„In Deutschland erreicht der Mindestlohn nicht einmal 50 Prozent des Medianlohns, in Frankreich und Bulgarien dagegen über 60 Prozent.“

Sozialstandards

EU-Kommission kritisiert deutschen Mindestlohn als zu niedrig

Peinlich für die deutschen Gewerkschaften und SozialpolitikerInnen

 

von Silke Wettach Wirtschaftswoche

  1. Januar 2020

Die EU-Kommission startet eine Konsultation mit dem Ziel, in allen EU-Ländern einen Mindestlohn einzuführen.

Ein angemessenes Einkommen ist eines der erklärten Ziele von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. In ihrer Initiative, die an diesem Dienstag vorgestellt wird, weist die Kommission auf das Armutsrisiko hin.

„Größere Anstrengungen, wenn es um soziale Fairness und Wohlstand geht“, hat sich Ursula von der Leyen für ihre fünf Jahre an der Spitze der EU-Kommission vorgenommen. Mit diesem Versprechen wurde die frühere deutsche Familienministerin ins Amt gewählt. An diesem Dienstag erfolgt ein wichtiger Schritt hin zu dem, was von der Leyen unter einem sozialen Europa versteht: Die EU-Kommission startet eine Konsultation der europäischen Sozialpartner mit dem Ziel, in allen EU-Ländern einen Mindestlohn einzuführen. „Die Würde der Arbeit ist heilig“, hat von der Leyen angekündigt und gefordert, dass die Mindestlöhne in den Mitgliedsländern einen „angemessenen Lebensstandard“ sichern sollen.

Genau das ist nach Ansicht der EU-Kommission bisher nicht der Fall. In dem Dokument zur Konsultation, das der WirtschaftsWoche vorab vorliegt, betont die EU-Kommission, dass der deutsche Mindestlohn Empfänger in die Bedürftigkeit abrutschen lassen kann. „Zu den Ländern, in denen der Mindestlohn nicht ausreicht, um vor dem Armutsrisiko zu schützen, zählen Länder, in denen der Mindestlohn – gemessen am Median – relativ niedrig ausfällt“, heißt es in dem Dokument, das neben Deutschland auch Tschechien, Estland und Malta als Problemfälle benennt. In Deutschland erreicht der Mindestlohn nicht einmal 50 Prozent des Medianlohns, in Frankreich und Bulgarien dagegen über 60 Prozent.

Die EU-Kommission weist in dem Dokument darauf hin, dass sich das Problem von Armut trotz Arbeit in Deutschland noch verschärft, weil schon bei einem geringen Einkommensniveau ein relativ hoher Steuersatz anfällt. Nur in Ungarn und Italien ist die addierte effektive Steuerlast von Arbeitgeber und -nehmer im Niedriglohnbereich höher als in Deutschland.

EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit wird das Dokument am Dienstag offiziell vorstellen. Nach der zweistufigen Konsultation der Sozialpartner könnte die EU-Kommission noch vor der Sommerpause einen Gesetzesvorschlag für einen Mindestlohn vorstellen. Dabei wird es nicht darum gehen, einen Wert für die gesamte EU festzusetzen. Aber in jedem Land soll ein transparenter Prozess entstehen, in dem ein „angemessenes“ Niveau des Mindestlohns festgelegt wird. Die Initiative soll nach dem Willen der EU-Kommission die Löhne in der EU nach oben anpassen, wodurch einheitliche Wettbewerbsbedingungen in der EU für alle Unternehmen entstehen würden.

Das Arbeitgeberlager steht dem Konzept sehr kritisch gegenüber und verweist darauf, dass 22 von 28 EU-Staaten bereits über einen Mindestlohn verfügen. Die Unternehmen bezweifeln, dass es überhaupt eine Rechtsgrundlage gibt, auf deren Basis die EU bei diesem Thema aktiv werden kann.

Das Gewerkschaftslager begrüßt die Initiative. „Im Zuge der Eurokrise wurden – auch unter Mithilfe der EU-Kommission – nationale Mindestlöhne gedrückt und Lohnverhandlungssysteme geschleift“, sagt Stefan Körzell, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). „Es ist höchste Zeit, diese Fehler zu korrigieren.“ Dänische und schwedische Gewerkschaften zeigen sich allerdings kritisch, weil sie die Lohnfindung nicht von Brüssel beeinflusst sehen wollen.

Die Gewerkschaften wollen die Konsultation nutzen, um von der EU-Kommission auch eine Initiative zur Tarifbindung einzufordern. Zwischen 2000 und 2015 ist die Tarifbindung erheblich zurückgegangen, von 68,5 Prozent auf 59,5 Prozent. In Ländern wie Estland, Litauen und Polen liegt sie bei unter 20 Prozent, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden dagegen bei über 80 Prozent. Ein möglicher Weg wäre, dass die EU-Kommission die Vergabe öffentlicher Aufträge in der EU verpflichtend an die Tarifbindung koppelt. Auch könnte die EU-Kommission beschließen, dass Gelder aus den EU-Fonds nur noch an Unternehmen fließen, die Tariflöhne bezahlen. Bisher ist dies nicht geregelt.

 

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