Terminankündigung: Fachtagung „Kinder-Armut-Bildung“ am 21. März 2019 in Herne

Heinz Hilgers                                                   Prof.Peter Strohmeier

Terminankündigung:

Fachtagung „Kinder-Armut-Bildung“ am 21. März 2019 in Herne, 17.-19.30 Uhr

Akademie Mont Cenis

Referent: Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes
Referent: Professor Peter Strohmeier, früher Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung der Ruhr-Universität Bochum (ZEFIR)
Referent: Alexander Nöhring (Bundesgeschäftsführer Zukunftsforum Familie Berlin)
Veranstalter: Sozialforum Herne, Arbeiterwohlfahrt Herne, Progressiver Eltern- und Erzieherverband NRW, DGB Stadtverband Herne
Zur ersten Einstimmung auf diese Tagung als Fortsetzung der Herner Sozialkonferenz 2018 ein aktuelles Interview mit Heinz Hilgers und ein Bericht über die Präsentation der sogenannten UWE-Studie in Herne von Professor Strohmeier

 

Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes

Kinderschutzbund: „Unser Schulsystem vom Ansatz her falsch“

Diana Zinkler

24.12.2018 – WAZ

Köln  2,5 Millionen Kinder gelten als arm. Das liegt auch an Chancenungleichheit. EIn Interview mit Heinz Hilgers vom Kinderschutzbund.

Die Fenster sind mit Lichterketten dekoriert, der Tisch im mexikanischen Lokal in Köln-Deutz mit roten und goldenen Tüchern geschmückt. Alles weist auf Weihnachten hin, erinnert an Wärme, Familie und Liebe. Für Kinder das größte Ereignis im Jahr.

Doch nicht alle elf Millionen Kinder in Deutschland werden Geschenke zum Heiligabend bekommen, werden vielleicht nicht einmal von einem festlichen Essen satt. 2,5 Millionen Kinder gelten in Deutschland als arm.

Arm ist, so sagt es die Wissenschaft, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Oder, so erklärt es Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, wer zum Überleben staatliche Leistungen benötigt. Und das betrifft sogar 4,4 Millionen Kinder in Deutschland.

Wenn Sie an Weihnachten und Kinder denken, was kommt Ihnen als erstes in den Kopf?

Ich denke natürlich zuerst an meine drei erwachsenen Söhne und wie schön Weihnachten war, als sie noch klein waren. Jetzt freue ich mich besonders auf meine Enkelin. Aber ich weiß auch, dass es vielen Kindern an Weihnachten nicht gut geht. Viele werden keine Geschenke bekommen und sie werden auch keine festliche Stimmung erleben.

Sie lehnen die Armutsdefinition, die sich am mittleren Einkommen orientiert ab. Warum?

Bei Armut geht es ja nicht nur um materielle Fragen. Aber wenn die Eltern auf staatliche Hilfe angewiesen sind, um das Existenzminimum zu sichern, dann muss man das als Armut definieren. Und dabei meine ich nicht nur die, die arbeitslos sind oder nicht arbeiten gehen können. Viele haben einen Job und liegen immer noch unter dem Existenzminimum.

Wenn Sie die Kinder zählen, deren Eltern staatliche Hilfe bekommen, sind es in Deutschland schon drei Millionen. Zudem rechnen wir noch mit einer Dunkelziffer von etwa 1,4 Millionen Kindern, deren Eltern keine Zuschüsse beantragen.

Aus Scham, Unwissenheit, oder einem Gefühl sich nicht abhängig machen zu wollen. Demnach ist jedes dritte Kind in Deutschland arm, Tendenz steigend.

Ist das nicht ein Armutszeugnis für die größte Volkswirtschaft Europas?

Diese Entwicklung bei guter Konjunktur, bei niedrigster Arbeitslosigkeit, ist dramatisch. Immer mehr Menschen verdienen nicht genug. Das trifft selten auf alleinstehende Menschen zu, aber sehr häufig auf Alleinerziehende, vor allem die, die mehr als ein Kind haben, trifft es hart.

Was muss der Staat tun?

Wir brauchen eine komplette Reform des Sozialsystems. Das Steuerrecht für Familien und Alleinerziehende muss verbessert werden. Zum Beispiel geht der Familienleistungsausgleich völlig an der Realität vorbei. Das ist alles viel zu kompliziert.

