„Wer mit dem Autor die Geschichte der Gesellschaftstheorie von Karl Marx bis heute verfolgt, kann das Beharren auf dem Begriff der Klassengesellschaft durchaus verstehen.“

Christoph Butterwegge besteht in neuem Buch auf Klassengesellschaft

  • vonStephan Hebel  Frankfurter Rundschau
  • Christoph Butterwegges beschreibt in seinen neuen Buch „Die zerrissene Republik“ eine radikale Analyse der Ungleichheit in Deutschland.

Wo es langgeht, macht Christoph Butterwegge gleich im ersten Satz klar: „Seit geraumer Zeit ist die wachsende sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft.“ Eine solche Festlegung auf „das Kardinalproblem“ erscheint irritierend in Zeiten, da allenthalben der Klimawandel auf Platz eins der Problemskala gesetzt wird. Aber das stört Butterwegge nicht, und genau darin liegt sowohl die Schwäche als auch die Stärke seines neuen Buches.

Man merkt dem Buch fast auf jeder Seite die Sorge an, dass die Ungleichheitsverhältnisse bei all den Debatten über kulturelle oder Identitätsfragen ins Hintertreffen der Aufmerksamkeit geraten könnten: „Verteilungskonflikte sind grundlegender Art, Beziehungs-. Anerkennungs- und Wertschätzungskonflikte bleiben ihnen nachgeordnet.“ Ob eine derart dezidierte Rangordnung der ausdifferenzierten Schichtung im modernen Kapitalismus standhält, darf bezweifelt werden. Einerseits. Andererseits: Wer mit dem Autor die Geschichte der Gesellschaftstheorie von Karl Marx bis heute verfolgt, kann das Beharren auf dem Begriff der Klassengesellschaft durchaus verstehen.

Butterwegges neues Buch erklärt die Ungleichheit

Zwar kommt bei der Auseinandersetzung mit früheren Autoren das Verdikt des fehlenden Klassenstandpunkts hier und da etwas übertrieben, fast dogmatisch herüber – etwa, wenn es um die Theorien der Frankfurter Schule geht, die Butterwegges strengen Test auf Klassenbewusstsein allenfalls mit Einschränkungen bestehen. Aber vielleicht muss eben etwas dicker auftragen, wer mit guten Gründen darauf beharrt, die gesellschaftliche Ungleichheit mit den Produktionsverhältnissen, also der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, in Verbindung zu bringen. Das hat sich ja leider nicht erledigt, nur weil sich das „Proletariat“ heute aus unterschiedlichsten Gruppen zusammensetzt, vom Niedriglöhner im Dienstleistungsbereich bis zur „selbstständigen“, aber in Wahrheit höchst abhängigen Designerin in der Kreativwirtschaft.

In diesem Sinne stellt der Streifzug durch die Theorien der Ungleichheit eine beachtliche und für interessierte Laien lehrreiche Materialsammlung dar, auch wenn man Butterwegges Urteilen nicht immer folgt. Und es kommt hinzu, dass sich das gelegentlich eindimensionale Betonen des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit immer stärker ausdifferenziert, je näher Butterwegge im Verlauf des Buches den gegenwärtigen Verhältnissen kommt. Da räumt er immerhin ein: „Wenngleich es nach wie vor bürgerliche, proletarische und proletaroide Klassenlagen gibt, behauptet heute niemand mehr, dass es nur die beiden traditionalen Gesellschaftsklassen der Bourgeoisie und des Proletariats gebe.“

Ungleichheit ist integraler Bestandteil des Kapitalismus

Diese Differenzierung widerspricht nicht der Aussage, dass „der Gegensatz von Kapital und Arbeit für die (Fehl-)Entwicklung der Gesellschaft zentral“ sei. Vielmehr macht die Diagnose einer zunehmenden Ausdifferenzierung innerhalb der Klassen es erst möglich, überhaupt noch von ihnen zu sprechen.

Genau das hilft Christoph Butterwegge sehr, wenn er die Erzählung von der angeblich „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ verwirft und seine zentralen Thesen dagegen verteidigt: dass nämlich die Ungleichheitsverhältnisse kein Betriebsunfall des Kapitalismus sind, sondern dessen integraler Bestandteil; dass in diesem System der Reichtum der einen ohne die Armut der anderen nicht denkbar ist; dass also der Ungleichheit nicht wirklich abzuhelfen sei unter kapitalistischen Bedingungen.

Butterwegge findet die Politik armutsfördernd

Man muss wahrlich kein Dogmatiker sein, um diese Thesen wenigstens interessiert zur Kenntnis zu nehmen. Mit dem ganzen Wissensfundus des Armuts- und Reichtumsforschers führt Butterwegge vor, wie die Vermehrung der großen Vermögen durch eine durchaus armutsfördernde Politik abgesichert wurde und wird. Das reicht von den Steuersenkungen der vergangenen Jahrzehnte am oberen Ende (in den ganz frühen Jahren der Bundesrepublik lag der Grenzsteuersatz für die höchsten Einkommensbestandteile bei 95 Prozent, und zwar auf Anweisung der West-Alliierten!) über die Deregulierung des Arbeitsmarkts und die Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Ende der Förderung für genossenschaftlichen und gemeinnützigen Wohnungsbau.

Man mag einwenden, das sei alles bekannt. Aber es macht dieses Buch wertvoll, dass es die Entwicklung der Ungleichheit ohne Rücksicht auf gängige Erzählungen über den Segen der Niedriglohn-Arbeit, die notwendige Senkung von Standards wegen internationaler Konkurrenz oder den Nutzen der Schwarzen Null nachzeichnet. Wahrscheinlich geht das wirklich nur, wenn man auch die grundlegende Funktionsweise des modernen Kapitalismus kritisch im Auge hat. Und genau das mag der Grund dafür sein, dass Butterwegge so unbeirrbar auf dem Begriff der „Klasse“ beharrt.

Wie wird sich der Kapitalismus entwickeln?

Nur dann nämlich wird der Blick frei für eine weitere zentrale These des Autors: Der strukturellen Ungleichheit wird mit Änderungen bei der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums allein nicht beizukommen sein. So schwer erreichbar selbst sie im Moment scheinen: Selbst Maßnahmen der Umverteilung im Steuer- und Sozialsystem würden nicht ausreichen, wenn sich nicht auch an der Verfügung über das Kapital etwas ändert.

So gehört zu den wenigen optimistischen Passagen in Butterwegges Buch das Lob für den Jungsozialisten Kevin Kühnert, der in einem Interview die Frage der Kollektivierung privaten Kapitals angesprochen hatte: „Dass ein bekannter Nachwuchspolitiker wie Kühnert solche Grundsatzfragen überhaupt anschnitt, war enorm wichtig für weitere Diskussionen über Möglichkeiten zur Beseitigung der sozioökonomischen Ungleichheit.“

Wer solche Diskussionen will, sollte allerdings – um zum Anfang zurückzukommen – ein zeitgenössisches Krisenphänomen wie den Klimawandel viel stärker in den Blick nehmen, als Butterwegge das tut. Dieses Thema kommt nur an sehr wenigen Stellen und andeutungsweise vor. So verdienstvoll die Kritik am Ungleichheits-Treiber Kapitalismus ist: Wer damit überzeugen will, wird gerade den Zusammenhang zwischen ökonomischen und ökologischen Krisen viel stärker in den Blick nehmen müssen.

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