Seit 2009 Gigantischer Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums in privater Hand: von 2,8 Billionen US-Dollar auf 8,7 Billionen US-Dollar

Seit 2009 Verdreifachung der Anzahl der Milliardäre

Seit 2009 Gigantischer Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums in privater Hand:

von 2,8 Billionen US-Dollar auf 8,7 Billionen US-Dollar

 

22.03.2019 Handelsblatt

08:58

Von Jeff Bezos bis Kylie Jenner

Die neuen Milliardäre – Wie Superreiche die Welt verändern

Von: Sha Hua, Christian Rickens

Die mehr als 2000 Milliardäre weltweit sind ein entscheidender Wirtschaftsfaktor.

Wie sie an ihr Geld kommen und wofür sie es ausgeben, verändert unser Leben.

Der Einsatz im vergangenen September war für die Bremer Feuerwehr einer der größten seit den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs. Ein Schiff in einem Schwimmdock auf der Weser stand in Flammen. Mehrere Hundert Feuerwehrleute mühten sich drei Tage lang, den Brand unter Kontrolle zu bekommen.

Was das Feuer so besonders macht, war nicht nur sein Ausmaß, sondern auch die Gattung des betroffenen Schiffs. Es handelte sich um eine sogenannte Gigajacht, Codename: „Sassi“. Auftraggeber: geheim. Länge des Rumpfs: knapp 150 Meter, so groß wie manches Kreuzfahrtschiff.

Der Brand warf ein Schlaglicht auf die verschwiegene Branche, die sich in der Deichlandschaft nördlich des Bremer Stadtzentrums ausgebreitet hat. Die 1875 gegründete Lürssen-Werft in Bremen-Vegesack gilt weltweit als erste Adresse für das teuerste Statussymbol, das sich ein Mensch leisten kann: Die eigene Motorjacht mit einer Rumpflänge von mindestens 60 („Mega“) beziehungsweise 100 Metern („Giga“). Auf der anderen Weserseite baut Konkurrent Abeking & Rasmussen ganz ähnliche Schiffe.

„Der Bau solcher Produkte liefert einen enormen Beitrag zur Wertschöpfung und sichert Tausende Arbeitsplätze“, erklärt Peter Lürßen stolz, „auf der Werft, vor allem aber auch in den zahlreichen Zulieferbetrieben.“ Bereits in der fünften Generation führt der Unternehmer die Firma, die noch immer vollständig der Gründerfamilie gehört.

Lange lebte man bei Lürssen vor allem von der Rüstung und dem Kriegsschiffbau. Erst seit 1988 setzt man zusätzlich auf Spieltrieb und Geltungsdrang der vermutlich elitärsten Zielgruppe der Welt: der Superreichen. Im Rückblick war die Entscheidung der Eigentümerfamilie visionär. Denn in den vergangenen 30 Jahren ist die Vermögensballung und damit auch die Kaufkraft an der Spitze der weltweiten Vermögenspyramide geradezu explodiert – und damit die Zahl der Milliardäre.

Die Datengrundlage ist lückenhaft, weil es in vielen Staaten, darunter Deutschland, keine amtliche Statistik zu Vermögensbeständen gibt. Am grundlegenden Trend allerdings besteht kein Zweifel. Laut der Liste des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“ hat sich seit 2009, dem Jahr der Weltfinanzkrise, die Zahl der Milliardäre weltweit von 793 auf 2153 im Jahr 2018 nahezu verdreifacht.

Das Meinungsforschungsunternehmen Wealth-X kommt auf eine noch höhere Zahl der Superreichen. Gemeinsam ist beiden Quellen: Das von den Reichen gehaltene Vermögen ist im selben Zeitraum von gut 2,8 auf 8,7 Billionen US-Dollar geklettert. 8,7 Billionen Dollar – das entspricht fast der addierten jährlichen Wirtschaftsleistung von Deutschland und Japan.

