„Zwei-Klassen-System“ in der Grundsicherung: Es gilt befristet: Ein vereinfachtes Antragsverfahren und die Anlagen für selbständig Tätige sind deutlich vereinfacht worden.

Der „vereinfachte Zugang“ zur Grundsicherung nach SGB II wird verlängert – (vorerst) bis zum 30. September 2020

»Der Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, der Hilfe zum Lebensunterhalt und zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie zur existenzsichernden Leistung nach dem Bundesversorgungsgesetz wurde bereits mit dem Sozialschutz-Paket I erleichtert. Ursprünglich waren diese Regelungen bis 30. Juni 2020 begrenzt. Doch die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind weiterhin erheblich. Deshalb hat das Bundeskabinett heute die entsprechenden Regelungen bis zum 30. September 2020 verlängert«, so das zuständige Bundesarbeitsministerium in einer Pressemitteilung vom 17. Juni 2020 unter der Überschrift Kabinett verlängert vereinfachten Zugang zur Grundsicherung.

»Die Erleichterungen in der Vereinfachter-Zugang-Verlängerungsverordnung (VZVV) betreffen insbesondere die befristete Vereinfachung der Vermögensprüfung, die befristete Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie Vereinfachungen bei der Bewilligung einer vorläufigen Entscheidung«, so das BMAS.

Diese Erleichterungen galten bislang für alle Anträge, die im Zeitraum zwischen dem 1. März und 30. Juni 2020 gestellt wurden oder noch werden. Und diese Frist wird nun nach hinten verlängert.

Mit diesem Schritt wollte man vor allem einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung für die vielen (Solo-)Selbstständigen schaffen, denen durch den Lockdown von einem Moment auf den anderen die Geschäftsgrundlagen entzogen wurden.

➔ Vgl. dazu ausführlicher: Alexander S. Kritikos, Daniel Graeber und Johannes Seebauer (2020): Corona-Pandemie wird zur Krise für Selbständige. DIW aktuell Nr. 47, 12.06.2020: »Durch den Nachfrageausfall in Folge der Corona-Krise haben viele Selbständige ihre Einkommensgrundlage – zumindest vorübergehend – teilweise oder sogar vollständig verloren. Rund 60 Prozent unter ihnen beklagen Einkommensverluste, während es bei den abhängig Beschäftigten etwa 15 Prozent sind. Rund die Hälfte der von der Krise negativ betroffenen Selbständigen verfügt nur für maximal drei Monate über Liquiditätsreserven. Gleichzeitig erhalten Selbständige relativ wenig direkte staatliche Unterstützung, um ihre Einkommensausfälle auszugleichen. Entsprechend besorgt sind viele von ihnen um ihre eigene wirtschaftliche Situation. Der Vergleich mit den abhängig Beschäftigten veranschaulicht, dass die Corona-Krise auch eine Krise für die Selbständigen ist.«

Dazu hat man gleichsam eine Art „Zwei-Klassen-System“ in der Grundsicherung geschaffen. Denn für Neuanträge gilt befristet: Ein vereinfachtes Antragsverfahren und die Anlagen für selbständig Tätige sind deutlich vereinfacht worden. Die privaten Mietkosten werden für den Ausnahmezeitraum nicht in Frage gestellt, sondern (bei generellem Leistungsanspruch) in voller Höhe übernommen – bislang und für die Bestandskunden gilt, dass nur die „angemessenen“ Kosten der Unterkunft übernommen wird, was dazu führt, dass viele Hartz IV-Empfänger nicht-gedeckte Mietkosten aus den Leistungen für den existenzminimalen Regelbedarf querfinanzieren müssen. Eine Vermögensprüfung findet während der Antragstellung nicht statt, sofern der Antragsteller erklärt, dass kein „erhebliches Vermögen“ besteht.

Einige ahnen an dieser Stelle schon, was passiert, wenn mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie „erhebliches Vermögen“ gearbeitet wird („angemessene Kosten der Unterkunft“ ist ebenfalls ein unbestimmter Rechtsbegriff und damit Ausgangspunkt für viele Widersprüche und Klagen im SGB II). Wie viel ist „erheblich“? Alle sofort verwertbaren Mittel über 60.000 Euro, so die Antwort aus dem System. Hört sich eindeutig an, aber was sind „sofort verwertbare Mittel“?

