Lohnungleichheit in Deutschland sinkt – DIW-Wochenbericht

Lohnungleichheit in Deutschland sinkt

  • Durchschnittlich vereinbarter realer Bruttostundenlohn hat zwischen 2013 bis 2018 um mehr als acht Prozent zugelegt
  • Lohnungleichheit nimmt seit 2006 in der unteren Hälfte der Verteilung ab und liegt 2018 wieder auf einem Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre
  • Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor geht von 23,7 Prozent im Jahr 2015 auf 21,7 Prozent im Jahr 2018 zurück
  • Im Jahr 2018 erhalten rund 2,4 Millionen Anspruchsberechtigte nicht den Mindestlohn, wenn der vereinbarte Stundenlohn für die Berechnung herangezogen wird
  • Arbeitszeiten müssen effektiver kontrolliert werden, geplantes Arbeitszeiterfassungsgesetz ist ein wichtiger Schritt.

„Es ist erfreulich, dass sich das Wirtschaftswachstum in Deutschland seit 2013 auch in steigenden Reallöhnen bei den Beschäftigten niederschlägt.“ Markus M. Grabka

Insgesamt war die Entwicklung der realen Bruttostundenlöhne in Deutschland zwischen 2000 und 2012 rückläufig. Dies gilt insbesondere für das untere Segment der Lohnverteilung. Danach ist eine Trendumkehr zu beobachten, wovon insbesondere die Menschen mit niedrigen Löhnen profitieren.info

Die vorliegende Studie aktualisiert bisherige Untersuchungen am DIW Berlin zur Entwicklung realer vereinbarter Bruttostundenlöhne von 1995 bis einschließlich 2018, den derzeit aktuellsten verfügbaren Lohninformationen, die vom im DIW Berlin angesiedelten Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)info in Zusammenarbeit mit Kantar erhoben werden (Kasten). Der Fokus liegt auf der Entwicklung am unteren Rand der Lohnverteilung – ein Thema, das nicht zuletzt mit der Einführung des Mindestlohns in Deutschland im Jahre 2015 für Aufmerksamkeit sorgt.

Betrachtet werden – soweit nicht anders erwähnt – vereinbarte Bruttostundenlöhne abhängig Beschäftigter in Haupttätigkeit. Nicht berücksichtigt werden Selbstständige, Auszubildende, Praktikantinnen und Praktikanten sowie Wehr- und Zivildienstleistende.

Reale vereinbarte Stundenlöhne steigen seit 2013

Der durchschnittliche vereinbarte Bruttostundenlohn hat sich für abhängig Beschäftigte in Haupttätigkeit über den Beobachtungszeitraum von 1995 bis 2018 schwach entwickelt. Von etwa 17,60 Euro im Jahr 1995 stieg er auf 18,20 Euro im Jahr 2003, ging bis 2013 wieder auf rund 16,90 Euro zurück und stieg bis 2018 wieder an auf 18,30 Euro (Abbildung 1). Dies entspricht einem Anstieg von acht Prozent gegenüber 2013. Gemessen am Medianinfo verlief die Entwicklung ähnlich. Zuletzt hat sich der Medianlohn aber etwas dynamischer entwickelt als der Durchschnitt und lag mit rund 16,50 Euro im Jahr 2018info neun Prozent höher als 2013.

Die Entwicklung der realen vereinbarten Bruttostundenlöhne variiert dabei über die Dezile der Lohnverteilung. Diese erhält man, indem man die abhängig Beschäftigten nach der Höhe des vereinbarten Bruttostundenlohns sortiert und sie dann in zehn gleich große Gruppen (Dezile) aufteilt. Der Durchschnittslohn je Dezil ist auf das Jahr 1995 (= 100) normiert, so dass sich daran die prozentuale Veränderung ablesen lässt.

Bei den nachfolgenden Analysen ist zu beachten, dass die Betrachtung von dezilspezifischen Mittelwerten keine Rückschlüsse auf individuelle Lohnverläufe über die Zeit zulässt, da sich aufgrund von Eintritten in den und Austritte aus dem Arbeitsmarkt die einem Dezil zugeordnete Population verändert. Zudem sorgt Lohnmobilität dafür, dass Beschäftigte über die Zeit hinweg unterschiedlichen Dezilen zugeordnet werden. Das heißt, die Personen in einem Dezil sind im Verlauf der Zeit nicht unbedingt identisch.

