Thema Armut kommt in den Wirtschafts- und Finanzredaktionen an – heute am Beispiel „Die Welt“: „…in einigen Großstädten ist die Armut SOGAR gestiegen…“

Thema Armut kommt in den Wirtschafts- und Finanzredaktionen an – heute am Beispiel „Die Welt“: „…in einigen Großstädten ist die Armut SOGAR gestiegen…“

Wirtschaft Sozialhilfe-Empfänger (Quelle: Die Welt)

Diese deutschen Großstädte stecken in der Armutsfalle

 

Finanzredakteur

Das neue Jobwunder hat die Armut in Deutschland sinken lassen. Doch einige Metropolen sind in einem Abwärtsstrudel gefangen. Vor allem Städte in Nordrhein-Westfalen drohen endgültig abgehängt zu werden. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Während sich die Situation auf dem Land im Großen und Ganzen günstig entwickelt, finden sich in den Metropolen mehrere Problemherde. Insgesamt ist der Anteil der Menschen, die von Sozialleistungen leben, in den deutschen Großstädten deutlich höher als in Deutschland insgesamt.

Das zeigt eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung. Die „Armutsquote“, also der Anteil der Sozialleistungsempfänger an der Bevölkerung insgesamt, betrug deutschlandweit 10,1 Prozent. In den Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern lag sie dagegen bei 14 Prozent – also knapp vier Prozentpunkte höher. Die Angaben beziehen sich auf 2016, das letzte Jahr, für das flächendeckend Daten vorliegen.

Städtetag fordert Unterstützung für strukturschwache Städte

Allerdings ist der Durchschnittswert in diesem Fall wenig aussagekräftig. Manche Kommunen haben in der vergangenen Dekade nämlich deutliche Fortschritte gemacht, andere haben sich – gemessen an der Armutsquote – von ohnehin niedrigem Niveau weiter verschlechtert. Und wieder andere Metropolen sind in einem regelrechten Abwärtsstrudel gefangen.

Die Diskrepanzen sind so groß, dass der Deutsche Städtetag sich mit einem dringenden Appell an Bund und Länder richtet, strukturschwache Städte und Regionen stärker zu fördern. „Armut zu bekämpfen ist gerade in einem wohlhabenden Land wie Deutschland ein Muss“, fordert der Städtetagspräsident und Münsteraner Oberbürgermeister Markus Lewe im WELT-Gespräch. Dazu müssten zum Beispiel die Mittel der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ deutlich ausgeweitet werden.

Quelle: Infografik WELT

„Der Anteil von Menschen, die Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten (Hartz IV), ist in den kreisfreien Städten und Stadtstaaten etwa doppelt so hoch wie in den Landkreisen“, sagt Lewe. Berlin habe mehr SGB-II-Bezieher als ganz Bayern, rechnet er vor.

Die Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, dass manche der großen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern klare Nutznießer des neunjährigen Konjunkturaufschwungs sind. Andere hingegen tun sich erkennbar schwer. Das ist umso gravierender, als sich die Zeichen mehren, dass der längste Boom seit den 60er-Jahren – von manchen schon das „neue Wirtschaftswunder“ oder das „deutsche Jobmärchen“ getauft – vor seinem Ende steht.

Armut in NRW hat zugenommen

„Die Armutsquote hat sich in den Großstädten im Zehnjahresvergleich unterschiedlich entwickelt“, erklärt Henrik Riedel, Wissenschaftler bei der Bertelsmann-Stiftung und einer der Autoren der Studie „Nachhaltige Kommune“. Laut Riedel ist der Anteil der Empfänger von Sozialleistungen in den vergangenen zehn Jahren in 37 Kommunen gestiegen. Das entspricht 46 Prozent der 80 Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern.

Dagegen sahen 27 Kommunen – rund ein Drittel – einen Rückgang der Armut. In 16 Kommunen – einem Fünftel – ist die Armut in etwa gleich geblieben. Würde man die Städte mit besonders vielen Sozialhilfeempfängern rot markieren, wäre vor allem Nordrhein-Westfalen mit dieser Farbe übersät. Unter den Großstädten, in denen die Armut zugenommen hat, befinden sich sämtliche 13 Ruhrgebietskommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern.

Quelle: Infografik WELT

Landesweites Schlusslicht ist Gelsenkirchen, wo im Jahr 2016 jeder vierte Einwohner (26 Prozent) auf Stütze angewiesen war. Eine ähnlich hohe Quote von Leistungsempfängern weist in Deutschland nur noch Bremerhaven auf (25 Prozent), wo sich die Situation verglichen mit 2007 aber zumindest nicht verschlechtert hat.

Auch in Essen, Dortmund, Duisburg, Herne und Mönchengladbach lebt jeder fünfte Einwohner von staatlichen Zuschüssen. Ebenfalls nicht rühmlich ist die Situation in Saarbrücken, wo der Anteil der Sozialleistungsempfänger von 19 auf 22 Prozent geklettert ist. Da die Daten das Jahr 2016 abbilden, ist damit zu rechnen, dass sich die Situation seither verschlechtert hat. Das Saarland ist das einzige Bundesland, das 2018 überhaupt kein Wirtschaftswachstum erzielen konnte. Das saarländische Bruttoinlandsprodukt schrumpfte nach vorläufigen Zahlen im vergangenen Jahr um 0,8 Prozent.

