Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen

Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen

Wir werden uns alle an den März und April dieses Jahres erinnern, an die Bilder aus Bergamo und aus Spanien, die sicher ganz wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass „damals“ so gut wie alle Menschen das Abwürgen weiter Teil des ökonomischen und sozialen Lebens akzeptiert haben, dass die Verhaltensauflagen angenommen und befolgt wurden. Und auch wenn man bekanntlich hinterher immer schlauer ist – „damals“ war die Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, hierbei vor allem der im Fokus stehenden Intensivstationen in den Krankenhäusern, real und beherrschend. Und neben den steigenden Fallzahlen insgesamt wurde auch über zahlreiche an oder mit Corona gestorbenen Menschen berichtet, wobei es oftmals um ältere Menschen ging.

»Aber nun wird immer deutlicher und schmerzhafter erkennbar, dass Einrichtungen und Dienste für die verletzlichsten „Risikogruppen“ in diesen Tagen der tödlichen Bedrohung durch das Coronavirus offen wie ein Scheunentor gegenüberstehen: die ambulanten Pflegedienste und die Pflegeheime«, so eine Situationsbeschreibung, die man in diesem Beitrag findet, der am 29. März 2020 veröffentlicht wurde: Aus den Untiefen der Verletzlichsten und zugleich weitgehend Schutzlos-Gelassenen: Pflegeheime und ambulante Pflegedienste inmitten der Coronavirus-Krise. Und dann folgte eine Aufzählung einiger Schreckensmeldungen aus deutschen Pflegeheimen. Und die wurden mit Bildern in die Wohnstuben der Bevölkerung getragen: »In einem Wolfsburger Pflegeheim sind 15 Menschen, in einem Würzburger Seniorenstift 13 Menschen am Corona-Virus gestorben. Die Mitarbeiter kämpfen gegen eine Zuspitzung der Lage, doch Alten- und Pflegeheime sind dem Virus oft fast schutzlos ausgeliefert«, so beispielsweise ein kurzer Beitrag in der ZDF-Nachrichtensendung „heute journal“ am 29. März 2020.

Foto: Screenshot aus dem Beitrag „Corona in Alten- und Pflegeheimen“, heute journal (ZDF) am 29.03.2020

»Traurige Berühmtheit erlangte das Hans-Lilje-Heim im niedersächsischen Wolfsburg. Dort starben über 40 Menschen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Aber auch mehrere Heime in Bayern hatten während der ersten Corona-Welle viele Tote zu beklagen«, so dieser Bericht vom 6. August 2020: Coronavirus fordert viele Opfer in Bayerns Pflegeheimen. Und dort findet man diesen Hinweis: »Die Hälfte der bisherigen Corona-Toten in Deutschland lebte in Seniorenheimen. Das hat die Universität Bremen herausgefunden.«

Mitte Juni 2020 wurden die Ergebnisse einer Forschergruppe unter Leitung von Karin Wolf-Ostermann und Heinz Rothgang von der Universität Bremen veröffentlicht. Die haben eine bundesweite Online-Befragung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen durchgeführt. Befragungsdaten von 824 Pflegeheimen, 701 Pflegediensten und 96 teilstationären Einrichtungen wurden dabei analysiert.

➔ Karin Wolf-Ostermann und Heinz Rothgang (2020): Zur Situation der Langzeitpflege in Deutschland während der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer Online-Befragung in Einrichtungen der (teil)stationären und ambulanten Langzeitpflege, Bremen: Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) und SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, Juni 2020

Diese Studie hat erschreckenden Befunde zu Tage gefördert:

Zu den Pflegebedürftigen: Wenn man die Befragungsergebnisse hochrechnet, »zeigt sich, dass rund 60 Prozent aller Verstorbenen von Pflegeheimen oder Pflegediensten betreute Pflegebedürftige sind, wobei deren Anteil an allen infizierten Personen nur insgesamt 8,5 Prozent beträgt. Pflegeheime sind damit der wichtigste Ort in Bezug auf mit COVID-19 Verstorbenen. Hier treten die Hälfte aller Todesfälle auf, obwohl nur knapp ein Prozent der Bevölkerung in dieser Wohnform lebt. Die Sterblichkeit unter Pflegebedürftigen ist somit mehr als fünfzigmal so hoch wie im Rest der Bevölkerung.«

Aber es gibt auch erhebliche Unterschiede zwischen den Pflegeheimen, denn »knapp 80% der Heime haben keine bestätigten COVID-19 Fälle. Die direkte Betroffenheit konzentriert sich also auf wenige Einrichtungen, die dann aber in der Regel stark betroffen sind. Auffallend ist auch, dass insbesondere kleinere Heime einen deutlich höheren Anteil an infizierten und verstorbenen Bewohner*innen mit COVID-19 berichten als größere« (Wolf-Ostermann/Rothgang 2020: 9). Man kann also nicht sagen, dass „alle Pflegeheime“ betroffen waren/sind, sondern wir haben es hier mit einer hoch konzentrierten Verteilung zu tun.