Exkurs: Vom schnellen und unbürokratischen Ansatz einer vorübergehenden Nicht-Berücksichtigung von Vermögen und der dann doch wieder komplizierteren Realität:

»§ 67 Abs. 2 SGB II schafft hinsichtlich der Prüfung des anzurechnenden bzw. eine Hilfebedürftigkeit ganz ausschließenden Vermögens (§§ 9, 12, 19 Abs. 3 SGB II) ein vereinfachtes Verfahren. Vermögen wird danach für die Dauer von sechs Monaten grundsätzlich überhaupt nicht berücksichtigt. Die Sonderregelung soll sicherstellen, dass die betroffenen Personen angesichts des nur vorübergehenden Leistungsbezugs nicht zunächst ihre Ersparnisse aufbrauchen müssen. Zugleich gewährleistet sie, dass sich die Leistungsbewilligung nicht durch die häufig zeitaufwändige Prüfung der Vermögensverhältnisse verzögert.«

Soweit die gute Absicht. Aber:

»Diese Privilegierung gilt nicht für Fälle „erheblichen“ Vermögens. Das Prüfungsverfahren soll sich regelmäßig auf eine Erklärung des Antragstellers beschränken, nicht über entsprechende Vermögenswerte zu verfügen. Die erleichterte Vermögensprüfung im Wege der Eigenerklärung des Antragstellers gilt auch für das Vermögen der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Aus dem Gesetz ergibt sich nicht, wann von einem „erheblichen“ Vermögen auszugehen ist; es handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die von der BA vorgegebene Orientierung an der Verwaltungsvorschrift zu § 21 WoGG (60.000 Euro für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied und 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied) erscheint plausibel, ist aber nicht zwingend. Denn dieselbe Formulierung wird u.a. in §141 SGBXII verwandt, wobei die Vermögensfreibeträge im Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII deutlich niedriger sind. Letztlich ist eine funktionsdifferenzierte Auslegung geboten. Im Sozialhilferecht wird die Erheblichkeitsschwelle dementsprechend bereits mit 25.000 Euro beziffert (§66a SGB XII).«

Also doch ganz einfach – man erklärt einfach, dass man über kein erhebliches Vermögen verfügt. Oder?

»Gesetzestechnisch wird die Vermutung aufgestellt, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn dies im Antrag so erklärt wird. Die Vermutung ist als widerlegbar einzustufen, da es dem Leistungsträger nicht zugemutet wird, sehenden Auges eine rechtswidrige Leistungsbewilligung auszusprechen. Der Behörde stehen daher Erhebungen zu den Vermögensverhältnissen (§20 SGBX) nicht nur offen, wenn eine entsprechende Erklärung verweigert wird, sondern auch dann, wenn Anhaltspunkte für eine wahrheitswidrige Verneinung erheblichen Vermögens bestehen. Die Feststellungs- bzw. Beweislast unterscheidet sich in diesen Konstellationen entsprechend der Zielsetzung der Amtsermittlung. Sie liegt im ersten Fall bei dem Antragsteller; im zweiten Fall hat der Leistungsträger die Existenz leistungsrechtlich relevanten Vermögens nachzuweisen.«

(Quelle: Martin Kellner (2020): Das vereinfachte Verfahren des Sozialschutz-Pakets in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 67 SGB II, in: Neue Justiz, Heft 5/2020, S. 213-214)

Dennoch muss man konstatieren, dass die einzelnen Komponenten des vereinfachten Zugangs zur Grundsicherungsleistungen nach SGB II eine „Besserstellung“ der Neuzugänge gegenüber den „Altfällen“ darstellen (wobei die Frage, welche vorübergehenden Erleichterungen für Bestandsfälle gelten oder nicht, offensichtlich nicht abschließend geklärt ist, so beispielsweise Kellner 2020: 214).

Allerdings sollte man eines nicht vergessen: Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ist eine bedürftigkeitsabhängige Leistung und die Prüfung der Bedürftigkeit ist nicht aufgehoben. Und bei der Bedürftigkeitsprüfung wird nicht (nur) der einzelne Antragsteller geprüft, sondern die „Bedarfsgemeinschaft“, wenn er oder sie mit jemanden zusammenlebt. Das wird dazu führen, dass in nicht wenigen Fällen kein Anspruch auf Hartz IV-Leistungen bestehen wird, auch wenn der einzelne in einer existenziellen Notlage ist.

Für diejenigen, deren Existenz durch die Grundsicherungsleistungen gesichert werden kann, ist die nunmehr vom Bundeskabinett beschlossene Verlängerung des vereinfachten Zugangs sicher eine Erleichterung. Allerdings bleibt ein ganz großer Makel: Für die vielen Millionen Leistungsempfänger wird es auch weiterhin – nicht einmal befristet und in einer wirklich überschaubaren Größenordnung von 100 Euro pro Monat – keinen Zuschlag zu den mehr als knapp bemessenen Leistungen für den Regelbedarf geben. Vgl. dazu der Bericht über die frustrierenden Erfahrungen im Zuge der Sozialschutz-Paket II-Gesetzgebung in diesem Beitrag vom 12. Mai 2020: Am ausgestreckten Arm … Die Bundesregierung und der Nicht-Zuschlag für Menschen in der Grundsicherung. Die bleiben beim Sozialschutz-Paket II weiter außen vor.

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