Seit dem Jahr 1995 haben sich die Stundenlöhne nach Dezilen insbesondere bis 2008 deutlich auseinanderentwickelt (Abbildung 2). Dazu beigetragen haben vor allem Reallohneinbußen in der unteren Hälfte der Lohnverteilung, die unter anderem daraus resultieren, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Hartz-Reformen flexibilisiert wurde. Seit 2013 entwickeln sich über alle Dezile hinweg die Reallöhne positiv.info Mit der Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Jahr 2015 (8,50 Euro pro Stunde) steigen die Stundenlöhne im ersten Dezil von 2014 bis 2016 überdurchschnittlich an.info Allerdings führt die erstmalige Anhebung des Mindestlohns im Jahr 2017 auf 8,84 Euro pro Stunde nicht zu einem weiteren Lohnanstieg im ersten Dezil. Eine mögliche Erklärung könnte methodisch bedingt sein. In den SOEP-Daten von 2017 wurden erstmals auch Personen mit einem Fluchthintergrund berücksichtigt, um die Migrationsbewegung nach Deutschland in der jüngeren Vergangenheit abzubilden. Diese Gruppe dürfte unterdurchschnittliche Stundenlöhne aufweisen. Von 2017 auf 2018 steigen die Stundenlöhne im untersten Lohndezil dann wieder an.

Insgesamt zeigt sich, dass seit dem Jahr 2013 alle Lohnsegmente von der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Form steigender Reallöhne profitieren. Allerdings liegen 2018 gerade in den unteren Dezilen die Reallöhne immer noch unter dem Niveau der 1990er Jahre. Lediglich in der oberen Hälfte der Lohnverteilung steigen die realen Löhne von 1995 bis 2018 zwischen fünf (fünftes Dezil) und elf Prozent (achtes Dezil) über den Zeitraum 1995 bis 2018.

Ungleichheit der Stundenlöhne in der unteren Hälfte der Lohnverteilung seit 2006 klar rückläufig

Die Verteilung der vereinbarten Bruttostundenlöhne kann mittels verschiedener Maßzahlen beschrieben werden. Hier werden drei Perzentilverhältnisse (90:10, 50:10 und 90:50) verwendet. Diese beschreiben das Lohnverhältnis der Person mit dem geringsten Verdienst aus dem jeweils höheren Perzentilinfo und der Person mit dem höchsten Verdienst aus dem jeweils unteren Perzentil. Das 90:10-Perzentilverhältnis gibt damit an, um wieviel mehr der obere Rand der Lohnverteilung im Vergleich zum unteren Rand verdient. Das 50:10-Perzentilverhältnis beschreibt die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung, also zwischen dem untersten Rand und der Mitte (Median), das 90:50-Perzentilverhältnis das des oberen Rands zur Mitte.

Die Ungleichheit des vereinbarten Bruttostundenlohns ist gemessen am 90:10-Perzentilverhältnis seit Mitte der 1990er Jahre von etwa 3,3info auf vier im Jahr 2006 gestiegen (Abbildung 3). Dies ist, wie der deutliche Anstieg des 50:10-Perzentilverhältnisses belegt, einer steigenden Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung geschuldet. Zwischen 2006 und 2014 stagniert das 90:10-Perzentilverhältnis und ist danach rückläufig.info Damit liegt das Verhältnis 2018 mit 3,55 wieder auf dem Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre.

Die Entwicklung des 50:10-Perzentilverhältnisses zeigt, dass die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung im Jahre 2006 ihren Höhepunkt erreicht hat und seitdem klar rückläufig ist. So geht das Verhältnis von 2,18 im Jahr 2006 um rund zwölf Prozent auf 1,91 im Jahr 2018 zurück. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang von 2014 auf 2015 – also parallel zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.info

In der oberen Hälfte der Verteilung (90:50) steigt die Lohnungleichheit auch nach 2006 und sinkt erst 2013.