Zu den Pflegekräften: Hohe Infektionsraten zeigten sich auch für das Pflegepersonal. Der Anteil infizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei in ambulanten Pflegediensten doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung, in stationären Einrichtungen sogar sechsmal so hoch, so die Autoren der Studie. Dennoch hätten drei Fünftel der Pflegedienste und drei Viertel der Pflegeheime noch keinen COVID-19-Fall zu verzeichnen.

Das hat(te) Folgen: »Von einem Corona-bedingten Personalausfall von bis zu 10 % berichten etwa die Hälfte aller Pflegedienste und mehr als zwei Drittel aller der Pflegeheime, bei einem Sechstel der Pflegeheime liegt der Personalausfall sogar bei mehr als 10 %. Materialengpässe in Bezug auf persönliche Schutzausrüstungen für Mitarbeitende oder Flächendesinfektionsmittel waren ursprünglich sehr groß – so hatten die Hälfte aller Pflegedienste und Pflegeheime während der Pandemie Probleme, ausreichend persönliche Schutzausrüstungen für Mitarbeitende zu bekommen.« (Wolf-Ostermann/Rothgang 2020: 9).

Die Bewohner von Pflegeeinrichtungen wiesen in der Spitze der ersten Phase der Corono-Pandemie in Deutschland bis zu 400 täglich gemeldete Neuinfektionen auf.

An diesen wenigen Zahlen wird deutlich: Nicht nur wir als Bürger, sondern natürlich auch die Politik, die Verantwortlichen in den Heimen und Pflegediensten sowie die Menschen, die dort arbeiten, waren in der ersten Phase Gefangene der überall präsenten Bilder und der im Sekundentakt einlaufenden Schreckensmeldungen sowie der damals vorherrschenden Erwartung, dass es auch bei uns eine große Welle an behandlungsbedürftigen und in der Folge auch sterbenden Erkrankten geben wird. Und die Schockbilder aus einigen Pflegeheimen gerade in der Anfangszeit der Pandemie haben dazu beigetragen, dass man in der Not der Situation das getan hat, was unausweichlich erschien: Man hat gerade die Orte, an denen es viele besonders schutzbedürftige Menschen aus den Risikogruppen gab und gibt, also die Pflegeheime, geschlossen, um sie nach außen abzuschotten, um die Bewohner zu schützen.

Geschlossene Pflegeheime und die Ausgelieferten in und vor den Heimen

Man muss uneingeschränkt verstehen, dass die angstgetriebene Abschottung der Einrichtungen nach außen in der damaligen Phase, auf der Basis des damals vorhandenen Wissens „alternativlos“ daherkam – was sollte ein Heimbetreiber denn anderes machen? Und man hatte angesichts der chaotischen Rahmenbedingungen (man denke hier nur an die zahlreichen Klagen über zu wenig oder gar nicht vorhandenes Schutzmaterial – für die Pflegekräfte wohlgemerkt) auch keine Zeit, über eine partout nicht beseitigbare Schwäche des Abschottungskonzepts als zentrale Schutzmaßnahme nachzudenken – denn man konnte zwar die Angehörigen (oder auch von außen kommende Therapeuten) ausschließen, nicht aber die vielen Mitarbeiter, die natürlich rein und raus müssen und damit zu einer, wenn nicht der zentralen „Risikoquelle“ für die Bewohner wurden.

