Laptop/Tablet-Computer.

In den Regelleistungen für Kinder und Jugendliche sind für 0-6-Jährige 72 Cent, für 6-14-Jährige noch 53 Cent und für 14-18-Jährige „stolze“ 23 Cent für den Bereich Bildung enthalten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte die Bundesregierung bereits mit Beschluss vom Juli 2014 aufgefordert, die Bildungskosten in den Regelleistungen aufzustocken. Passiert ist in den zurückliegen vier Jahren allerdings nichts. Das BVerfG hat gleichzeitig die Gerichte aufgefordert, das Recht bis zu einer gesetzlichen Änderung weit auszulegen. Dieser weiten Auslegung sind nun eine Reihe von Sozialgerichten bei Bildungs- und Schulbedarfen gefolgt.

Für kostenträchtige, einmalige Bildungsbedarfe gibt es keine eigenständige gesetzliche Anspruchsgrundlage. Es liegt somit eine planwidrige Regelungslücke vor, die nun verfassungskonform durch Auslegung zu füllen ist. Die einmalige Anschaffung für Bildungsbedarfe müssen zwar nur einmal bezahlt werden, sie erfüllen jedoch einen laufenden Bedarf. Zur Vermeidung einer Bedarfsunterdeckung habe daher eine analoge Anwendung von § 21 Abs. 6 SGB II zu erfolgen. (SG Gotha v. 17.08.2018 – S 26 AS 3971/17)

Bei der Übernahme der Kosten für Schulbedarfe zeichnet sich mit einer solchen verfassungskonformen Auslegung ein gemeinsamer Tenor diverser Sozialgerichte ab:

  • LSG Niedersachsen-Bremen v. 11.12.2017 – L 11 AS 349/17, zur Übernahme von Schulbüchern für 135,65 €;
  • SG Hannover v. 06.02.2018 – S 68 AS 344/18 ER, Tablet für 369 €;
  • SG Cottbus v. 13.10.2016 – S 42 AS 1914/13, PC für 350 €;
  • SG Gotha v. 17.08.2018 – S 26 AS 3971/17, PC mit Drucker, Software und Einrichtung für 600 €;
  • SG Stade v. 29.09.2018 – S 39 AS 102/18 ER, Laptop für 399 €.

Kinder und Jugendliche dürfen nicht „abgehängt“ werden

In allen Gerichtsentscheidungen wurde die Auffassung vertreten, es handele sich bei der Anschaffung eines PC/Laptop/Tablet und von Schulbüchern zur Erfüllung schulischer Belange um einen laufenden Bedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 SGB II. Auch wenn der Computer/Laptop/Tablet zwar nur einmal bezahlt würde, erfülle er jedoch einen laufenden Bedarf, nämlich den, sachgerecht in ordnungsgemäßer Weise eine Schule besuchen zu können, ohne von vorneherein „abgehängt“ zu sein. Das SG Gotha führt dazu weiter aus: „Jeder, der Kinder in einem schulfähigen Alter hat […] müsste eigentlich wissen, dass ohne internetfähigen PC/Laptop die Befolgung organisatorischer Vorgaben der Schule zu großen Teilen nicht mehr möglich ist. Das fängt bei der Essenbestellung bei den einschlägigen Anbietern an, geht weiter über oftmals täglich aktualisierte Vertretungspläne der Schule und weiter über Referate bzw. Seminararbeiten, deren Fassung am Computer als selbstverständlich vorausgesetzt wird. […] Es ist offensichtlich und selbstverständlich, dass es hier keiner gesonderten Darlegung mehr bedarf“.

Zusammengefasst führen die Gerichte aus, dass ein PC/Laptop/Tablet (neben weiteren Schulbedarfen) zur soziokulturellen und schulischen Teilhabe von Schülerinnen und Schülern gehöre und somit zur Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums als Zuschuss zu erbringen sei. Damit es nicht zu einer verfassungswidrigen Bedarfsunterdeckungen komme, seien solche Bildungs- und Lernbedarfe, bis der Gesetzgeber eine eigenständige Anspruchsgrundlage für Bildungs- und Lernbedarfe geschaffen habe, auf Grundlage des als Zuschuss zu gewährenden Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 6 SGB II zu gewähren.

Die Sozialgerichte reagieren damit auf die Entscheidung des BVerfG v. 23.07.2014 (1BvL 10/12, 1 BvR 1691/13) in denen das BVerfG darauf hingewiesen hat, dass der Gesetzgeber auf die Gefahr einer Unterdeckung durch zusätzliche Ansprüche auf Zuschussbasis reagieren kann und das existenzsichernde Bedarfe neben dem Regelbedarf auf Zuschussbasis in verfassungskonformer Auslegung zu erbringen sind (BVerfG a.a.O. Rn 116).