Auch die Mieten lassen die Armut steigen

Ähnlich wie das kleine Bundesland im Südwesten durchleben viele alte Industriezentren in NRW einen wirtschaftlichen Umbruch, bei dem noch nicht abzusehen ist, ob neue Unternehmen und Branchen die Arbeitsplatzverluste in den alten Wirtschaftszweigen wettmachen können. „Der Anstieg der Armut im Ruhrgebiet kann vor allem auf den noch nicht vollständig bewältigten Strukturwandel zurückgeführt werden“, formuliert es Bertelsmann-Forscher Riedel.

Als Folge davon ist die Langzeitarbeitslosigkeit an der Ruhr mit die höchste bundesweit. Gelsenkirchen zum Beispiel hat eine Arbeitslosenquote von 12,5 Prozent, davon sind mehr als 40 Prozent länger als ein Jahr ohne Job. Ein anderer Faktor für steigende Armut sind die Mieten. Viele Sozialpolitiker heben auf diesen Faktor ab. Allerdings lässt sich der Einfluss der teuren Wohnkosten an den Bertelsmann-Zahlen nicht ablesen.

Vielmehr melden einige Städte mit besonders hohen Mieten sogar eine unterdurchschnittliche Zahl von Sozialhilfeempfängern. So liegt die Armutsquote im notorisch teuren München laut Bertelsmann bei sieben Prozent. Die bayerische Landeshauptstadt hat die höchsten Wohnkosten aller Metropolen, zugleich sind dort aber auch die Löhne und Gehälter hoch.

Im ebenfalls hochpreisigen Augsburg ist die Armutsquote sogar gefallen. Allerdings warnen die Experten davor, den Effekt zu unterschätzen. „Es ist möglich, dass die hohen Mieten Einkommensschwache bereits dazu genötigt haben, aus der Stadt wegzuziehen, sodass sie nicht mehr in der Statistik auftauchen“, merkt Riedel an.

„Erwerbstätigkeit senkt das Armutsrisiko erheblich“

So ist denn die Lage dort besonders dramatisch, wo steigende Mieten und Strukturprobleme zusammentreffen. „Die Ergebnisse des Berichts bestätigen langjährige Erfahrungen in den Städten. Langzeitarbeitslosigkeit und hohe Wohnkosten konzentrieren sich gerade in großen Städten und steigern das Armutsrisiko“, erklärt Städtetagspräsident Lewe.

Für ihn hindern vor allem fehlende Qualifikationen Menschen daran, eine Arbeit aufzunehmen, die ihre Existenz sichert: „Erwerbstätigkeit senkt das Armutsrisiko erheblich.“ Die Städte engagieren sich nach seinen Angaben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Sie beteiligten sich zum Beispiel an der Finanzierung von Leistungen für Arbeitslose, Kinder und Jugendliche. Auch der Ausbau der Kinderbetreuung komme Arbeitssuchenden, darunter viele Alleinerziehende, zugute.

Bund und Länder müssten jedoch mehr tun. „Die eigentlichen Ursachen für Armut können vielfach in den Kommunen nicht gelöst werden.“ Das gehe nur über gute Bildung und eine intensive Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik. „Vor allem für die wirtschaftsnahe kommunale Infrastruktur in diesem Programm brauchen die Städte deutlich mehr Mittel“, fordert Lewe. Bisher stünden dafür jährlich nur 320 Millionen Euro zur Verfügung.

Auch der Sozialverband Deutschland (SoVD) sieht in den steigenden Mieten ein wachsendes Problem. Die Preisentwicklung in den Ballungsräumen belaste armutsgefährdete Haushalte. Ein im Auftrag des Verbandes erstelltes Gutachten zeigt auf, dass mehr als einer Million Haushalten in den Großstädten nach Abzug der Miete nur mehr ein Einkommen unter dem Regelsatz von Hartz IV bleibt. Das betreffe oft kinderreiche Familien.

Schwierige Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt

„Ein umfassendes Investitionsprogramm, das bezahlbaren Wohnraum gewährleistet“, hat daher aus Sicht von SoVD-Präsident Adolf Bauer Priorität. „Insbesondere für untere und mittlere Einkommen muss ausreichend Wohnraum geschaffen werden“, fordert er. Darüber hinaus seien gezielte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erforderlich, die insbesondere Langzeitarbeitslose in das Berufsleben eingliedern.

„Angesprochen sind neben der Arbeits- und Beschäftigungspolitik eine nachhaltige Förderung von Kindern durch entsprechende Infrastruktur, insbesondere der Ausbau der lokalen Kita-Grundbetreuung“, sagt Bauer. Schließlich müsse der Mindestlohn so angehoben werden, dass er vor Armut schütze und existenzsichernd wirke.

Quelle: Infografik WELT

Doch für den Anstieg der Armut in manchen großen Städten gibt es noch einen anderen Grund. Anders als zum Beispiel das florierende München waren manche Kommunen nicht in der Lage, Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

„Da aktuell nur Daten bis 2016 vorliegen, konnten Auswirkungen der starken Zuwanderung ab 2015 auf die Armutssituation in den Großstädten nur zum Teil erfasst werden“, schreiben die Bertelsmann-Forscher in ihrer Einschätzung. Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen aber, dass 2018 bereits ein gutes Drittel aller Sozialhilfeempfänger Ausländer waren – und dass die Quote in den Jahren seit 2015 stark zugenommen hat. Ohnehin strukturschwache Städte stellt die Migration vor besondere Probleme. Auch in dieser Hinsicht fordern die Kommunen Unterstützung von Bund und Ländern.

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