➔ Und das hat zusätzlich zu den außergewöhnlichen Anforderungen wie ein Mühlstein viele Pflegekräfte belastet – die dann selbst so was zu hören bekamen: »Die Pflegekräfte … bekommen im wahrsten Sinne des Wortes die Botschaft mit auf den Weg gegeben, dass sie durchhalten sollen, bis zum Ende. Dass sie anders behandelt werden als „normale“ Menschen, wenn die infiziert sind. So wurde bereits am 23. März 2020 berichtet: RKI lockert Quarantäne-Emp­fehlungen für medizinisches Personal: »Das Robert-Koch-Institut hat seine Empfehlungen für COVID-19-Kontaktpersonen unter medizinischem Personal an Situationen mit relevantem Personalmangel angepasst.« Man kann auch sagen: Man kapituliert ein Stück weit vor dem Personalmangel, der sich durch die normalen Quarantäne-Vorschriften noch potenzieren würde. „Medizinisches Personal muss künftig nach engem ungeschützten Kontakt zu COVID-19-Erkrankten nicht mehr so lange in Quarantäne und darf bei dringendem Bedarf in Klinik oder Praxis arbeiten, solange keine Symptome auftreten“, so wird RKI-Präsident Lothar Wieler in dem Artikel zitiert. Diese Botschaft haben übrigens die Pflegekräfte in den von Todesfällen betroffenen Pflegeheimen … auch bekommen, so in Niedersachsen, wo die Ministerin ausgeführt hat, die infizierten Pflegekräfte sollten mit den Infizierten Bewohnern auf einer separaten Station arbeiten. Man sollte die Signalwirkung der Verunsicherung und Beunruhigung bei den betroffenen Pflegekräften (und denen, die sich das „anziehen“), nicht unterschätzen. Und man sollte durchaus nachdenklich die Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, mit der hier auf eine Aufopferungsbereitschaft der Pflegekräfte gesetzt wird.« (Sell 2020).

Und man kann es nicht deutlich und oft genug sagen: Die Pflegekräfte, die bereits vor Corona in – nicht allen, aber vielen – Einrichtungen unter teilweise katastrophalen Rahmenbedingungen gearbeitet haben, mussten abgesehen von der eigenen Anspannung und der der ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen nun auch noch unter der Maßgabe arbeiten, dass zum einen die von anderen erbrachten Unterstützungsleistungen wegbrachen, zum anderen aber bei den Bewohnern aufgrund der für viele außerordentlich verstörenden Umstände noch deutlich mehr Arbeit als sonst schon angefallen ist, die mit weniger Personal bewältigt werden sollte. Eine unlösbare Zuspitzung der schon in „Normalzeiten“ erheblichen Anforderungen und man kann nicht dankbar genug sein für die Arbeit der vielen Pflegekräfte, die in dieser Zeit die Stellung gehalten haben und die sich nicht in geschütztere Räume wie beispielsweise in das in der Öffentlichkeit bzw. den Medien viel diskutierten Homeoffice zurückziehen konnten.

Dazu bereits aus dem Artikel Wenn Nähe töten kann von Barbara Dribbusch, der am 7. April 2020 veröffentlicht wurde:
„Die Einrichtungen entscheiden sich im Zweifelsfall für die weitestgehende Auslegung des Besuchsverbots“, sagt David Kröll, Sprecher des Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA) mit Sitz in Bonn. Der Verband hat eine noch unveröffentlichte Umfrage unter 500 Angehörigen der Pflegebedürftigen zu diesem Thema durchgeführt.
80 Prozent der Befragten erklärten, vor dem Verbot mehrmals in der Woche oder sogar täglich zu Besuch in die Einrichtungen gekommen zu sein. 67 Prozent befürchteten, dass das Personal „die erforderliche Pflege und Betreuung nicht leisten“ könne ohne die Unterstützung durch die Angehörigen.
Kröll berichtet von einer Tochter, die ihrer Mutter in der Einrichtung immer abends beim Essen und Trinken geholfen hat. Die Unterstützung beim Essen und Trinken, also Brot kleinschneiden, Löffel darreichen, Becher ansetzen, ist die aufwendigste Arbeit im Heim, oft fehlt dem Pflegepersonal dazu die notwendige Zeit. Angehörige, die dabei regelmäßig mithelfen, sind normalerweise hochwillkommen.
Die Tochter darf wegen des Kontaktverbots nicht mehr erscheinen. Einige Tage später kam ihre Mutter vom Heim ins Krankenhaus auf die Intensivstation, erzählt Kröll. Die alte Dame war vollkommen ausgetrocknet (…)
Die Tochter darf wegen des Kontaktverbots nicht mehr erscheinen. Einige Tage später kam ihre Mutter vom Heim ins Krankenhaus auf die Intensivstation, erzählt Kröll. Die alte Dame war vollkommen ausgetrocknet.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – für die betroffenen Bewohner der Pflegeheime wie auch für deren Angehörige gab es albtraumhafte und quälend lange Wochen der Abschottung und des damit verbundenen Ein- bzw. Ausgeschlossenseins.