Hier das Urteil des SG Gotha zum Download: https://tacheles-sozialhilfe.de/fa/redakteur/Harald_2018/Urteil_SG_Gotha-_S_26_AS_397117.pdf

Das konkrete Vorgehen:

Wir empfehlen solche Bildungsbedarfe offensiv zu beantragen. In Frage kommen PC/Laptop/Tablet-Computer, Schulbücher oder Eigenanteile für diese bzw. empfohlene Übungshefte, Kopierkosten, Anschaffungskosten für spezielle Taschenrechner, Schulbedarfe für über 25-jährige, die die allgemein- und berufsbildenden Schulen besuchen und keinen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket haben, sowie unter Umständen weitere spezielle Schul- und Bildungsbedarfe.

Diese Bedarfe sollten mit den hier veröffentlichten Musterschreiben für Schüler/innen ab der Sekundarstufe I beantragt werden. Bei der Beantragung eines Schulcomputers sollte darauf geachtet werden, dass im Haushalt kein funktionsfähiger Computer vorhanden bzw. ein solcher nicht mehr funktionsfähig ist. Den Antrag wird das Jobcenter mit großer Wahrscheinlichkeit ablehnen und auf die Leistung für den persönlichen Schulbedarf in Höhe von 100 € pro Jahr verweisen. Allenfalls könnte ein Darlehen zur Deckung des Bedarfs angeboten werden.

Jetzt muss zunächst entscheiden werden, ob es sich um einen akuten oder nicht akuten Bedarf handelt.

Akuter Bedarf

Ein akuter Bedarf liegt dann vor, wenn die Benutzung des Schulcomputers für schulische Angelegenheiten erforderlich ist und sonst dem Unterricht nicht im ausreichenden Maße gefolgt werden kann, Hausaufgaben nicht durchgeführt oder Referate nicht geschrieben werden können.

Wenn das Jobcenter den Antrag nun ablehnt, sollte dagegen fristgerecht Widerspruch eingelegt werden und dann gleich eine einstweilige Anordnung (Eilklage) beim zuständigen Sozialgericht beantragt werden. Das Gericht wird dann kurzfristig über den Eilantrag entscheiden.

Bedarfsdeckung durch Vermögensverbrauch oder bereits gedeckter Bedarf (nicht akuter Bedarf)

Wenn ein solcher Antrag abgelehnt wurde und die Anschaffung der benötigten Schulbedarfe durch Verbrauch von Vermögen oder mit Hilfe eines Darlehns von Dritten bereits realisiert wurde, besteht keine Möglichkeit für eine Eilklage. Hier ist ein normales Widerspruchs- und bei erneuter Ablehnung ein Klageverfahren durchzuführen.

In allen Fällen sollte ein Nachweis über die Beschaffungskosten des erforderlichen PC/Laptop/Tablet-Computers oder sonstiger Bedarfe beigefügt werden. Diese sollten sich im unteren Preissegment befinden, jedoch grade beim Schulcomputer als langlebigen Gebrauchsgegenstand eine gewisse Qualität aufweisen. Die Kosten für einen Internetanschluss können nicht geltend gemacht werden, denn diese sind im Bereich „Nachrichtenübermittlung“ in der Regelbedarfsstufe 1 im Regelbedarf 2018 (Alleinstehende) mit 37,16 € ausreichend abgedeckt.

Rückwirkende Geltendmachung der Schulbedarfe ist möglich

Ein unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II muss nicht gesondert im Sinne von § 37 Abs. 1 S. 2 SGB II beantragt werden. Das bedeutet, dieser kann auch rückwirkend bei laufenden Leistungsbezieher*innen geltend gemacht werden. Die Rückwirkung ist immer bis maximal Januar des jeweiligen Vorjahres möglich (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X i.V.m. § 48 Abs. 4 SGB X i.V.m § 40 Abs. Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II). Wenn demnach ab Januar des jeweiligen Vorjahres solche einmaligen Schul- und Bildungsbedarfe bestanden, führt dies zu einer Änderung der Verhältnisse zugunsten der Leistungsberechtigten, die auch rückwirkend berücksichtigt werden muss.

Gewährung als Darlehen

Auch ist es möglich, dass das Jobcenter versucht, Schul- und Bildungsbedarfe auf Darlehensbasis nach § 24 Abs. 1 SGB II abzudecken, da es sich um einen vom Regelbedarf umfassten Bedarf handelt (auch wenn dieser, wie oben beschrieben, nur mit Cent-Beträgen berücksichtigt ist). Wenn die Behörde ein Darlehen bewilligt, sollte es zunächst angenommen werden und wenn der Schul- und Bildungsbedarf gedeckt ist, sollte gegen den Darlehensbescheid Widerspruch eingelegt werden. In der Begründung sollte angeführt werden, dass der Bedarf im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung als laufender Bedarf zu werten und als Zuschuss zu gewähren ist. Ferner sollte gegen die gleichzeitig verfügte Aufrechnung Widerspruch eingelegt werden. Dieser Widerspruch entfaltet nach § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung. Das Jobcenter darf das Darlehen aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nicht aufrechnen, bis der aufrechnungsverfügende Bescheid nicht bestandskräftig geworden, d.h. bis über den Widerspruch entschieden ist. Das heißt im Klartext, Sie bekommen das Geld und müssen sich hinterher drüber streiten, ob auf Zuschuss- oder Darlehensbasis.

