Herner Sozialforum

Grundsicherung: DGB will 1,6 Millionen Menschen aus Hartz IV holen- Wochenzeitung „Die Zeit“ hat exklusiv Positionspapier- Keine Information innerhalb der Gewerkschaften

Diskussionspapier DGB-Bundesvorstand zu Hartz IV

7.Dezember 2018

Nach dem peinlichen Vorgang ein Positionspapier zuerst in einer nicht gerade gewerkschaftsnahen Wochenzeitung zu veröffentlichen, findet man jetzt das Papier des geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB auf der entsprechenden Seite.

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Grundsicherung: DGB will 1,6 Millionen Menschen aus Hartz IV holen

 

Längeres Arbeitslosengeld, höhere Regelsätze, Vermittlung auf Qualifikationsniveau: Die Gewerkschaften haben ein Konzept vorgelegt, um Hartz IV zu überwinden.
Hartz IV: Proteste gegen Hartz IV bei einer Kundgebung zum 1. Mai in Hamburg (Archivaufnahme)
Proteste gegen Hartz IV bei einer Kundgebung zum 1. Mai in Hamburg (Archivaufnahme) © Bodo Marks/dpa

Nach Grünen und SPD spricht sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für eine umfassende Reform des Hartz-IV-Systems aus. Ein zentrales Ziel müsse dabei sein, dass Erwerbstätige künftig nicht mehr so schnell in Hartz IV abrutschen wie bisher, heißt es in einem Positionspapier, das ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt.

Wer insgesamt zehn Jahre lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, soll demnach fünf zusätzliche Monate lang Arbeitslosengeld I beziehen. Bisher wird diese Leistung, die sich am letzten Lohn orientiert, in der Regel nur für ein Jahr bezahlt. Außerdem sollen die Hartz-IV-Regelsätze steigen und Menschen ohne Arbeit ein Recht auf eine Weiterbildung erhalten. Wer an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnimmt, soll nach den Plänen des DGB 15 Prozent mehr Arbeitslosengeld erhalten, mindestens aber 200 Euro zusätzlich.

Auf der Grundlage der Zahlen von 2017 rechnen die Gewerkschaften damit, dass pro Jahr mindestens 200.000 Menschen von ihrem Vorschlag profitieren würden.  Im vergangenen Jahr rutschten trotz des anhaltenden Fachkräftemangels und der guten Konjunktur 370.000 Arbeitslose aus dem höheren Arbeitslosengeld I in den Hartz-IV-Bezug ab, 220.000 davon hatten mehr als zehn Beschäftigungsjahre vorzuweisen.

Nach dem DGB-Modell würde beispielsweise eine unter 50-Jährige mindestens 17 Monate lang Arbeitslosengeld I bekommen und maximal 29 Monate lang. Wer unter 50 ist, aber 20 Jahre lang beschäftigt war, käme auf eine Bezugsdauer von knapp zwei Jahren. Und wer etwa mit 55 Jahren und nach 30 Jahren Beschäftigungszeit seinen Job verliert, der erhielte 33 Monate lang Arbeitslosengeld I. Auch wer kurz vor der Rente steht und gesundheitliche Probleme hat, soll länger als bisher Arbeitslosengeld bekommen.

Damit vor allem Frauen nicht benachteiligt werden, sollen Erziehungszeiten und Zeiten, in denen Angehörige gepflegt wurden, wie Beschäftigungszeiten behandelt werden. Außerdem soll das Arbeitslosengeld I auf eine Mindesthöhe von 850 Euro erhöht werden: Davon würden vor allem Frauen profitieren, die lange Teilzeit gearbeitet haben und deren Arbeitslosengeld oft niedriger ist. Zudem stellen die Gewerkschaften die Idee eines Anschluss-Arbeitslosengeldes zur Diskussion: Damit das Abrutschen in Hartz IV entschärft wird, könnte für zwei weitere Jahre ein Arbeitslosengeld in Höhe von 58 Prozent vom letzten Nettoverdienst bezahlt werden.