Das Jahr 2018 war für die Reichen kein gutes

Da wirkt es schon fast kleinkariert, wenn man anmerkt: 2018 war für die Superreichen kein besonders gutes Jahr. Zwölf Monate zuvor gab es laut „Forbes“ noch 2208 Dollar-Milliardäre, ihr Gesamtvermögen summierte sich auf rund neun Billionen Euro.

Die Investments der Vermögenseliten haben unter der Börsenflaute ebenso gelitten wie die Depots von Otto Normalinvestor. Schließlich halten Milliardäre im Schnitt drei Viertel ihres Vermögens in Form von Unternehmensbeteiligungen. Gerade einmal 2,3 Prozent entfallen auf Immobilien, Jachten und andere Luxusgüter, die gemeinhin den Neid der weniger Betuchten entfachen.

Sieht man von konjunkturellen Schwankungen ab und legt die einzelnen Datenquellen nebeneinander, kann man ganz ideologiefrei konstatieren: Die Superreichen werden immer mehr – und sie werden immer reicher. Das Gesamtvermögen der Milliardäre weltweit entspricht laut Wealth-X mittlerweile zwölf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) des gesamten Planeten. Die Milliardäre sind ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor, der Branchen wie den Gigajachtenbau erst möglich macht.

Ein wichtiger Grund für den Boom der Milliardäre: der Aufstieg von Schwellenländern wie Indien oder China. Tummelten sich 2010 noch 64 Milliardäre in China, waren es im vergangenen Jahr 324. Die Zahl wäre noch viel höher – wüsste man Genaueres über das wohl hohe Vermögen der politischen Oberklasse.

So oder so: Rund drei Viertel der chinesischen Milliardäre haben sich ihr Vermögen ganz allein erarbeitet. Das lässt sich nicht von Europa sagen, dort wird vor allem geerbt. Auch in den USA sind nur elf Prozent der Milliardäre „self-made“, darunter Kylie Jenner, die als Internetstar und Kosmetikunternehmerin mit 21 Jahren die jüngste Milliardärin aller Zeiten ist.

Auch auf den Ebenen unter den Milliardären, bei den gewöhnlichen Millionären, weisen die Zahlen nach oben. Im Jargon der Vermögensverwalter heißen sie „High Net Worth Individuals“. Von denen gibt es laut des „World Wealth Report“ der Beratungsgesellschaft Cap Gemini weltweit 2018 18,1 Millionen – vor acht Jahren waren es nur knapp elf Millionen.

Großes Vermögen, große Macht

Doch während ein Kontostand von einigen Millionen Euro ein angenehmes Leben garantiert, verheißt ein Milliardenvermögen noch ein anderes, weit bedeutenderes Attribut. Laut Markus Grabka, Vermögensexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bringt Geld ab einer bestimmten Summe nahezu automatisch auch Macht mit sich: „Nehmen Sie den typischen Unternehmer mit einem Betriebsvermögen ab etwa zehn Millionen Euro. Alle, die von den Arbeitsplätzen oder den Steuerzahlungen des Unternehmens profitieren, haben ein Interesse, dass dieses Vermögen weiterhin vor Ort eingesetzt wird.“

Je größer das Vermögen, desto größer die Macht. Der derzeit reichste Mensch der Welt ist Jeff Bezos, Gründer und Chef von Amazon. Als der IT- und Versandkonzern 2018 den Standort für ein zweites Hauptquartier neben Seattle ausschrieb, buhlten Städte überall in den USA um Bezos“ Gunst. Den Zuschlag erhielt schließlich New York. Dass Amazon die Entscheidung revidierte, nachdem Bürger gegen die geplanten Ansiedlungssubventionen für Amazon protestiert hatten, zeigt vor allem: Die Macht der Superreichen ist zunehmend Gegenstand der öffentlichen Debatte.