Die Position der Jobcenter

Jobcenter werden wohl in den meisten Fällen die Gewährung von zusätzlichem Schulbedarf ablehnen. Sie wollen den Deckel auf dem Topf halten, soweit es geht und sie es können. Diese Position ist rechtswidrig, denn „die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden“ so § 2 Abs. 2 SGB I. Im vorliegenden Fall ist die soziokulturelle und schulische Teilhabe von Schülerinnen und Schülern entsprechend der Maßgabe des Urteilstenors des BVerfG, als Teil der Ausformung der Sicherstellung des menschenwürdigen Daseins als Zuschuss nach § 21 Abs. 6 SGB II für Schul- und Bildungsbedarfe zu verwirklichen. Die Behörden werden aus Kostengründen eine andere Position vertreten. Daher ist hier eine rechtliche Auseinandersetzung zwingend nötig und alle sind gefordert, solche Anträge zu stellen.


Schulbedarfskampagne bei Sozialämtern

Bisher gibt es in Bezug auf die Sozialhilfe keine Entscheidungen wie dort solche zusätzlichen Schul- und Bildungsbedarfe zu übernehmen sind. Im SGB II haben die Gerichte als Anspruchsgrundlage eine analoge Anwendung über § 21 Abs. 6 SGB II entwickelt. Die Sozialämter können entweder den Weg über eine abweichende Regelsatzfestsetzung nach § 27a Abs. 4 SGB XII vornehmen oder den Anspruch über § 73 SGB XII ableiten.
Auch könnten sie auf die Idee kommen einen „ergänzendes Darlehen“ nach § 37 Abs. 1 SGB XII für vom Regelsatz umfasste Bedarfe zu gewähren und dies dann durch Aufrechnung nach  § 37 Abs. 1 SGB XII zu tilgen. Auch hier wäre ein Widerspruch einzulegen, gegen die Darlehensgewährung und gegen die Aufrechnungsverfügung, der dann nach § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung entfaltet. Dann im Widerspruchs- und Klageverfahren die Zulässigkeit dieses behördlichen Vorgehens geprüft und hoffentlich korrigiert wird.

Sinn unserer Kampagne

Durch die sich entwickelnde Rechtsprechung bekommt die Politik aufgezeigt, dass hier ein dringender Nachbesserungsbedarf besteht. Die Gerichte haben hier erfreulicherweise ihre Rolle erkannt, sehen die Schulbedarfe als unabweisbar an und entwickeln das Recht weiter. Wir sehen jetzt den richtigen Zeitpunkt, um durch eine Kampagne und gezielte Öffentlichkeitsarbeit stärkeren Druck auf die verantwortlichen Politiker/innen aufzubauen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass entsprechende Gerichtsurteile/-beschlüsse publik gemacht werden.

Es besteht eine reelle Chance, dass entweder durch höchstrichterliche Rechtsprechung oder infolge einer mit Hilfe des öffentlichen und gerichtlichen Drucks durchgesetzten Gesetzesänderung eine deutliche Verbesserung bei der Deckung von Schulbedarfen erreicht werden kann. Dafür benötigen die Beteiligten allerdings einen langen Atem.

Mitmachen erwünscht!

Wir wünschen uns, dass Wohlfahrts- und Sozialverbände, Organisationen, Erwerbslosengruppen und -initiativen unsere Kampagne unterstützen und mittragen. Wir rufen dazu auf, sich als Unterstützer/innen zu melden (unter info@tacheles-sozialhilfe.de ), damit wir diese auf unserer Webseite veröffentlichen und so dem Anliegen mehr Gewicht verleihen können. Verbesserte Bildungschancen für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen ist ein Ziel, das viele unterstützen können und wollen.

Tacheles kann keine Rechtsvertretung im Einzelfall übernehmen

Tacheles kann gewiss eine solche Kampagne anschieben und in Teilen koordinieren. Wir können aber keine Rechtsvertretung außerhalb von Wuppertal sicherstellen. In diesem Fall müssen sich Betroffene an örtliche Beratungsstellen bzw. Wohlfahrts- und Sozialverbände oder im Sozialrecht versierte Anwälte wenden. Solche Ansprechpartner können über https://www.my-sozialberatung.de  oder über örtliche Beratungsangebote gefunden werden.

Musterschreiben:

 

Urteile:

Harald Thomé & Frank Jäger
Tacheles – Online Redaktion

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