Regelsätze sollen ganz neu festgelegt werden

Zugleich wollen die Gewerkschaften Hartz IV generell überarbeiten: Die Regelsätze sollen neu ermittelt und erhöht werden. Der DGB schlägt vor, dass eine Sachverständigenkommission aus Wissenschaftlerinnen, Vertretern und Vertreterinnen der Tarifpartner sowie aus Wohlfahrtsverbänden und Betroffenenorganisationen die Höhe festlegen und regelmäßig anpassen soll. Außerdem sollen die heutigen Sanktionen abgeschafft werden. Gleichwohl sprechen sich die Gewerkschaften in dem Positionspapier nicht generell gegen Pflichten für Arbeitslose aus. „Dass der Leistungsbezug an gute Gründe geknüpft ist“, sei wichtig für den sozialen Zusammenhalt, heißt es in dem Papier. Allerdings dürfte dies nicht dazu führen, dass das Existenzminimum unterschritten wird.

Die Vorschläge der Gewerkschaften in dieser Form sind neu. Zwar haben die Arbeitnehmervertreter schon lange kritisiert, dass Beschäftigte mit langen Erwerbsbiografien zu schnell in Hartz IV landen, aber bislang hatten sich die einzelnen DGB-Gewerkschaften nicht auf einen konkreten Reformvorschlag einigen können. Das Positionspapier ist dazu ein erster Aufschlag.

„Die Konstruktion des Hartz-IV-Systems ist gemessen an den Interessen der Beschäftigten und der Arbeitslosen grundfalsch und zutiefst ungerecht“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach ZEIT ONLINE. „Beschäftigte sollen die Sicherheit haben, nicht in Bedürftigkeit abgedrängt zu werden, sondern weiter von der Arbeitslosenversicherung betreut und gefördert zu werden. Ein solches garantiertes Auffangversprechen würdigt die Arbeitsleistung von Beschäftigten und schafft soziale Sicherheit.“

Nach Vorstellungen des DGB wäre Hartz IV künftig das allerletzte Auffangnetz für Arbeitslose – nicht aber für Menschen, deren Einkommen nicht zum Leben reicht. Sie sollen grundsätzlich andere Hilfen erhalten und generell nicht mehr im Hartz-IV-System sein.

Aufstocker sollen raus aus Hartz IV

Tatsächlich sind die meisten der heutigen 4,2 Millionen Menschen, die Hartz IV erhalten, nicht Arbeitslose, sondern Personen, die aufstockende Leistungen beziehen. Neben Verbesserungen bei den Löhnen, etwa durch die Erhöhung des Mindestlohns oder mehr allgemeinverbindlich erklärten Tarifen, soll daher die Anrechnung von Erwerbseinkommen beim Wohngeld entschärft und außerdem der Kinderzuschlag erhöht und nach dem Alter der Kinder gestaffelt werden. Nach Berechnungen der Gewerkschaften wären dann 480.000 Erwachsene und 400.000 Kinder nicht mehr auf Hartz IV angewiesen.

Ebenso wollen die Gewerkschaften Bedarfsgemeinschaften künftig anders betrachten: Heute zählen auch Menschen als Leistungsbezieher, die eigentlich ein auskömmliches Einkommen haben, wenn sie einen gemeinsamen Haushalt mit Transferbeziehern bilden. Diese Personen sollen künftig nicht mehr als Hartz-IV-Bezieher gelten, auch wenn ihr Einkommen und Vermögen bei der Berechnung der Leistungen für den Partner oder die Partnerin in der Bedarfsgemeinschaft weiterhin einbezogen wird.

Apropos Vermögen: Auch hier bezieht der DGB Stellung und betont, dass Leistungsempfängern künftig nicht mehr so viel weggenommen werden darf, dass sie von Armut betroffen sind. Eine konkrete Summe nennt der DGB zwar anders als etwa Robert Habeck von den Grünen nicht. Habeck hatte 100.000 Euro als Schonvermögen ins Spiel gebracht. Aber die Gewerkschaften wollen, dass Hartz-IV-Empfänger nur noch im Ausnahmefall aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, zum Beispiel wenn sie in sehr luxuriösen Wohnungen leben.

Notfalls ein Recht auf einen Job im Sozialen Arbeitsmarkt

Aber was ist mit Personen, die immer wieder nur kurzzeitig beschäftigt sind und deswegen nicht mehrere Jahre hintereinander in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben? Immerhin bekamen im vergangenen Jahr fast eine halbe Million Menschen kein Arbeitslosengeld, sondern sofort Hartz IV, weil sie die vorgeschriebenen Anwartschaften nicht erfüllten. Der DGB fordert hier, die Anwartschaftszeiten zu verändern – es sollen wieder die letzten drei Jahre berücksichtigt werden. Wer in diesem Zeitraum mindestens zehn statt bisher zwölf Monate lang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, soll künftig kein Fall mehr für Hartz IV sein.

