„Die Erhöhung auf zwölf Euro in der Stunde ist überfällig und nicht erst „perspektivisch“ notwendig.“ (Butterwegge)

Armutsforscher: Ein höherer Mindestlohn ist „überfällig“

Die Bundesregierung müsse mehr gegen Armut unternehmen, findet der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sei nicht gegeben. (Quelle: mittelhessen)

Christoph Butterwegge sieht viele soziale Probleme ungelöst. Foto: dpa

Christoph Butterwegge sieht viele soziale Probleme ungelöst. (Foto: dpa)

KÖLN – Die Bundesregierung müsse mehr gegen Armut unternehmen, findet Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sei nicht gegeben.
Herr Professor Butterwegge, hat der SPD-Parteitag Sie etwas heiterer stimmen können?
Zumindest hat er gezeigt, dass die SPD wieder über Alternativen der Gesellschaftsentwicklung diskutiert. Und die Partei rückt das Thema der sozialen Gerechtigkeit stärker in den Mittelpunkt ihrer Politik. Damit hat sie die Chance, Vertrauen unter den Wählern zurückzugewinnen.

Dabei hat die SPD als Regierungspartei hier schon einiges getan. Zum Beispiel gibt es seit 2015 einen Mindestlohn.
Der Mindestlohn war lediglich ein verspäteter Ausgleich für die negativen Folgen der Hartz-IV-Reformen. Die haben zur Entstehung des breitesten Niedriglohnsektors in Europa geführt. Zugleich ist die Kraft der Gewerkschaften geschwunden. Sie sind in vielen Bereichen nicht mehr stark genug, um auskömmliche Löhne zu erkämpfen. Deshalb brauchen wir einen Mindestlohn, der sich nicht mehr nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientieren darf, sondern Vollzeitbeschäftigte dauerhaft aus der Armutszone holt. Die Erhöhung auf zwölf Euro in der Stunde ist überfällig und nicht erst „perspektivisch“ notwendig.
Nach Ihrer Feststellung ist die Republik zerrissen, geteilt in viele Arme und wenige Reiche. Paradoxe Entwicklung: Genau in dieser Zeit schrumpft die SPD von der Volks- zur Nischenpartei, die Linke stagniert, die Gewerkschaften verlieren an Einfluss. Offenbar lassen sich die Menschen mit der sozialen Frage kaum noch mobilisieren.
In Frankreich ist das anders. Dort gibt es einen Generalstreik, wenn die Regierung an Rentenkürzungen denkt. Hierzulande ist der revolutionäre Elan der Lohnabhängigen leider nicht so ausgeprägt. Heinrich Heine hat Deutschland schließlich nicht ohne Grund das „Land des Gehorsams“ genannt. Eine tiefe Unzufriedenheit ist angesichts der Einschränkung sozialer Leistungen jedoch auch bei uns zu spüren. Dass die AfD als mittlerweile völkisch-nationalistische Partei einen solchen Aufschwung erlebt, hat auch damit zu tun. Teile der unteren Mittelschicht, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben, fühlen sich von den demokratischen Parteien verraten oder alleingelassen. Die sozialen Probleme sind ihnen schon bewusst, sie ziehen daraus nur nicht die richtigen Konsequenzen.

Was ist die Ursache der wachsenden Ungleichheit?

Die kapitalistische Gesellschaft produziert Ungleichheit. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in den vergangenen Jahren aber deshalb vertieft, weil die politisch Verantwortlichen unter dem Einfluss des Neoliberalismus auf den Markt gesetzt und die Konkurrenz in den Mittelpunkt gerückt haben. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sollte noch wettbewerbsfähiger auf den Weltmärkten gemacht werden, obwohl er auf die Größe des Landes bezogen schon Exportweltmeister war. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, der Sozialstaat demontiert und das Steuersystem zugunsten der Reichen und Hyperreichen umgestaltet. Die jüngste Zunahme der Ungleichheit in Deutschland ist kein Kollateralschaden der Globalisierung, sondern die Folge politischer Fehlentscheidungen.

Nach Ihrer Ansicht lassen sich die Probleme der Menschheit nur lösen, wenn der Kapitalismus überwunden wird. Wie könnte das aussehen?

Man kann auch innerhalb des Kapitalismus für mehr sozialen Ausgleich sorgen. Die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt hat das in den Siebzigerjahren getan. Ich kann mir eine Steuerpolitik vorstellen, die zu einer Umverteilung von oben nach unten führt. Jetzt wird der Solidaritätszuschlag schrittweise abgeschafft, der vor allem Wohlhabende und Reiche trifft. Man könnte die 19 Milliarden Euro, die er jährlich einbringt, aber auch dazu benutzen, die Kinderarmut zu bekämpfen oder das Wohnungsproblem zu lösen. Für den sozialen Wohnungsbau gibt der Bund nur zwei Milliarden Euro im Jahr aus. Der Markt hat sich jedoch als unfähig erwiesen, genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
In Berlin gibt es eine Initiative, Wohnungsbaugesellschaften zu enteignen.
Über Vergesellschaftungen im Interesse des Gemeinwohls kann man nachdenken, wenn ein Immobilienkonzern Hunderttausende Wohnungen besitzt und damit auch spekuliert. Bisher wurden Menschen nur enteignet, um Autobahnen zu bauen oder um den Braunkohletagebau erweitern zu können.

Ist die soziale Marktwirtschaft ein Trugbild?

Ein sozialerer Kapitalismus ist genauso möglich wie eine andere Variante, die Helmut Schmidt „Raubtierkapitalismus“ genannt hat. In Deutschland gibt es heute 678 000 Wohnungslose, 41 000 Obdachlose und mehr als fünfeinhalb Millionen Hartz-IV-Bezieher. Ich weiß nicht, ob man das als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen kann. Eher handelt es sich um einen Kosenamen für den Finanzmarktkapitalismus unserer Tage.

Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen dazu beitragen, die Spaltung der Gesellschaft zu mildern?

Das wäre eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip. Über allen Bürgern würde derselbe Geldbetrag ausgeschüttet, ganz egal, ob es sich um einen Villenbesitzer am Starnberger See handelt oder um einen, der selbst als Normalverdiener in München keine bezahlbare Wohnung findet. Das ist weder gerecht noch realistisch. Um jedem Bürger tausend Euro pro Monat überweisen zu können, benötigt man eine Billion Euro im Jahr. Das bestehende Sozialversicherungssystem wäre nicht zusätzlich zu finanzieren. Helmut Schmidt hat den Sozialstaat als größte kulturelle Errungenschaft Europas im 20. Jahrhundert bezeichnet. Den aufs Spiel zu setzen wegen eines Grundeinkommens, hielte ich für völlig verfehlt.
Das Interview führte Rainer H. Schlender.

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