Anzeichen für ein Schrumpfen des Niedriglohnsektors

Über den Niedriglohnsektorinfo wird in Deutschland intensiv und kontrovers diskutiert. Einerseits wird argumentiert, der über die Arbeitsmarktflexibilisierungen vergrößerte Niedriglohnsektor helfe, mehr Arbeits- und Erwerbslose in Beschäftigung zu bringen. Andererseits wird kritisiert, dass viele Beschäftigte im Niedriglohnbereich keine auskömmlichen Erwerbseinkommen erzielen, auf Lohnersatzleistungen angewiesen sind und perspektivisch ein hohes Alters- armutsrisiko haben.

Beschäftigte werden dem Niedriglohnsektor zugeordnet, wenn sie weniger als zwei Drittel des Medians des vereinbarten Stundenlohns erhalten. Die Niedriglohnschwelle lag auf Basis der SOEP-Daten im Jahr 2018 für Hauptbeschäftigungen bei nominal rund 11,40 Euro brutto pro Stunde.

Mitte der 1990er Jahre liegt der Anteil abhängig Beschäftigter in Haupttätigkeit mit einem Niedriglohn bei rund 17 Prozent (Abbildung 4). Seit 1997 weitet sich dieser Anteil stark aus und erreicht einen Höchstwert von 23,8 Prozent im Jahr 2007. Seit 2015 schrumpft der Niedriglohnsektor: So ist der Anteil der abhängig Beschäftigten in Haupttätigkeit von 23,7 im Jahr 2015 auf 21,7 Prozent im Jahr 2018 zurückgegangen.info

Weiterhin hohe Zahl von Anspruchsberichtigten, die nicht den Mindestlohn erhalten

Die Frage ist nun, inwiefern die Stundenlöhne der abhängig Beschäftigten dem 2015 eingeführten Mindestlohn entsprechen. Die internationale Literatur spricht von Non-Complianceinfo, wenn anspruchsberechtigte Beschäftigte Löhne erhalten, die unter dem Mindestlohn liegen, also 2018 unter 8,84 Euro. info Die Nichteinhaltung des Mindestlohns lässt sich mit den SOEP-Daten für drei Lohnkonzepte bestimmen.

Zum einen lassen sich die Stundenlöhne unter Verwendung der von den Befragten angegebenen Monatsentgelte und Arbeitszeiten berechnen. Hierbei können wiederum vereinbarte und tatsächliche Arbeitszeiten, die auch Überstunden umfassen, verwendet werden. Je nach Stundenkonzept ergibt sich so ein berechneter vereinbarter beziehungsweise tatsächlicher Stundenlohn. Bei beiden berechneten Lohnkonzepten ergibt sich eine Unschärfe daraus, dass Entgelte und Arbeitszeiten für verschiedene Perioden gemessen werden: Während die Entgelte auf den letzten Monatslohn bezogen sind, bezieht sich die Abfrage der Arbeitszeit auf eine Woche. Hier wird angenommen, dass die Wochenarbeitszeit multipliziert mit 4,33 der Monatsarbeitszeit entspricht. Bei den tatsächlichen Stundenlöhnen ist ferner zu beachten, dass sich nicht abschließend klären lässt, inwiefern geleistete Überstunden heute oder zu einem späteren Zeitpunkt entgolten werden. Damit sind die Angaben zur Non-Compliance mit Unsicherheiten behaftet und ihr Wert auf Grundlage des tatsächlichen Stundenlohns ist als eine obere Grenze zu interpretieren.

Zum anderen lassen sich die Direktangaben der Befragten zu ihren Stundenlöhnen zu Grunde legen. Im Jahr 2018 wurde dabei nach dem tatsächlichen Stundenlohn gefragt. Die Direktabfrage hat den Vorteil, dass keine Annahme über den Zusammenhang zwischen Wochen- und Monatsarbeitszeit getroffen werden muss. Allerdings hat auch die Direkt- angabe Schwächen, insbesondere da die Befragten selbst den Stundenlohn in der Befragungssituation nur annähernd abschätzen können, zum Beispiel wenn keine Stundenlohnvereinbarung mit dem Arbeitgeber vorliegt.