Das gilt ebenso für einen anderen Milliardär aus Bezos“ Wahlheimat Seattle. Microsoft-Gründer Bill Gates bestimmt mit seiner Gates Foundation wesentlich den Kurs von Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO: Forschungs- oder Hilfsprojekte, die Geld von der Gates Foundation bekommen, rücken automatisch nach oben auf der Prioritätenliste. Auch über Fortschritte in der bemannten Raumfahrt, jahrzehntelang ein Kräftemessen der Supermächte, bestimmen heute maßgeblich eine Handvoll Milliardäre, neben Bezos mit seinem Raumfahrt-Start-up Blue Origin vor allem noch Tesla-Gründer Elon Musk (Space X) und Richard Branson (Virgin Galactic).

Weniger weltbewegend, aber genauso nachhaltig prägen die Milliardäre den Kunstmarkt. Der fokussiert sich in seiner Spitze immer stärker auf wenige prominente Künstler, deren Werke sich leicht wiedererkennen lassen und daher als Statussymbol taugen. „Siegerkunst“ hat das der deutsche Kunstprofessor Wolfgang Ullrich abfällig genannt: hochpreisig, oft glänzend wie Jeff Koons“ Stahlskulpturen, fast so normiert wie ein Industrieprodukt – und nur erreichbar für Power-Sammler, die mal eben für einen sechs- oder siebenstelligen Betrag ein Kunstwerk erwerben können.

Damit für einen Zuschlag bei Sotheby’s oder den Bauauftrag bei Lürssen stets genug Liquidität verfügbar ist, kümmert sich die Branche der Family Offices um die finanziellen Belange der Milliardäre: Spezielle Vermögensverwalter, die nur einer Familie oder einer kleinen Gruppe von Familien zur Verfügung stehen. Je nach Lebenstüchtigkeit ihrer Klientel entspricht die Aufgabenbeschreibung eines Family Office mal dem einer kleinen Investmentbank, mal einer Praxis für Familientherapie.

Das weltweit rasch wachsende Heer der Milliardäre übt durch die schiere Gravitationskraft seines Geldes erhebliche Effekte auf Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aus. Vor allem aber verraten die Milliardäre, die eine bestimmete Weltregion hervorbringt, viel über den Zustand der dortigen Gesellschaft.

Vier Fragen sind für diese Analyse entscheidend: Wo steigt die Zahl der Superreichen besonders schnell? Wie sind diese neuen Milliardäre an ihr Geld gekommen? Wofür geben sie es aus? Und wie üben sie ihre Macht aus? Fragen, die sich am besten anhand eines journalistischen Streifzugs durch die Epizentren der globalen Vermögensexplosion beantworten lassen.

China: Reichtum gegen Gehorsam

Das neue Gesicht des Reichtums ist vor allem asiatisch. Laut Wealth-X kamen 2017 erstmals mehr Milliardäre aus Asien (816) als aus der bisherigen Milliardärs-Hochburg USA (680). Vor allem in China ist die Zahl der Milliardäre förmlich explodiert. Dort leben laut Wealth-X nun 338 von ihnen. „Forbes“ kommt auf ähnliche Zahlen.

„Ich bin dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas sehr dankbar“, sagt Rupert Hoogewerf mit feinem Lächeln. Der Absolvent des Elite-Internats Eton hat die ungezwungenen Manieren und den vornehmen Akzent der britischen Oberschicht. Während des Interviews in seinem Büro im 18. Stock eines Schanghaier Wolkenkratzers hat er ganz ungezwungen ein Bein über die Lehne geschwungen.

Der 48-Jährige kennt fast alle Superreichen und Topunternehmer Chinas. Und er fühlt sich wohl unter ihnen. „Man läuft sich über all die Jahre immer wieder über den Weg. Irgendwann ist man sich vertraut“, sagt Hoogewerf.

Mithilfe dieser Nähe hat Hoogewerf Hurun aufgebaut, ein nach seinem chinesischen Namen benanntes Medien- und Marktforschungsunternehmen. Dessen berühmtestes Produkt ist der jährlich erscheinende Hurun Report, Chinas Reichenliste. Während die chinesische Wirtschaft mit Riesenschritten wächst, wird die Liste immer länger.