Auch die jetzige Reform des Kinderzuschlags ist ein bürokratisches Monster, die Bundesregierung geht selbst davon aus, dass nur 35 Prozent der Berechtigten den Zuschlag überhaupt beantragen. Vielleicht passiert das nicht absichtlich, aber zynisch ist es schon.

Können Sie mal ein konkretes Beispiel geben?

Eine Erzieherin, die ich kenne, hat drei Kinder, und sie stockt auf, das heißt sie bekommt noch Geld vom Staat dazu. Die kann ihre Kinder nicht von ihrem Gehalt allein ernähren. Die erzieht am Tag 20 andere Kinder, kommt abends nach Hause, kümmert sich um ihre eigenen Kinder und ihren Haushalt.

Nachdem sie das alles geschafft hat, sitzt sie noch lange auf Ämtern, um Anträge zu stellen und sich zu rechtfertigen. Das ist schwer zu ertragen, deshalb verzichten viele in vergleichbaren Fällen auf die staatlichen Leistungen.

Wie könnte man die Frau besser stellen?

Wir müssen dafür eine Kindergrundsicherung einführen. Der Kinderschutzbund, viele andere Verbände und viele Wissenschaftler schlagen vor, das Existenzminimum, das jetzt für jedes Kind gezahlt wird, mit dem Grenzsteuersatz abzuschmelzen.

Die Sicherung besteht darin, dass wir das jetzige System, dass die besserverdienenden Eltern am meisten begünstigt und die Armen am wenigsten, dass wir dieses System, das auf dem Kopf steht, auf die Füße stellen. Dafür muss der Staat für alle Kinder das Existenzminimum sicherstellen. Diejenigen, die kein steuerpflichtiges Einkommen haben, sollen das volle Existenzminimum ausgezahlt bekommen. Und mit dem jeweiligen Grenzsteuersatz wird das dann, ausgehend von 19 Prozent bis 45 Prozent, bei denjenigen, die Einkommen haben, gemindert. Das würde dazu führen, dass die bedürftig sind, mehr als jetzt hätten.

Wenn es so viele Kinder in Deutschland gibt, die arm sind, macht Sie das persönlich als oberster Kinderschützer an Weihnachten traurig?

Nein, Weihnachten macht mich nicht traurig. Man kann auch gute Bespiele nennen. Es gibt bei mir in meiner Heimatstad Dormagen zum Beispiel einen Wunschbaum, das ist ein Baum, an den Kinder, die nicht viel haben, ihre Wünsche hängen können und dabei anonym bleiben. Ein ebenso anonymer Spender stiftet dann das Geschenk und die Organisatoren lassen das Geschenk dem Kind zukommen. Da mache ich schon seit Jahren mit. Dieses Jahr habe ich ein „Spiel des Wissens“ besorgt, letztes Jahr einen Notenständer.

In Deutschland ist es immer noch so, dass der Bildungserfolg der Kinder vom Elternhaus abhängt, helfen dabei auch finanzielle Hilfen?

Ich greife mal einen Punkt heraus, das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket. Das ist so kompliziert gestaltet worden, dass sportliche und kulturelle Leistungen nur von 15 Prozent der Hilfeempfänger beantragt werden. Obwohl die Behörden dazu verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, dass das geschieht.

Dieses komplizierte Regelwerk macht man, damit das Geld angeblich auch bei den Kindern ankommt. Wenn man aber das Geld für die Kinder den Eltern direkt gibt, dann kommen alle Studien zum Ergebnis, dass 99 Prozent davon auch bei den Kindern ankommen. Für den Schulbedarf erhalten hilfsbedürftige Familien derzeit 100 Euro im Jahr, das soll jetzt auf 150 Euro angehoben werden.

Das reicht nicht, denn durchschnittlich geben Hilfeempfänger 400 Euro pro Jahr für den Schulbedarf aus und ein Durchschnittshaushalt 1000 Euro. Ich bin nicht für Gleichmacherei, aber es gibt einen wunderbaren Satz von Bertolt Brecht: „Gemessen, wer höher ragt, darf erst, werden, wenn die Füße gleich hoch stehen.“

Geld ist das eine. Aber müsste es nicht mehr Betreuung in den Schulen geben, um auch dort besser zu unterstützen?

Unser Schulsystem ist schon vom Ansatz her falsch. Bisher selektieren wir die Kinder nach vermuteten Begabungen, so ein System ist zur Inklusion unfähig. Das gilt für die Inklusion von behinderten Kindern, aber auch von denen, die in Armutsverhältnissen leben.

