Abwärtstrend bei der Tarifbindung: Westen nur noch 57 % – Osten 44 % – ein gemeinsamer Kampf für höhere Tarifbindung !
Lohn, Urlaub, Familie – so soll der Tarifvertrag gerettet werden
Über den Reformbedarf sind sich die Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften einig. Doch wohin die Reise gehen soll, ist strittig. Während die Wirtschaft viel mehr Flexibilität für die Betriebe fordert, halten Gewerkschaften und SPD ganz im Gegenteil sogar mehr tarifliche und gesetzliche Regulierungen für nötig, um die Arbeitnehmer im Wandel besser zu schützen.
Wie weit die Lager bei diesem Thema auseinanderliegen, zeigt der von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) herausgegebene Sammelband „Sozialpartnerschaft 4.0 – Tarifpolitik für die Arbeitswelt von morgen“, der am Dienstag auf dem Arbeitgebertag in Berlin präsentiert wird. Zu den Autoren zählen neben Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer und DGB-Chef Reiner Hoffmann auch die Bundesminister Hubertus Heil (SPD, Arbeit) und Peter Altmaier (CDU, Wirtschaft).
Unternehmen sollen aus Optionen wählen können
In den vergangenen Jahren ist die Tarifbindung hierzulande stark erodiert, wie Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) belegen. Danach gilt sie nur noch für 57 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 44 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder ist auf nur noch 15 Prozent der Arbeitnehmer gesunken.
„Für eine Stärkung der Tarifbindung bedarf es einer Rückbesinnung darauf, dass in Tarifverträgen Mindestarbeitsbedingungen geregelt werden sollten“, mahnt Arbeitgeberpräsident Kramer. Weiterreichende Vereinbarungen könnten dann in Betrieben vor Ort festgelegt werden. Konkret schlägt Kramer ein „Optionsmodell“ vor, das eine deutliche Flexibilisierung der Tarifverträge zur Folge hätte.
Der Vorstoß sieht gesetzliche Öffnungsklauseln vor, die es Tarifpartnern erlauben, von gesetzlichen Regelungen abzuweichen. Dies ist bereits heute etwa bei der Leiharbeit möglich. Der Arbeitgeberchef plädiert zudem für tarifliche Öffnungsklauseln, wie sie in einigen Branchentarifverträgen schon angewandt werden.
Als ganz neue Option will Kramer überdies eine „modulare Tarifbindung“ einführen: „Unternehmen sollten die Möglichkeit erhalten, aus einem Gesamttarifwerk einzelne Module auszuwählen.“ Schließlich sei es besser, wenn Unternehmen wenigstens Teile eines Tarifvertrags anwendeten als gar keinen, argumentiert der Arbeitgeberchef.
„Die Flächentarifverträge sind zu kompliziert geworden“
In den vergangenen Jahren haben die Tarifparteien in großen Industriebranchen wie der Chemieindustrie oder der Metall- und Elektroindustrie in den Lohnrunden zunehmend neue Themenbereiche verhandelt. Längst geht es deshalb in den Tarifrunden nicht mehr nur um Löhne und Arbeitszeiten.
Der Metalltarif beispielsweise gibt Arbeitnehmern die Möglichkeit, zwischen zusätzlichen Urlaubstagen und mehr Geld zu wählen. In anderen Branchen haben die Sozialpartner Regelungen zu Lebensarbeitszeitkonten, zur Weiterbildung oder zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgehandelt.
Das Problem seiner Branche sei, dass die Machtbalance zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber gestört sei und die IG Metall deshalb im Flächentarifvertrag Höchstkonditionen durchgesetzt habe, sagt Dulger. Die Folge sei die Flucht vor allem der kleinen und mittelständischen Betriebe aus der Tarifbindung.
Sowohl Dulger als auch Chemie-Arbeitgeberchef Kai Beckmann unterstützen vehement die Forderung des BDA-Chefs nach Öffnungsklauseln, damit Betriebe die Chance für passgenaue Lösungen erhielten.
Die Arbeitgeber fordern vom Gesetzgeber überdies, den Unternehmen mehr Spielraum zu lassen. Nötig seien „Experimentierfelder“, damit neue Wege jenseits verkrusteter Regulierungen – etwa bei der strengen Arbeitszeitregel – erprobt werden könnten.
Arbeitsminister Heil sieht angesichts der sinkenden Tarifbindung den Staat in der Pflicht gegenzusteuern. Die große Koalition habe bereits Anreize für mehr Tarifpartnerschaft geschaffen, schreibt Heil.
So gebe es bei der Betriebsrente sowie der Leiharbeit für tarifgebundene Unternehmen die Möglichkeit, von gesetzlichen Regulierungen abzuweichen. Auch im Arbeitszeitgesetz plant Heil eine Öffnungsklausel für tarifgebundene Arbeitgeber.
Auf der Grundlage entsprechender Tarifverträge sollen Betriebsvereinbarungen möglich sein, um die gesetzliche Höchstarbeitszeit flexibel auf die Wochentage zu verteilen. Heil erwägt zudem ein „Tariftreuegesetz“ für die Bundesebene, sodass öffentliche Verträge künftig nur noch an Unternehmen gehen, die Tarif zahlen.Im Gegensatz zu den Arbeitgebern sieht DGB-Chef Hoffmann die Zukunft der Sozialpartnerschaft in einem erweiterten Verständnis von Tarifpolitik. Nötig sei eine „qualitative Tarif(sozial)politik“. Im Mittelpunkt der Tarifverhandlungen müssten mehr und mehr auch Zukunftsthemen wie Weiterbildung, Beschäftigungssicherung, betriebliche Alterssicherung oder Pflegezusatzversicherungen stehen, betont Hoffmann.
Der Gesetzgeber sollte zudem das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit stärker nutzen, um bei schwindender Tarifbindung höhere Lohnsteigerungen zu erreichen. Damit werden Tarifvereinbarungen auf alle Unternehmen einer Branche ausgeweitet, wie dies zuletzt mit dem Pflegemindestlohn geschehen ist.