Mehr als jeder fünfte abhängig Beschäftigte in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor. Das ist auch im europäischen Vergleich ein exorbitant hoher Wert.

Niedrige Löhne

Einmal Geringverdiener, immer Geringverdiener

Frankfurter Rundschau, 2.7.2020

Mehr als jeder fünfte abhängig Beschäftigte in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor. Das ist auch im europäischen Vergleich ein exorbitant hoher Wert. Experten fordern Reformen.

Da ist was faul in der Arbeitswelt: Der Niedriglohnsektor entpuppt sich für viele Beschäftigte als Sackgasse. Zumal inzwischen ganze Branchen ihre Geschäftsmodelle auf der mageren Bezahlung aufbauen – dabei handelt es sich häufig ausgerechnet um Jobs, die in der Corona-Krise als systemrelevant erkannt wurden. Das alles zeigt eine aktuelle Studie, die die Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben hat.

Am heftigsten betrifft es derzeit die sogenannten Minijobberinnen: Das sind Frauen und Männer, die für maximal 450 Euro im Monat oder höchstens für drei Monate im Jahr arbeiten und kaum Sozialabgaben zahlen. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld von der Arbeitsagentur, mit dem sich derzeit mehrere Millionen Beschäftigte über Wasser halten. Sie würden als Erste Einkommenseinbußen erleiden oder ihre Arbeit verlieren, erläutert Jörg Dräger, Vorstand der Stiftung. Schon im März gab es denn auch für diese Gruppe einen drastischen Beschäftigungsrückgang im Vergleich zum Vorjahresmonat. In Haushalten mit geringen Einkommen breche damit ein erheblicher Teil der Einnahmen weg, so die Bertelsmann-Stiftung.

Minijobber arbeiten vielfach im Einzelhandel, in der Nahrungsmittelindustrie, in der Transportbranche, aber auch im Sozial- und Gesundheitswesen. Das sind alles Sparten, deren Bedeutung für die Versorgung und den Schutz der Menschen in der Corona-Krise besonders deutlich wurde: Systemrelevant ist die vielfach zitierte Bezeichnung. Ausgerechnet in diesen Wirtschaftssektoren wird ein besonders hoher Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen bezahlt. 29 Prozent sind es laut der Studie, die von einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) erstellt wurde.

Insgesamt mussten 2018 bundesweit 7,7 Millionen Arbeitnehmer mit den mageren Entgelten zurechtkommen, das sind knapp 22 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Bei Frauen lag der Anteil bei 27,5 Prozent, bei Männern bei 16,2 Prozent. Diese Werte liegen nicht nur deutlich über dem Durchschnitt der EU-Länder. Kein anderes europäisches Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung kommt auf ein auch nur ähnliches Ausmaß des Niedriglohnsektors.

Dass es so weit kommen konnte, hat mit der hohen Arbeitslosigkeit in den Jahren nach der Jahrtausendwende zu tun. Die damalige Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) setzte eine Reihe von radikalen Arbeitsmarktreformen durch. Unter anderem wurden gezielt die Voraussetzungen für eine Ausweitung des Niedriglohnsektors geschaffen – bei 11,40 Euro pro Stunde lag für das Bezugsjahr der Untersuchung (2018) die Schwelle zum Niedriglohn, das ist ein Drittel weniger als der mittlere Bruttolohn in Deutschland.

Ziel war es einst, vor allem Menschen mit geringer Qualifizierung wieder in Lohn und Brot zu bringen. Das gelang dann auch, allerdings mit heftigen Nebenwirkungen. Große Lebensmittelhändler etwa machten vielfach aus einem Vollzeitjob, für den die kompletten Sozialabgaben gezahlt wurden, mehrere Minijobs, mit denen die Personalkosten deutlich gedrückt und die Gewinne gesteigert werden konnten. Für die Beschäftigten gibt es aber keine Absicherung bei Arbeitslosigkeit und erheblich reduzierte Rentenansprüche.

Zudem haben die Autorinnen der Studie herausgefunden, dass nicht nur für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose, sondern auch immer mehr für qualifizierte Tätigkeiten weniger als die 11,40 Euro gezahlt werden. Inzwischen könnten 70 Prozent der Niedriglöhner einen beruflichen Bildungsabschluss vorweisen, und vier von zehn verfügten über mittlere und sogar hohe Qualifikationen (bis hin zum Universitätsabschluss) – das sind enorme Werte im internationalen Vergleich. Auch dieser Mechanismus bringt für die Unternehmen vor allem eines: Gewinnsteigerungen.

Die Vorstellung, dass es einen Aufstieg aus der Welt mit der dürftigen Bezahlung gibt, hat sich für die Hälfte der Beschäftigten auch nach vier Jahren noch nicht erfüllt. Frauen und Arbeitnehmer im Osten der Republik sind davon überdurchschnittlich stark betroffen. Knapp 30 Prozent der abhängig Beschäftigten in Ostdeutschland arbeiten im Niedriglohnsektor – im Westen sind es 19,7 Prozent. Nur gut einem Viertel – meist Jüngeren – ist der Sprung in die höheren Gehaltsklassen gelungen. Bei älteren Beschäftigen ist es nur noch einer von fünf. „Niedrige Löhne dienen nicht mehr dem bloßen Einstieg in den Arbeitsmarkt, sondern sind häufig ein Dauerzustand. Sie sind dann kein Sprungbrett, sondern eine Sackgasse“, betont Dräger.

Die Stiftung bezeichnet die Bedingungen als „gesellschaftliche Missstände“. Um den Arbeitsmarkt „resilienter“ zu machen, gelte es deshalb, schlecht abgesicherte Beschäftigungsformen – wie die Minijobs – zurückzudrängen. Denkbar wäre, die Schwelle von derzeit 450 auf 250 Euro abzusenken, „um Anreize zur Umwandlung von Minijobs in reguläre Beschäftigung zu setzen“. Da stellt sich allerdings die Frage, ob stattdessen dann Minijobs noch einmal in Mini-Minijobs zerlegt werden, womit nichts gewonnen wäre.

Das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsforschungsinstitut IMK war jedenfalls schon im vorigen Jahr konsequenter: „Die Förderung geringfügiger Teilzeitbeschäftigung ohne soziale Sicherung ist ökonomisch nicht zu rechtfertigen, deshalb sollten geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs) abgeschafft werden“, heißt es in einer Studie.

Die Stiftung macht sich indes auch Forderungen von Gewerkschaften zu eigen und verlangt eine „stärker wirksame Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen“. Damit können Mindestlöhne für ganze Branchen durchgesetzt werden. Und schließlich brauche es eine stärkere Kontrolle zur Einhaltung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, „um die systematischen Verstöße einzudämmen“. Und in der Hoffnung, dass so auch das Gehaltsniveau im Niedriglohnsektor steigt. Laut Bertelsmann-Studie erhalten 2,4 Millionen Arbeitnehmer hierzulande weniger, als ihnen per Gesetz zusteht.

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