Neben besserer Lehrerausbildung und bessere Ausstattung in den Brennpunktschulen, brauchen wir an den Schulen aber auch eine Haltung von Wertschätzung und Hilfsbereitschaft.

Und Schulen in sozialen Brennpunkten bräuchten einen deutlichen Lehrerzuschlag und mehr sozialpädagogische Unterstützung. Hinzu kommt, dass die Elternschaft in gut situierten Stadtteilen mehr Einfluss hat und politisch dafür sorgt, dass es in ihren Schulen kleine Klassen und ausreichend Lehrer gibt.

Das führt in sozial-schwachen Stadtteilen zu vollen Klassen und mehr Unterrichtsausfall.

Zu wenig Geld für Kinder, ein ungerechtes Bildungssystem, wie düster steht um unsere gesellschaftliche Zukunft?

Unsere Gesellschaft ist sich nicht bewusst, wie entscheidend der Umgang heute mit den Kindern für die Zukunft ist. Wir hinterlassen unseren Kindern Billionen an Staatsschulden, die wir wahrhaftig nicht für deren Ausbildung gemacht haben, wir hinterlassen ihnen eine kaputte Umwelt, zunehmend eine marode Infrastruktur, marode Straßen, Schulen, Brücken, Bahnstruktur.

Die junge Generation muss uns im Alter pflegen. Das gilt auch für die Vermögenden unter uns. Und dann hinterlassen wir den Jungen auch noch ein Drittel ihrer eigenen Generation, das jetzt in Armut aufwächst und in Wahrheit keine faire Zukunftschance hat.

Die müssen die auch noch versorgen, wie soll das gutgehen? Da müssten eigentlich doch die Ökonomen aufschreien. Wir verfrühstücken gerade die Zukunft unserer Kinder.

Was kann der einzelne tun?

Es geht um Verantwortung und Freiheit. Die gehören unweigerlich zusammen. Jeder einzelne muss sich seiner Verantwortung in Staat und Gesellschaft bewusst sein und sein Handeln bezüglich der Zukunft hinterfragen, das garantiert unsere Freiheit und unseren Frieden.

2018 ist auch ein Jahr gewesen, in dem es schlimme Fälle von sexuellem Missbrauch gab. Zudem hat die Katholische Kirche ihren desaströsen Missbrauchsbericht vorgelegt. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Der Bericht der Katholischen Kirche umfasst nicht einmal alle kirchlichen Einrichtungen und die Dunkelziffer ist weitaus höher. Aber neben dem Missbrauch in Institutionen, müssen wir auch sehen: der größte Teil solcher Verbrechen geschieht in der Familie.

So war es auch in Staufen, da hat der Lebensgefährte der Mutter die Vergewaltigungen des neunjährigen Sohnes organisiert und die eigene Mutter hat es geschehen lassen.

Aber was in beiden Kategorien gleich ist, dass immer ein Erwachsener einem Kind etwas antut. Der Starke dem Schwachen.

Es geht immer um Machtmissbrauch. Das ist sehr traurig. Wir müssen natürlich mehr aufklären und die Prävention verbessern, aber wir müssen auch die Kinderrechte stärken. Und zwar endlich Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen. Denn bei Entscheidungen in Politik, Verwaltung und Justiz wird das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt.

Stünden sie im Grundgesetz, müssten Kinder bei sie betreffenden Angelegenheiten beteiligt, auch nach ihrem Willen gefragt werden. Wie beim Bau eines Spielplatzes, aber auch bei der Frage, wo sie leben wollen, wenn es immer wieder Schwierigkeiten Zuhause gibt. Ob nun bei der Familie, bei der Pflegefamilie oder im Heim.

Hätte es dieses Kinderrecht gegeben, wäre es in dem Staufener Fall vielleicht nicht ganz so schlimm gekommen. Der Junge sollte ja schon einmal in Obhut genommen werden, hätte man ihn gefragt, ob er in seiner Familie bleiben will, hätte er sicher nein gesagt oder man wäre drauf gekommen, was er in seiner Familie erleiden musste.

Kinder brauchen das Recht, sich äußern zu dürfen. So sieht es die UN-Kinderrechtskonvention von 1992 vor, so steht es im aktuellen Koalitionsvertrag. Das muss jetzt auch umgesetzt werden.

Herbert Grönemeyer hat 1986 gesungen „Kinder an die Macht“ ist die Forderung Ende 2018 aktueller denn je?