Damit die Jobvermittlung künftig grundsätzlich besser gelingt, wollen die Gewerkschaften ein Recht auf eine intensivierte Vermittlung, Beratung und Betreuung durch die Agentur für Arbeit oder das Jobcenter einführen. Als zumutbar sollen nur Jobs auf Qualifikationsniveau gelten, zumindest in den ersten Jahren der Arbeitslosigkeit. Außerdem fordert der DGB eine bessere personelle Ausstattung bei der Behörde. Sollte trotz aller Anstrengungen kein Job gefunden werden, sollen Arbeitslose ein Recht auf einen öffentlich geförderten Arbeitsplatz im Sozialen Arbeitsmarkt haben. Diese Arbeitsplätze sollen vollständig sozialversicherungspflichtig und tariflich bezahlt sein. Gibt es keinen Tarifvertrag, gilt nach Vorstellungen des DGB die „ortsübliche“ Entlohnung.

Insgesamt rechnen die Gewerkschaften damit, dass 1,6 Millionen Menschen durch die von ihnen vorgeschlagenen Reformmaßnahmen nicht mehr Hartz IV bekämen, sondern materiell bessergestellt würden.

 

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Ein Kommentar

  • Norbert Kozicki

    „Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern zudem die Sicherungsfunktion der
    Arbeitslosenversicherung zu stärken, um das Risiko der Erwerbslosigkeit im Regelfall abzusichern.
    Die Lücken im Schutz der Arbeitslosenversicherung müssen wieder geschlossen werden. Dafür muss die
    Absicherung von kurzzeitig Beschäftigten entscheidend verbessert werden, z.B. durch Verlängerung der
    Rahmenfrist für die notwendige Anwartschaftszeit. Außerdem haben langjährig Beschäftigte einen
    besonderen Anspruch auf den Schutz der Solidargemeinschaft. Dies muss sich auch in adäquaten
    Bezugszeiten für das Arbeitslosengeld für Ältere widerspiegeln.
    Auch im Hartz-IV-System besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf. Der DGB und seine
    Mitgliedsgewerkschaften wollen erreichen, dass Langzeiterwerbslose eine echte Perspektive bekommen.
    Dazu müssen die Angebote der beruflichen Weiterbildung geschlechtergerecht ausgebaut und öffentlich
    geförderte Beschäftigung in Form regulärer Arbeitsverhältnisse angeboten werden. Der DGB und seine
    Mitgliedsgewerkschaften wollen erreichen, dass die Zumutbarkeitsregelungen am Leitbild „Guter
    Arbeit“ ausgerichtet und bestehende Sanktionen für Arbeitssuchende überwunden werden.
    Um die Integration von Langzeitarbeitslosen zu verbessern, muss das Hartz-IV-System zudem entlastet
    werden. So sollten zum Beispiel „Aufstockerinnen“ und „Aufstocker“ sachgerechter abgesichert werden.
    Für einen wirksamen Schutz vor Armut und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe ist zudem eine
    grundlegende Neu-Ermittlung der Hartz-IV-Regelbedarfe erforderlich.
    DGB-Bundeskongress
    Berlin, 13.–17. Mai 2018“

    Das ist die dünne Beschlusslage vom diesjährigen DGB-Kongress zum Thema Hartz IV. Ich hätte mir eine umfassende Information innerhalb der Gewerkschaften über die hier oben in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte Positionierung der DGB-Spitze zur Abschaffung von Hartz IV gewünscht. Nach erster Sichtung finde ich, dass sich die DGB-Spitze bis auf die Knochen mit dem Vorschlag blamiert, nach 10 Jahren Einzahlung den Bezug des Arbeitslosengeldes um 5 Monate zu verlängern. Dann käme Sozialhilfe – egal wie man das nennt – wieder zum Zuge. Ich darf daran erinnern, dass selbst die Hartz-Kommission eine Zeit von 2 Jahren vorgesehen hatte, bevor jemand in den Hilfebezug rutscht. Selbst das hatte die Regierung Schröder-Fischer gekippt. Die heutige DGB-Spitze hat einfach nicht den Mut, sich an solchen Regelungen von der Hartz-Kommission zu orientieren. Der Vorschlag der DGB-Spitze erfordert eine breite Diskussion in den Gewerkschaften. Stattdessen werden Positionierungen in einer nicht gerade gewerkschaftsnahen Wochenzeitung bekanntgegeben. gez. Norbert Kozicki (Mitglied OV-Vorstand verdi Herne)

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