Herner Sozialforum

Eine Formel gegen Kinderarmut – Interview mit Heinz Hilgers: Es kommt jetzt darauf an, dass die Parteien vor der nächsten Bundestagswahl klare Bekenntnisse zur Kindergrundsicherung in ihre Programme schreiben. Die Niederlande, Belgien, Frankreich – fast alle haben sozial gestaffelte Systeme.

Kindertag 1. Juni 2019
Eine Formel gegen Kinderarmut

01.06.2019 (Quelle: Volksstimme.de)

Nicht selten sind Kinder aus sozial schwachen Haushalten auch auf Essen von gemeinnützigen Tafeln angewiesen. Foto: dpa

Nicht selten sind Kinder aus sozial schwachen Haushalten auch auf Essen von gemeinnützigen Tafeln angewiesen. Foto: dpa

Im Interview erklärt der Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers, warum es eine Kindergrundsicherung braucht.

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In Magdeburg findet am 18. Juni 2019 eine hochkarätig besetzte Fachtagung des Netzwerks gegen Kinderarmut statt. Volksstimme-Redakteur Alexander Walter sprach zum Kindertag am 1. Juni 2019 mit Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers über Kinderarmut in Deutschland und den Lösungsvorschlag einer Kindergrundsicherung:

Herr Hilgers, am 1. Juni ist Internationaler Kindertag. Das ist doch eigentlich ein schöner Anlass für ein Gespräch über Kindheit in Deutschland …
Heinz Hilgers:
Das stimmt, allerdings ist die Freude getrübt. Die materielle Lage vieler Kinder in unserem Land hat sich in den vergangenen Jahren in bedenklicher Weise verschlechtert.

Inwiefern?
Bei 12 Millionen Kindern reden wir heute von mehr als 3 Millionen Heranwachsenden, die über ihre Eltern Hilfen zur Existenzsicherung beziehen. Das ist jedes vierte Kind. Anspruchsberechtigt wären sogar 4,4 Millionen. Um die Jahrtausendwende hatten wir bei 15,6 Millionen Kindern gerade mal 1,45 Millionen Leistungsbezieher.

Was sind die Gründe?
Früher hatten wir noch die Arbeitslosenhilfe mit 55 Prozent des Einkommensniveaus. Seit den Hartz-IV-Reformen hat sich das geändert. Es ist ein prekärer Arbeitsmarkt entstanden. Da ist vieles ins Rutschen geraten.

Der Staat gab zuletzt 200 Milliarden Euro jährlich für 150 Leistungen rund um Kinder aus. Klingt nicht so, als ließe er Familien im Stich …
Also, diese 200 Milliarden Euro sind schon sehr weit gefasst. Da sind Dinge wie Witwenrente, Ehegattensplitting oder die beitragsfreie Krankenversicherung drin. Ja, wir haben viele Leistungen. Das System aber ist antiquiert, verursacht einen immensen bürokratischen Aufwand, und es ist vor allem sozial ungerecht.

Was ist an den vorhandenen Hilfsangeboten ungerecht?
Zunächst müssen Sie für alle Leistungen Anträge stellen, nicht wenige Eltern sind damit überfordern oder tun dies aus Scham nicht. Die Folge: Viele Familien werden gar nicht erst erreicht. Noch wichtiger aber ist die soziale Unausgewogenheit: Das Kindergeld wird mit Hartz-IV-Leistungen verrechnet, Zahlungen oberhalb des Leistungsniveaus weden abgezogen. Gleichzeitig haben reiche Eltern einen Vorteil von 300 Euro pro Kind im Monat, zu dem noch ein Freibetrag für Privatschulgebühren oder Haushaltshilfen kommt.

Und die Kindergrundsicherung würde das ändern?
Ja, denn zum einen wäre unser Modell antragsfrei, alle Eltern würden also erreicht. Zum anderen sieht das Konzept eine soziale Staffelung vor: Je niedriger das Familieneinkommen ist, desto höher wäre die Kindergrundsicherung. Für Geringverdiener würde sie bei 628 Euro monatlich beginnen – bei dieser Summe liegt laut Bundesverfassungsgericht das Existenzminimum in Deutschland. Wer anfängt Steuern zu zahlen, dessen Kindergrundsicherung reduziert sich. Paare mit sehr hohen Einkommen von mehr als 240.000 Euro schließlich würden noch einen Mindestbetrag von 300 Euro bekommen – das entspricht der derzeit maximal möglichen Entlastung durch den Kinderfreibetrag.

Die CDU hat das System zuletzt als zu teuer kritisiert.
Es wäre nur deshalb teurer, weil wir alle erreichen. Wenn ich darauf setze, dass ich wegen Antragshürden, wie wir sie etwa beim Bildungs- und Teilhabepaket haben, nur 15 Prozent der Berechtigten erreiche und so Geld spare, nenne ich das zynisch. Zudem muss man sehen: Es ließen sich erhebliche Mittel durch den Wegfall der bisherigen Bürokratie bei der Antragsbearbeitung einsparen.

CSU-Politiker warnen, die Grundsicherung würde Erwerbsanreize für Geringverdiener mindern.
Das Gegenteil ist richtig. Erst wenn Leute durch ihre Arbeit über das Existenzminimum kommen, haben sie doch einen Anreiz, arbeiten zu gehen. Das würde die Kindergrundsicherung gewährleisten. Aktuell haben von den 4,4 Millionen anspruchsberechtigten Kindern 2,8 Millionen keine erwerbstätigen Eltern. Und diejenigen, die arbeiten gehen, haben oft keinen Cent extra, weil sie mit Hartz IV aufstocken und das Einkommen verrechnet wird.

Außer aus der Union hört man wenig Kritik an Ihrem Konzept. Linke und Grüne haben Sie auf Ihrer Seite, die SPD auch. Müssen Sie bei der Tagung am 18. Juni die Politik überhaupt noch überzeugen?
Naja, in der SPD gibt es schon noch Leute, die dieselbe Auffassung vertreten wie die Union. Es kommt jetzt darauf an, dass die Parteien vor der nächsten Bundestagswahl klare Bekenntnisse zur Kindergrundsicherung in ihre Programme schreiben. Die Niederlande, Belgien, Frankreich – fast alle haben sozial gestaffelte Systeme. Dahin müssen wir endlich auch kommen.

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