Zu diesem Thema auch dieses differenzierte, aber deutliche Interview:
➔ Deutschlandfunk Kultur: Pflegeheime in Coronazeiten – Gravierende Folgen der Isolation (12.08.2020): In Alten- und Pflegeheimen leben viele Menschen seit Monaten weitgehend isoliert. Ihre Situation macht Missstände deutlich, die schon vor der Pandemie bestanden, sagt Ulrike Kempchen von der Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA). Die weitgehende Isolation, der viele Bewohnerinnen und Bewohner dort seit Monaten ausgesetzt sind, habe „große Spuren hintelassen“.

Und selbstverständlich gab es viele Einrichtungen und Pflegekräfte, die alles unternommen haben, um die Menschen halbwegs gut durch die Krise zu bringen. Aber wie immer im Pflegeleben gab und gibt es auch andere Erfahrungen, zumindest wurde darüber in den vergangenen Wochen seitens vieler Angehöriger, für die sich die Heime in eine „black box“ verwandelt haben, berichtet.

➔ Hier nur eine Auswahl aus den Berichten: »In einer nicht repräsentativen Umfrage des Biva-Pflegeschutzbundes berichten Angehörige von weinenden und verstörten Pflegeheimbewohnern. Außerdem stellen sie eine Verschlechterung des psychischen und körperlichen Zustands ihrer pflegebedürftigen Eltern, Ehepartner oder Geschwister fest«, berichteten die Stuttgarter Nachrichten Anfang Juni 2020 unter der Überschrift Angehörige stellen verschlechterten Zustand bei Heimbewohnern fest. Oder der SPIEGEL-Beitrag „Kommt ihr denn morgen?“ von Nike Laurenz: »Ausgerechnet zu Beginn des Lockdowns muss eine alte Frau mit Demenz ins Pflegeheim. Ihre Kinder dürfen wochenlang nicht zu ihr. Die Geschwister beginnen einen Kampf – auf dass ihre Mutter sie nicht vergisst.« Nachdem dieser Text erschienen war, meldeten sich viele Leserinnen und Leser beim SPIEGEL und berichteten von ihren Erfahrungen. Daraus ist dieser Beitrag entstanden: „Nach dem Lockdown hat mein Vater mich nicht mehr erkannt“.
Der Beitrag endet mit diesen Hinweisen: »Inzwischen wurde das Besuchsverbot gelockert. Es ist seit einigen Wochen nun vielerorts wieder möglich, Angehörige zu besuchen, unter Schutzvorkehrungen … Doch die individuell empfundene Ungerechtigkeit, die in den vergangenen Monaten durch die Auslegung der behördlichen Regeln entstand, sitzt bei manchen tief. Was, wenn eine zweite Welle kommt? Wie lässt sich das Danach gestalten? Peter Funck schrieb: Danach fragt man sich natürlich, ob das alles nicht auch humaner gehen könnte. Es verliert sonst jeglichen Sinn
Die Diskussion hält bis in diese Tage an, Beispiel Bremen: »Zwischen Mitte März und Ende Mai herrschte in Bremer Pflegeheimen Besuchsverbot, Regelprüfungen waren ausgesetzt. Die Folgen wirken für manche Betroffene jetzt noch nach«, so der Beitrag Heime im Lockdown: Angehörige beschweren sich über Pflegemängel. »Die Einschränkungen der Corona-Pandemie haben vielen Pflegebedürftigen gesundheitlich geschadet. Externe Therapien sind unterblieben, Hilfen durch Angehörige in vielen Alltagssituationen fielen weg«, so Timo Thalmann in seinem Artikel Corona-Pandemie: Gesundheitliche Folgen für Pflegebedürftige. Daraus dieses Fallbeispiel:
»Als Michaela Babitzke ihren Sohn René nach fast zehn Wochen erstmals wieder besuchen konnte, war er nach ihren Worten „weiß wie die Wand“. Aber das war keine Überraschung für die 56-jährige. Als wegen der Corona-Pandemie auch das Pflegeheim seine Türen für ihren Besuch schloss, in dem René derzeit untergebracht ist, war Babitzke schnell klar, das damit auch eine ganze Reihe von Therapien und Freizeitmöglichkeiten vom Tisch sind, von denen der 33-jährige René sonst profitiert hatte. „Da gab es nur noch die Grundpflege, alles andere fiel hinten runter“, resümiert Babitzke. Zu diesem anderen gehörte beispielsweise Krankengymnastik und Ergotherapie um Renés spastische Lähmungen zu behandeln, aber auch so einfache Dinge, wie den vollständig auf fremde Hilfe angewiesenen Mann mal an die frische Luft zu bringen. „Am Morgen der Wechsel vom Bett in den Rollstuhl, für den Mittagsschlaf zurück ins Bett und nachmittags wieder in den Rollstuhl, schon das war nicht möglich“, berichtet Babitzke. Über Stunden habe ihr Sohn daher Tag für Tag einfach in seinem Zimmer gesessen oder eben gelegen.«
In der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung wurde am 30. April 2020 dieser Artikel von Anna Hoben veröffentlicht: „Schutz wird zur Gefahr“. Darin wird über die Caritas als Heimträger in München berichtet: »Fünf Heime betreibt der katholische Träger in München, etwa 700 Menschen leben dort. Im gesamten Verband der Erzdiözese München und Freising sind es 26 Häuser mit 3000 Bewohnern. „Am Anfang war das Besuchsverbot sicherlich richtig“, sagt Doris Schneider, Geschäftsführerin der Caritas-Altenheime. Doch nun sind die Kontakte der Bewohner seit mehr als vier Wochen auf ein Minimum reduziert. Mittlerweile, so Schneider, berichteten sämtliche Heimleitungen, dass die Bewohner stark litten und gesundheitlich abbauten. Dass der Leidensdruck steige, mit jedem Tag, an dem sie ihre Angehörigen nicht sehen dürfen. „Wir können nicht ausschließen, dass die Bewohner sterben – und nicht an Corona.“
Die Angehörigen aber sind das Wichtigste, was die alten Menschen haben. Auf deren Besuche fiebern sie hin, auf ihre Kinder, Enkel, Urenkel. Neben den Besuchen fallen zurzeit auch Veranstaltungen im Haus und Gottesdienste weg. Telefonieren sei oft schlecht möglich, wenn die Bewohner schlecht hörten. Skypen bringe zwar ein bisschen Erleichterung, erfordere aber einen hohen Aufwand. Die meiste Zeit säßen die Bewohner allein auf ihren Zimmern. Zugleich steige die psychische Belastung bei den Angehörigen. Natürlich könne man die Häuser nicht einfach wieder aufmachen, sagt Schneider – aber man müsse die Risiken abwägen. Das größte Risiko seien ohnehin die Mitarbeiter: „Die können wir nicht aussperren, die brauchen wir. Man kann ein Altenheim nicht abschotten.“ Dass Mitarbeiter, Ärzte und Physiotherapeuten in die Heime dürften, sie selbst aber nicht, sei den Angehörigen kaum noch zu vermitteln.«