Und Hoogewerfs Expertise zieht immer mehr Interesse auf sich. Inzwischen erstellt er auch eine eigene weltweite Milliardärsliste, deren Ergebnisse weitgehend die von „Forbes“ oder Wealth-X bestätigen. Laut Hurun Global Rich List leben auf der Welt 2 470 Milliardäre mit einem Gesamtvermögen von 9,6 Billionen Euro.

1999 zog Hoogewerf nach seinem Studium der Ostasienwissenschaften nach Schanghai, wo er bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen anheuerte. Nebenbei erstellte er für „Forbes“ die Liste der reichsten Chinesen. 2003 machte er sich selbstständig. Aber nicht jeder wollte auf Hoogewerfs Liste stehen. Huawei-Gründer Ren Zhengfei zum Beispiel ließ seine Anwälte auf Hoogewerf los, weil er nicht mit Namen erscheinen wollte

Auch heute ist die Liste nicht komplett. Wie hoch das Privatvermögen von chinesischen Spitzenpolitikern ist, wird in China streng geheim gehalten. Und viele Superreiche bunkern ihr Vermögen lieber im Ausland. „Bildung und Umweltverschmutzung“, so sagt Hoogewerf, trieben sie zur Emigration.

Womöglich aber auch die Angst vor einem Staat, der nicht an rechtsstaatlichen Regeln gebunden ist. So werden Milliardäre immer wieder von den Behörden plötzlich und ohne Begründung in Gewahrsam genommen. Manchmal, wie im Fall des Fosun-Chefs Guo Guangchang, kommen sie nach wenigen Tagen wieder frei; manchmal tauchen sie, wie im Fall Wu Xiaohuis, erst Monate später wieder auf.

Zwischen der offiziell noch immer kommunistischen Führung in Peking und den chinesischen Milliardären gibt es einen unausgesprochenen Kontrakt: Die Reichen dürfen ungehindert Wohlstand anhäufen, solange sie sich aus der Politik fernhalten oder – noch besser – die chinesische Kommunistische Partei (KP) unterstützen. Beide Seiten suchen die Nähe zueinander.

Der Staat will die Unternehmer, die treibende Kraft für den wirtschaftlichen Erfolg Chinas, für sich vereinnahmen. Gleichzeitig erhoffen sich die Kapitalisten Vorteile durch ihre Nähe zur politischen Führung, etwa durch Einfluss auf neue Gesetze. 2018 nahmen unter anderem Tencent-Chef Ma Huateng und Baidu-Boss Li Yandong als Delegierte am Volkskongress der KP teil.

Im Zweifelsfall ist jedoch klar, dass nicht Geld, sondern die Partei China regiert. Als das Parteiorgan „Volkszeitung“ 2018 öffentlich machte, dass Jack Ma Mitglied der KP ist, hatte das auch eine Signalwirkung: Die Veröffentlichung zeigte, dass der Gründer des Internetkonzerns Alibaba seinen Aufstieg mit der KP vollzogen hat, und keinesfalls gegen sie.

In der Tat war es vor allem das rapide Wirtschaftswachstum des Landes in den letzten 40 Jahren, das es risikobereiten und findigen Unternehmern ermöglichte, Geld schnell und in großen Mengen anzuhäufen. So wurde die erste Generation als Hersteller von Konsumgütern reich, eine zweite folgte mit dem Immobiliengeschäft und vor einigen Jahren kam die dritte Gruppe von Tech-Superreichen dazu.

Viele dieser chinesischen Milliardäre werden von der Bevölkerung bewundert, weil sie mit eigenen Händen ihr Vermögen aufgebaut haben. Die privilegierten Sprösslinge der Superreichen hingegen nennt der Volksmund leicht abschätzig „fuerdai“, was übersetzt zweite reiche Generation bedeutet. Oft sind sie es, die dem öffentlichen Luxuskonsum frönen und Geld für protzige Autos verprassen. Wer seinen Reichtum zu demonstrativ zur Schau stellt, wird als „tuhao“, also neureich, beschimpft. Obwohl es wirklich alten Reichtum in China gar nicht gibt.

