„Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland noch nie in einem so schlechten Zustand“ (Interview mit Professor Bontrup) – „Löhne und Beschäftigung: Arm trotz Arbeit – das Märchen von Deutschlands Jobwunder“ (Stern 4.1.2019) – Herner WAZ titelt: „Arbeitsmarkt entwickelt sich positiv“ (5.1.2019) – eine Stellungnahme

https://www.waz.de/staedte/herne-wanne-eickel/herner-arbeitsmarkt-entwickelte-sich-im-jahr-2018-positiv-id216136913.html

„Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland noch nie in einem so schlechten Zustand“ (Interview mit Professor Bontrup) – „Löhne und Beschäftigung: Arm trotz Arbeit – das Märchen von Deutschlands Jobwunder“ (Stern 4.1.2019)

Herner WAZ titelt: „Arbeitsmarkt entwickelt sich positiv“ (5.1.2019)

von Norbert Kozicki Dipl.Soz.Wiss.

 

„Nur Demagogen und Populisten reden von einer fast erreichten Vollbeschäftigung. Mit der Realität, hat das leider nichts zu tun. Wir haben weiter Massenarbeitslosigkeit im Land und ich gehe noch weiter: Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland, zählt man das gesamte Prekariat der Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten, die befristet Beschäftigten, die Praktikantenverträge und die Leiharbeiter dazu, noch nie in einem so schlechten Zustand“, konstatierte vor einigen Tagen Professor Bontrup von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen in einem Interview mit Telepolis und positionierte sich gegen die oberflächliche Rede von der fast erreichten Vollbeschäftigung. Ganz aktuell argumentierte die Stern-Redaktion zu den Problemen des Arbeitsmarktes und sprach vom „Märchen Jobwunder“ in Deutschland. Die aktuelle massive Kritik des Sozialrates der Vereinten Nationen an den Zuständen des Arbeitsmarktes in Deutschland sei hier nur am Rande erwähnt.

Am Samstag (5.1.2019 – Fundstelle siehe oben) titelte die Redaktion der WAZ in ihrer Lokalausgabe Herne „Arbeitsmarkt entwickelt sich positiv“. Herne eine Insel der Glückseligen im Meer der „working poor“, der Aufstocker, der Nebenjobber, der Teilzeitarbeiter etc. ? Herne eine Stadt ohne prekäre Beschäftigung ?

Wenn man diesen Artikel liest, könnte man es fast glauben. Aber die Wirklichkeit in Herne ist eine andere, als dieser Artikel glauben machen will. Die Tatsachen der Verringerung der Arbeitslosenquote – so erfreulich wie diese Tatsache auch ist – darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Prekarisierung des Arbeitsmarktes in Herne weit fortgeschritten ist.

Nach der statistischen Feststellung der erfreulichen Abnahme der Arbeitslosenzahlen im SGB III- Bereich – über den SGB-II-Bereich (Hartz-IV) wird hier nicht gesprochen – meint die Redaktion feststellen zu können, dass im vergangenen Jahr 45.382 Menschen in Herne einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sind. Das hätte in den letzten drei Jahren zu einer Steigerung um 5 % geführt.

Diese Zahlen sind der Statistik „Sozialversichtungspflichtig und geringfügig entlohnte Beschäftigte – Zeitreihe mit fiktivem Gebietsstand“ entnommen, mit dem Sachstand vom 31.März 2018. Neuere Zahlen sind noch nicht veröffentlicht. Für den Monat März 2018 wurde korrekt die Zahl von 45.382 Beschäftigte entnommen. Und dann wird ohne nähere Begründung, also willkürlich, die Zahl von 43.279 Beschäftigte vom Monat März 2015 als Vergleichsbasis genommen. Man kommt mathematisch korrekt auf fast 5% Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Stellen.

Nur die Statistik der Bundesagentur weist in dieser zitierten Tabelle zur Zeitreihe für den Zeitraum von März 2008 bis März 2018 eine ganz andere Entwicklung auf. In diesem größeren Zeitraum, der für die Beurteilung des Arbeitsmarktes entscheidender ist, reduzierte sich minimal die Anzahl um 122 Stellen (von 45.604 auf 46.382 Stellen).

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Ausdehnung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland in den vergangenen Jahren hat die Stadt Herne davon überhaupt nicht profitiert , eher im Gegenteil.

Bei einer differenzierten Betrachtung des Herner Arbeitsmarktes werden die Probleme schnell sichtbar.

Wichtig zur Beurteilung des Arbeitsmarktes ist die Entwicklung der Vollzeit- und Teilzeitstellen in Herne. Für den Zeitraum von März 2008 bis März 2018 reduzierten sich die Vollzeitstellen von 36.823 auf 31.926 Stellen . Das entspricht einer Verringerung der Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen um 13,3 Prozent. Von einer positiven Entwicklung kann keine Rede sein. Im Vergleich zu den anderen Städten im Ruhrgebiet weist die Stadt Herne die schlechteste Entwicklung auf. Das soll hier aber kein Thema sein.

Im Gegenzug zur Entwicklung der Vollzeitstellen gab es in Herne einen enormen Zuwachs an Teilzeitstellen. Für die vergangenen 10 Jahre weist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit eine Zunahme von 71,7 Prozent auf ( von 7.829 auf 13.456 Stellen). Teilzeitarbeit ist meistens „weiblich“ und führt konsequent in die Altersarmut, weil im deutschen Rentensystem die praktizierte Vollzeit-Erwerbsarbeit die Basis für den Erwerb von halbwegs ausreichenden Rentenansprüchen bildet. D.h. in der Stadt Herne ist das Anwachsen der Altersarmut auf mittelfristige Sicht vorprogrammiert, wenn das Rentensystem nicht umgebaut wird.

Auf diese Zusammenhänge und differenzierten Betrachtungen geht der WAZ-Artikel überhaupt nicht ein.

Die schon zitierte Tabelle zur Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist auch noch die Zahlen für die „Geringfügig entlohnten Beschäftigten“ mit Nebenjob auf. Von März 2008 bis März 2018 stieg die Zahl der „Nebenjobber“ in Herne um 23,6 Prozent ( von 2.124 auf 2.625 ). Aus einer speziellen Untersuchung der Bundesagentur weiss man, dass diese „Zweitjobber“ im Rahmen ihrer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit im Durchschnitt 570 Euro weniger Monatsverdienst als Personen mit einem Job haben.

Weitere Eckdaten zur Arbeitsmarktsituation in Herne in aller Kürze:

4.800 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Vollzeit arbeiten im Niedriglohnsektor, also für weniger als 2.200 Euro Brutto im Monat. D.h. fast jeder sechste Vollzeitbeschäftigte in Herne arbeitet im Niedriglohnsektor.

Nach den letzten verfügbaren Statistiken arbeiten insgesamt 3.754 Menschen in Herne als sogenannte Aufstocker über den Hartz-IV-Bereich: davon sozialversicherungspflichtig Beschäftigte: 1.743, davon in Vollzeit 471, Auszubildende 151, in Teilzeit 1.272, geringfügig Beschäftigte 1.464.

Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, dass der Arbeitsmarkt bei einer ganzheitlichen Betrachtungsweise nicht als positiv beurteilt werden kann. Auch in Herne schreitet die Prekarisierung des Arbeitsmarktes voran.

 

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