Kinder sind keine Erwachsenen, deswegen brauchen sie auch nicht die gleichen Rechte wie Erwachsene. Aber sie brauchen zusätzlich Schutz und Förderrechte, die Erwachsene nicht brauchen. So bekommen Kinder auch mehr Einfluss, mehr Macht.

Sie haben selbst drei Söhne, haben Sie für Eltern noch einen Tipp, wir ihre Kinder gut durchs Leben kommen?

Erziehen Sie selbstbewusste Kinder! Starke Persönlichkeiten. Eingeschüchterte Kinder können sich schlechter wehren gegen Missbrauch, aber auch gegen Ungerechtigkeiten. Erziehen Sie mutige Kinder, die Ihnen vertrauen.

 

Viele Herner Schüler sind laut Umfrage unglücklich

Martin Tochtrop

Herne.   Sozialwissenschaftler Klaus Peter Strohmeier präsentiert die Ergebnisse einer Studie und ist „schockiert“. Rund 2000 Schüler nahmen teil.

Dass die Kinder in Herne nicht so zufrieden sind wie die in einem beschaulichen Dorf am Starnberger See oder in den kanadischen Bergen, dürfte der Sozialwissenschaftler Klaus Peter Strohmeier schon vor der Anfertigung seiner Studie geahnt haben. Dass die Ergebnisse über das Wohlbefinden an den Schulen und in den Wohnquartieren Hernes aber derart miserabel ausfallen, damit hatte auch der emeritierte Professor nicht gerechnet. „Ich bin schockiert“, sagte er bei der Präsentantion der Studie „UWE“ am Donnerstag in Eickel.

Fragebögen ausgefüllt

Schüler der siebten und neunten Jahrgänge hatten Fragebögen zu den Komplexen Umwelt, Wohlbefinden und Entwicklung ausgefüllt, nicht von ungefähr in dieser Stadt: „Herne und Gelsenkirchen gelten für mich als die ärmsten Kommunen in Nordrhein-Westfalen“, sagte der Wissenschaftler, der das 200 000 Euro-Projekt im Auftrag der Uni Bochum und gefördert von der Landesregierung durchführte.

Etwa zwei Drittel aller Schüler machten mit, rund 2000 waren es. Herausgekommen sind krasse Ergebnisse, die einen ebenso gravierenden Bedarf an mehr Arbeit mit Lehrern und Eltern an Schulen und ihren Umfeld erkennen lassen: 41 aller befragten Jungen und Mädchen aus dem Siebener-Jahrgang fühlen sich nicht wohl, missachtet, von Lehrern, Eltern und Mitschülern nicht anerkannt. Bei den Neuner-Schülern sind es sogar 44 Prozent. Nur 21 Prozent der Befragten stuften sich selbst als rundum zufrieden ein. In Kanada, wo eine derartige Studie seit Jahren Standard ist, komme man vergleichsweise auf 50 Prozent Zufriedenheit, so Strohmeier.

Große Unterschiede

Dabei gebe es – Namen nennt Strohmeier nicht – große Unterschiede zwischen Schulen und Stadtteilen. Das Wohlfühl-Spektrum hat eine Bandbreite von 30 bis 75 Prozent. Gefragt wurden die Schüler nach Ernährung, Schlaf und Familie, nach Schulerfahrungen, unterstützenden Beziehungen von Erwachsenen, Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu organisierten Freizeitaktivitäten.

Konkret zum Beispiel: „Wenn du an eine normale Schulwoche denkst, an wieviel Tagen hast du ein Frühstück?“ Ergebnis: In Stufe 7 bekommen 22,4 Prozent der Kinder nie oder selten ein Frühstück, in Stufe 9 sind es stadtweit 31,6 Prozent, in manchen Vierteln sogar die Hälfte der Schüler, die hungrig zur Schule gehen.

Ganz besonders schockierend findet Strohmeier auch die Antwort auf die Frage „Gibt es an deiner Schule irgendwelche Erwachsene, die dir wichtig sind?“. Nur rund ein Drittel aller Befragten antworte hier mit „ja“.

Bildungs-, Jugend- und Kulturdezernentin Gudrun Thierhoff will in Schulen, aber auch in Kitas nach Maßnahmen suchen, wie man der sozialen Vereinsamung von Kinder entgegensteuern kann. Beim Thema Frühstück beispielsweise: In Kitas und Schulen könne man es gemeinsam zubereiten und gemeinsam einnehmen. Damit das zuhause vielleicht auch einmal geht – irgendwann.

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