Für chinesische Milliardäre sind, zumindest im öffentlichen Auftreten, Bescheidenheit und Unauffälligkeit eine Tugend. Der Immobilien-Tycoon Xu Jiayin stand 2017 an der Spitze der Hurun-Liste der reichsten Menschen Chinas und war schon 2012 sehr wohlhabend. Als er aber damals mit einem goldverzierten Hermes-Gürtel zum Volkskongress erschien, brach ein öffentlicher Sturm der Entrüstung los. Im nächsten Jahr wählte er für den Kommunistenkongress den bescheidenen Gürtel einer heimischen Marke.

Indien: Wo Protz Pflicht ist

Derartige Beschränkungen im Lebenswandel müssen sich die Superreichen in der zweiten asiatischen Milliardärsfabrik nicht auferlegen. Auch in Indien ist die Zahl der Milliardäre rasant gestiegen. Laut Wealth-X binnen eines Jahres um über ein Fünftel auf 104 – die ihren neuen Reichtum gerne und ausgiebig zeigen.

Gautam Adani gilt für indische Verhältnisse als vergleichsweise genügsam. Was den Unternehmer nicht daran hinderte, die Hochzeit seines Sohnes auf Goa mit 22.000 Gästen zu feiern. Ein Privatjet-Stau legte den Flughafen der Partyinsel lahm. Das 127 Meter hohe Domizil des Chemieunternehmers Mukesh Ambani in Mumbai ist das größte und teuerste Einfamilienhaus der Welt. Allein sieben Etagen dienen als Parkraum und Werkstatt für den Fuhrpark der Familie.

Wohlstand ungeniert zur Schau zu stellen wird in der hinduistischen Tradition Indiens keineswegs als anstößig empfunden. Reichtum gilt hier als verdienter Lohn für gute Taten in einem früheren Leben. Doch bei allem Protz: Auch Indiens Milliardäre können es sich keinesfalls leisten, sich mit der politischen Elite des Landes zu überwerfen.

Nicht weil ihnen sonst Arbeitslager droht wie in China. Sondern weil die vergleichsweise stark abgeschotteten und regulierten Märkte in Indien hervorragende Gelegenheiten zum Reichwerden bieten, wenn man über die richtigen politischen Kontakte verfügt. Dann kommt man zum Beispiel günstig an staatliche Grundstücke, so wie einst Adani.

In keinem anderen ökonomischen Umfeld lässt sich so leicht Geld verdienen wie in einer regulierten Wirtschaft, die sich schrittweise dem Markt öffnet. Wer in solch einer Sondersituation über Wagemut, Startkapital und die richtigen Beziehungen verfügt, kann sehr schnell reich werden.

Etwa, weil er bevorzugten Zugriff auf Staatsbetriebe erhält, die zur Privatisierung anstehen. Oder aber, weil ihm Import- und Investitionsbeschränkungen lästige ausländische Konkurrenten fernhalten. „Rent Seeking“ nennen Volkswirte diese Strategie zur Vermögensmehrung, die keinerlei volkswirtschaftlichen Nutzen für die Gesamtgesellschaft stiftet.

Der am Massachusetts Institute of Technology lehrende Ökonom Daron Acemoglu und der Politikwissenschaftler James Robinson von der benachbarten Harvard-Universität haben 2012 eine ökonomische Großtheorie vorgelegt, die im Verhältnis von Superreichen und anderen Eliten zu ihren Heimatstaaten den entscheidenden Hebel für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Staaten sehen: Da, wo sogenannte „extraktive Eliten“ vor allem darauf aus sind, als „Rent Seeker“ möglichst viel Kapital aus ihrem Heimatland herauszusaugen, kann sich kein langfristiger Wohlstand entwicEin Phänomen, das sich besonders in Russland, Afrika und Lateinamerika zeigt. Wenn Milliardäre wie in diesen drei Weltregionen ihrem Heimatland reihenweise den Rücken kehren und ins Exil gehen, ist das immer auch ein Indikator, dass der implizite Gesellschaftsvertrag zwischen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft nicht funktioniert.

