Hartz IV Urteil: Urteil zu Sanktionen geht Hernern nicht weit genug

Verfassungsgericht

Hartz IV Urteil: Urteil zu Sanktionen geht Hernern nicht weit genug

Lars-Oliver Christoph

Das Jobcenter darf Leistungen von Hartz-IV-Empfängern künftig um maximal 30 Prozent kürzen.

Das Jobcenter darf Leistungen von Hartz-IV-Empfängern künftig um maximal 30 Prozent kürzen.

Foto: Ralph Bodemer

Herne.  Die Leistungskürzungen für Hartz-IV-Empfänger bei Verstößen ist teilweise verfassungswidrig. In Herne stößt das Urteil auf ein gemischtes Echo.

Kürzungen von Hartz-IV-Leistungen bei Pflichtverletzungen sind teilweise verfassungswidrig. Dieses am Dienstag verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts stößt in Herne auf unterschiedliche Reaktionen. Während sich das Jobcenter positiv äußerte, gehen dem Herner Sozialforum und der Arbeitslosenzentrum das Urteil nicht weit genug.

Sozialforum: Existenzminium ist nicht kürzbar

Auf den Punkt gebracht: Wer einen Job ausschlägt oder eine Maßnahme ablehnt, dem darf ab sofort nicht mehr als 30 Prozent des Regelsatzes gestrichen werden. Bisher waren Kürzungen auch von 60 oder gar 100 Prozent der Grundsicherung für Arbeitslose möglich. Das Urteil sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber gleichzeitig auch „erschreckend“, sagt Norbert Kozicki vom Bündnis Herner Sozialforum.

Denn: „Kürzungen des Existenzminimums sind damit nicht grundgesetzwidrig“, so der frühere Falken-Landesgeschäftsführer. Kozicki fordert die Abschaffung aller mit finanziellen Folgen verbundenen Sanktionen: „Ein Existenzminimum kann man nicht kürzen.“ Es müssten andere Instrumente genutzt werden, um Versäumnisse zu ahnden. Von daher sei die Karlsruher Entscheidung „inkonsequent“, so der Sozialwissenschaftler.

Auch Kathrin Wißner, Sprecherin der Initiative Jobcenter-Watch, fordert die Abschaffung aller Sanktionen. Parallel dazu müsse ein Grundeinkommen eingeführt werden – auch und gerade für Kinder, unabhängig von Hartz IV. Und: Die etablierten Parteien müssten sich angesichts solcher Sozialgesetze nicht wundern, dass sie bei Wahlen immer mehr Stimmen verlören. „Die Menschen haben immer weniger Geld in der Tasche“, so Wißner.

Jobcenter wartet auf Weisungen vom Bund

Jobcenter-Chef Karl Weiß kann mit dem Urteil gut leben. Es sei absehbar gewesen und auch nachvollziehbar, dass drastische Kürzungen zurückgefahren werden müssen. Viel ändern werde sich dadurch aber nicht, so Weiß’ Einschätzung. Denn: Es komme „relativ selten“ vor, dass 60 oder gar 100 Prozent gekürzt würden. So habe es in den vergangenen zwölf Monaten „deutlich unter zehn Fälle gegeben“, in denen Leistungen komplett gestrichen worden seien.

Der Geschäftsführer des von Stadt und Arbeitsagentur getragenen Jobcenters betont zudem, dass nur ein ganz kleiner Teil der Hartz-IV-Empfänger seinen Pflichten nicht nachkomme. Von rund 16.000 Leistungsbeziehern seien dies in Herne im Jahr gerade mal etwa 1600 Menschen. Und: Bei mehr als 80 Prozent aller Verstöße gehe es um Meldeversäumnisse, die mit Kürzungen von 10 Prozent geahndet würden. Seine Behörde werde das Urteil – das offenbar sofort in Kraft treten soll – akzeptieren und umsetzen. Sie warteten nun auf Weisungen vom Bund, so Weiß.

Nicht überrascht über das Urteil ist Hernes Sozialdezernent Johannes Chudziak: „Das zeichnete sich ab.“ Er halte es für richtig, weiterhin ein Instrument zu haben, um Menschen „im äußersten Fall“ Leistungen kürzen zu können.

Leiter des Arbeitslosenzentrums fordert ein neues System

Für Franz-Josef Strzalka vom Arbeitslosenzentrum an der Hermann-Löns-Straße reicht der Richterspruch nicht aus: „Das gesamte System muss auf den Prüfstand“, sagt er. Ein menschwürdigeres System sei nötig, das eine bessere Förderung, Qualifizierung und Beratung gewährleiste und verhindere, dass Menschen in Jobs gedrängt würden, die nicht ihrer Qualifikation entsprächen.

„Wir begrüßen das Urteil und fühlen uns bestätigt“, erklärt Linke-Sozialexperte Daniel Kleibömer. Es sei allerdings traurig, dass es so lange gedauert habe, bis es zu diesem Urteil gekommen sei. Die Linke lehne Sanktionen grundsätzlich ab und werde sich auch künftig für die Abschaffung aller Leistungskürzungen einsetzen, so Kleibömer..

Die umstrittene Vorgabe, dass es für Langzeitarbeitslose unter 25 Jahren viel härtere Sanktionen als für Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen werden, war nicht Gegenstand der Verfassungsprüfung. Selbst Hernes Jobcenter-Chef Karl Weiß sieht hier Reformbedarf und wünscht sich mildere Strafen. Einen grundsätzlichen Verzicht auf Leistungskürzungen hält er jedoch für falsch. „Ohne Mitwirkung der Leistungsbezieher funktioniert es nicht“, so der Behördenleiter.

Herner Sanktionen höher als in Nachbarstädten

Von Juli 2018 bis Juni 2019 (neuere Zahlen liegen derzeit nicht vor) hat das Herner Jobcenter in insgesamt 5849 Fällen Leistungskürzungen vorgenommen. Auf einzelne Bezieher entfielen dabei auch mehrere Sanktionen. In 5038 Fällen (85,5 Prozent) handelte es sich um reine Melde- und Terminversäumnisse. Weitere Sanktionen betrafen vor allem die Weigerung bei der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit und bei der Erfüllung von Pflichten nach der Eingliederungsvereinbarung sowie Abbrüche von Maßnahmen.

Im Juni 2019 betrug die durchschnittliche Kürzung in Herne 116,31 Euro (alle Altersklassen) und 154,46 Euro bei den unter 25-Jährigen. Das entspricht einem Anteil von 18,7 Prozent bzw. 32,8 Prozent der Gesamtleistungen. Im Ruhrgebietsvergleich liegt Herne damit insbesondere bei den jüngeren Arbeitslosen nach wie vor weit vorne, was bei Norbert Kozicki (Sozialforum) auf harsche Kritik stieß und stößt.

Jobcenter-Chef sieht keine Spielräume

Gelsenkirchen meldete beispielsweise für Juni eine durchschnittliche Kürzung von 84,48 Euro (alle Altersklassen) und 99,89 Euro (bei unter 25-Jährigen). Und auch Bochum blieb und bleibt jeweils deutlich unter dem Schnitt der Herner Kürzungen.

Jobcenter-Chef Karl Weiß verweist darauf, dass ein Städtevergleich eigentlich nicht zulässig sei, weil einzelne Faktoren die Summe stark beeinflussen könnten. Und: Das Jobcenter besitze hier so gut wie keinen Spielraum. Das beantwortet allerdings nicht die Frage, warum sich die Höhe der Kürzungen in vergleichbaren Städten so stark unterscheidet.

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