Je nach Lohnkonzept schwankt die gemessene Non-Compliance mit dem Mindestlohn in Hauptbeschäftigungen. Im Jahr 2018 liegt sie bei der Direktabfrage bei 750 000, beim vereinbarten berechneten Stundenlohn bei mehr als 2,4 Millionen und beim tatsächlichen berechneten Stundenlohns bei knapp 3,8 Millionen anspruchsberechtigten Beschäftigten (Tabelle). Der Anteil der Anspruchsberechtigten, die unterhalb des Mindestlohns entlohnt werden, variiert damit zwischen 2,1 Prozent über 6,8 Prozent bis hin zu 10,6 Prozent auf Grundlage des tatsächlichen berechneten Stundenlohns.info Diese hohe Bandbreite ist der Problematik geschuldet, dass keine der in Deutschland zur Messung von Non-Compliance verwendeten Datensätze originär hierfür konzipiert wurde.

Tabelle: Anspruchsberechtigte Beschäftigte mit Stundenlöhnen unter dem gesetzlichen Mindestlohn 2018

In Millionen und in Prozent aller abhängig Beschäftigten nach verschiedenen Lohnkonzepten

2,5-Prozent-Konfidenzintervall Punktschätzer 97,5-Prozent-Konfidenzintervall
Haupttätigkeit
in Millionen nach berechnetem vereinbartem Stundenlohn 2,197 2,416 2,65
in Prozent 6,2 6,8 7,5
in Millionen nach berechnetem vereinbartem Stundenlohn 3,467 3,76 4,064
in Prozent 9,9 10,6 11,4
in Millionen nach Stundenlohn (direkte Angabe) 0,624 0,745 0,896
in Prozent 1,8 2,1 2,5
Nebentätigkeiten
in Millionen nach berechnetem vereinbartem Stundenlohn 0,543 0,665 0,795
in Prozent 28,0 32,7 38,0

Anspruchsberechtigte Beschäftigte in Privathaushalten.

Quellen: SOEPv35; eigene Berechnungen.

Letztlich kann auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns in Nebentätigkeiten untersucht werden: Dies geschieht auf Grundlage des berechneten tatsächlichen Stundenlohns.info Im Jahr 2018 wurden demnach 670 000 anspruchsberechtigte Beschäftigte in ihrer Nebentätigkeit unterhalb des Mindestlohns entlohnt.info

Fazit: Gesetz zur Arbeitszeiterfassung zügig umsetzen

Die Beschäftigungsrekorde der vergangenen Jahre spiegeln sich seit dem Jahr 2013 auch in steigenden vereinbarten realen Bruttostundenlöhnen wider. Seit 2006 geht zudem die Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung zurück und seit 2015 gibt es auch Anzeichen für einen Rückgang der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor, die sich vor allem in den beiden unteren Lohndezilen befinden.

Dass sich im untersten Segment der Lohnverteilung die Stundenlöhne seit 2015 deutlich dynamischer entwickelt haben als in den Jahren zuvor, ist vor allem der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 geschuldet.info Dennoch erhalten laut SOEP im Jahr 2018 zumindest nach dem berechneten vereinbarten Bruttostundenlohn rund 2,4 Millionen anspruchsberechtige Beschäftigte in ihrer Haupttätigkeit einen Lohn, der unterhalb der Mindestlohnschwelle von 8,84 Euro liegt.

Da die meisten Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber Monats- und keine Stundenlöhne vereinbart haben, ist es für eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zentral, die Arbeitszeiten präzise zu erfassen. Bemühungen in diese Richtung unternimmt derzeit das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit einem Gesetzentwurf, der ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung aufgreift. Demnach sind alle Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Der Gesetzentwurf sollte nicht nur die genaue Erfassung der bezahlten Arbeitszeit regeln, sondern auch die unbezahlten Überstunden in den Blick nehmen, die nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) ungefähr die Hälfte der Überstunden ausmachen.info Würde die Umsetzung eines solchen Gesetzentwurfs dazu beitragen, unbezahlte in bezahlte Überstunden zu überführen, dürfte damit auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns zurückgehen. Das BMAS sollte daher zügig an der Umsetzung eines Gesetzentwurfs arbeiten, der klare Regelungen zur Vermeidung unbezahlter Mehrarbeit enthält.

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