Der sollte im Idealfall darin bestehen, dass Menschen zu Wohlstand gelangen, indem sie mit innovativen Ideen als Unternehmer Pioniergewinne erzielen. Dadurch befeuern sie Fortschritt und Wohlstand der gesamten Gesellschaft. In Staaten, in denen dieser Gesellschaftsvertrag funktioniert, hat die Politik kein Interesse daran, die Milliardäre mit zu hohen Steuern aus dem Land zu treiben. Umgekehrt sind die Milliardäre in der Regel klug genug, von sich aus etwas an die Gesellschaft zurückzugeben – in Form von Steuern und gesellschaftlichem Engagement.

Europa: Altes Geld und gute Sitten

Ein Land, in dem dieser unausgesprochene soziale Kontrakt vergleichsweise intakt ist, ist die Nummer drei im Ranking der Milliardäre: Deutschland. 152 Milliardäre leben laut Wealth-X in der Bundesrepublik, nur in den USA und China sind es noch mehr. Und auch hierzulande wachsen Zahl und Vermögen der Milliardäre außerordentlich kräftig: „Forbes“ kommt auf 114 Milliardäre oder Milliardärsfamilien mit einem Gesamtvermögen von rund 500 Milliarden US-Dollar. 2001 waren es noch 43 Milliardäre mit 200 Milliarden Dollar Gesamtvermögen.

Deutschlands Superreiche ticken anders als die Milliardäre in den meisten anderen Teilen der Welt. Das zeigt sich bereits an ihren Wohnorten. Im Rest der Welt ballen sich die Reichen bevorzugt in einigen wenigen Metropolen, mit New York, Hongkong und San Francisco auf den drei Podiumsplätzen. Nahezu jeder vierte Milliardär weltweit ist in einer von nur zehn Metropolen zu Hause.

Die Gründe dafür liegen nahe: In großen Städten finden sich die Netzwerke und die Dienstleister, die Milliardäre für ihre Geschäfte brauchen. Hier sind die prestigeträchtigen Kultureinrichtungen und Sportklubs zu Hause, die Milliardäre gerne frequentieren und fördern. Hier können sie unter ihresgleichen leben und müssen sich für ihren Wohlstand nicht rechtfertigen.

Doch trotz der vielen Superreichen made in Germany ist keine einzige deutsche Stadt unter den Top Ten vertreten. Warum das so ist, zeigt ein Blick in das jährliche Reichenranking der Zeitschrift „Manager-Magazin“. Anders als das Vorbild „Forbes“ fokussiert sich die Wirtschaftszeitschrift dabei auf die Reichen in Deutschland und kommt auf 200 Milliardäre oder Milliardärsfamilien.

An der Spitze steht das Geschwisterpaar Susanne Klatten und Stefan Quandt (BMW, Altana). Die Geschwister leben im Großraum Frankfurt. Schon auf den Rängen dahinter beginnt eine Reise durch die deutsche Provinz. Die Milliardärs-Heimatorte heißen Heilbronn (Dieter Schwarz, Lidl-Kaufland), Iphofen (Gips-Dynastie Knauf) und Bielefeld (Oetker).

Deutsche Milliardäre fühlen sich meist dort am wohlsten, wo ihre Familien verwurzelt und ihre Unternehmen zu Hause sind. Auf die Nähe zu Opernhäusern und Investmentbanken können sie offenbar gut verzichten. Ebenso wie auf die Anonymität, die ihnen das Leben in einer Millionenmetropole bescheren würde.

Im Gegenteil. Viele von ihnen suchen und genießen die Nähe zur Heimatregion und zu den eigenen Beschäftigten, die dort leben. Gesponsert werden nicht die Met und der Champions-League-Klub, sondern der örtliche Fußballverein und die regionale Fachhochschule.

Allzu offensichtlicher Luxuskonsum ist unter deutschen Milliardären unüblich. Klar, man lebt in seiner Villa, fährt S-Klasse oder Porsche, aber das war es dann auch. Selbst Versandhauskönig Michael Otto (Familienvermögen laut „Manager-Magazin“ 13,5 Milliarden Euro) ist schon in der Economy-Class von Eurowings gesichtet worden – auf dem Mittelsitz.

Die Jachtwerft Lürssen verkauft ihre Flaggschiffe nahezu ausschließlich ins Ausland. Unter den Top 100 der weltweit längsten Motorjachten findet sich kein einziger deutscher Eigner. Und auch der steueroptimierte Erstwohnsitz in der Schweiz ist aus der Mode gekommen: Bei null Prozent Vermögensteuer und 25 Prozent Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge lässt es sich als Milliardär auch in Deutschland hervorragend leben. Zumal sich mit einigen Gestaltungskniffen auch die Erbschaftsteuer auf Firmenvermögen komplett umgehen lässt.

Es ist die typische Gelassenheit des alten Geldes, die viele deutsche Milliardäre an den Tag legen. Man hat es nicht mehr nötig, sich und anderen mit Luxuskonsum, spektakulären Kunstkäufen oder auch besonders prestigeträchtigen Sozialprojekten etwas zu beweisen.

Die Kehrseite dieser Gelassenheit: Deutschlands Milliardäre sind in den allermeisten Fällen bereits reich geboren worden. Das geerbte Unternehmen, das im besten Fall durch eigene unternehmerische Tätigkeit noch größer gemacht wird, ist das vorherrschende Muster. Echte Pionierunternehmer der ersten Generation sind selten geworden unter Deutschlands Milliardären. Und die wenigen Exemplare ihrer Gattung befinden sich oft schon in fortgeschrittenem Alter.

Dieter Schwarz, Brillen-Revolutionär Günther Fielmann, SAP-Lenker Hasso Plattner: Sie alle haben den 70. Geburtstag hinter sich. Der erste echte Selfmade-Milliardär der jüngeren Generation findet sich erst auf den mittleren Rängen des Rankings: Mobilfunkunternehmer Ralph Dommermuth aus Montabaur. Mit seinen politischen Zwischenrufen etwa zur Flüchtlingspolitik oder dem Mobilfunkausbau zählt er bereits zu den Lauteren unter Deutschlands Unternehmern, ebenso wie Multi-Gründer Oliver Samwer (Rocket Internet).

In den Biografien der meisten deutschen Milliardäre mischen sich anstrengungsloser Wohlstand durch Erbe mit eigener unternehmerischer Leistung. Typischerweise wurde das ererbte Unternehmen erfolgreich weitergeführt und im Wert deutlich gesteigert. Auch bei den Superreichen im übrigen Europa dominiert die Erbengeneration.

Bezeichnend, dass es sich bei den jüngsten Europäerinnen auf der weltweiten „Forbes“-Milliardärsliste nicht etwa um innovative Gründerinnen aus Berlin-Mitte handelt, sondern um Alexandra und Katharina Andresen, zwei 22- beziehungsweise 23-jährige Schwestern aus Norwegen. Den beiden wurde vorzeitig ein Anteil am väterlichen Industriekonglomerat übertragen – auch um die in Norwegen sehr hohe Erbschaftsteuer zu sparen.

USA: Machtbewusste Pioniere

Unter den westlichen Industrienationen sind die USA die einzige, in der es nach wie vor einen relevanten Anteil von jungen Unternehmensgründern unter den Superreichen gibt. Die weltweit jüngste Milliardärin ist laut „Forbes“ die 21-jährige Kosmetikunternehmerin Kylie Jenner, gefolgt vom 28-jährigen Snapchat-Gründer Evan Spiegel.

Menschen wie Jenner, Spiegel, Musk oder auch Bezos, der reichste Mann der Welt, zählen zu jener Unternehmergattung, in denen der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter einst den Motor der wirtschaftlichen Entwicklung sah: Weil solche Unternehmer Innovationen nicht nur einführen, sondern auch im großen Maßstab durchsetzen, können sie Pioniergewinne einstreichen und reich werden – ganz ohne allzu große Nähe zur Regierung.

Dabei ist Geld für diese Gattung der Selfmade-Milliardäre nicht einmal die Hauptantriebsquelle. Ihre Motivation ziehen sie laut Schumpeter vielmehr aus „Siegerwillen und Freude am Gestalten“. Dieser unbändige Drang zu Wucht und Wirkung war es, der zum Beispiel Spiegel gleich zweimal ein lukratives Übernahmeangebot von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg ausschlagen ließ.

Bequeme Zeitgenossen sind diese Pionierunternehmer meist nicht. Ihr Drang nach Größe lässt sie oft rücksichtslos und selbstgerecht erscheinen. Und schon Schumpeter erkannte: Wenn sie die Gelegenheit haben, um ihr Unternehmen ein Monopol zu errichten, werden sie es ohne zu zögern tun. Zudem macht ihr Siegerwille meist nicht am Werkstor halt.

So versucht Bezos mit seinem privaten Vermögen nicht nur die Raumfahrt zu revolutionieren. Er hat auch die bekannte Tageszeitung „Washington Post“ gekauft, wurde dadurch zum Lieblingsfeind von US-Präsident Donald Trump. Mit der „Californian Ideology“ hat sich unter den Superreichen von der US-Westküste gar eine eigene politische Denkrichtung herausgebildet. Sie paart liberale gesellschaftspolitische Ansichten mit einer extremen Staatsfeindlichkeit und dem geradezu religiösen Glauben an den freien Markt.

Solch politischer Gestaltungsdrang ist Europas Milliardären, die in zweiter, dritter oder vierter Generation das Geld ihrer Familien verwalten, meist fremd. Der in der Schweiz lebende Baron August von Finck, Vermögen laut „Forbes“ 8,4 Milliarden Dollar, ist die Ausnahme von dieser Regel. Er unterstützt bereits seit vielen Jahren rechtskonservative Bewegungen, darunter mutmaßlich auch die AfD.

Ebenso selten sind in Europa Milliardäre, die wie die Reichen in Indien, Afrika oder Lateinamerika gute Kontakte zur Politik als Kerngeschäft sehen, mit deren Hilfe sie ihr Vermögen auf Kosten der übrigen Gesellschaft mehren. Zugleich fehlt in Europa und speziell in Deutschland auch die Innovationsdynamik, die von wachstumshungrigen Pionierunternehmern ausgeht.

Eine Gesellschaft bemisst sich auch daran, welchen Typ von Milliardären sie hervorbringt. Und umgekehrt prägen die Milliardäre mit ihrem Verhalten die Gesellschaft, in der sie leben. Der vergleichsweise geringe Geltungsdrang der deutschen Superreichen ist sicher gut für den sozialen Frieden in der Bundesrepublik. Aber dass die Zahl der Selfmade-Milliardäre in China explodiert, während die deutsche Milliardärsliste vor allem aus reichen Erben besteht, ist eine bedenkliche Nachricht für die Bundesrepublik.

Schließlich sind längst nicht alle Familienunternehmen in der fünften Generation noch so voller Freude am Gestalten wie Peter Lürßen, dessen Werftenverbund mittlerweile weit über die Unterweser hinausgewachsen ist. Inzwischen zählen auch Schiffsbaubetriebe in Hamburg, Wilhelmshaven, Rendsburg und Wolgast dazu.

Die Lürßens und ihre Angestellten leben gut von den Milliardären dieser Welt. So gut, dass die Familie inzwischen selbst in den einschlägigen Listen der Superreichen auftaucht: Das „Manager-Magazin“ schätzt den Wert des Familienvermögens, das vor allem aus den Anteilen an der Werft besteht, auf 1,1 Milliarden Euro.

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