Und immer wieder die (Nicht-)Kontrollen …

Man könnte sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass das eben die leider unvermeidlichen „Kollateralschäden“ sind angesichts des höherrangigen Ziels eines Schutzes der Bewohner vor einer Infektion. Wenn man denen dadurch das Leben gerettet hat, dann muss „das andere“ eben zurückstehen. Man kann eine solche Position aber auch grundsätzlich kritisieren und darauf hinweisen, dass wir hier über die verletzlichste Gruppe überhaupt sprechen, deren Lebenslage dadurch gekennzeichnet ist, dass sie angesichts ihrer Pflegebedürftigkeit und der oftmals in den Heimen gegebenen demenziellen Erkrankung rund um die Uhr in der Pflegeinrichtung „ausgeliefert“ sind (was nicht nur negativ gelesen werden kann). Und dass der Staat einen Schutzauftrag hat, was die Lebenssituation dieser Menschen angeht. Und staatliche Instanzen sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass es keinen Missbrauch gibt angesichts der enormen Asymmetrie zuungunsten vieler Bewohner bzw. sie haben Vorwürfen, dass das passiert, nachzugehen und denen Hilfestellung zu gewähren, die sich gegen angebliche oder tatsächliche Missstände zu wehren versuchen.

Diese Sorgeverpflichtung betrifft zum einen die Rahmenbedingungen, unter denen die Menschen in Pflegeheimen versorgt werden (können). Dass diese Verpflichtung strukturell verletzt wird, wurde und wird auch in diesem Blog seit Jahren beklagt, beispielsweise hinsichtlich der im Regelfall (und das ist das eigentliche Schlimme) zu schlechten Personalausstattung für eine wirklich menschenwürdige Pflege. Dazu gehört aber auch, dass es Kontrollen geben muss, vor allem mit Blick auf die staatliche Wächterfunktion auch und gerade anlassbezogene Kontrollen neben den üblichen Regelprüfungen der Einrichtungen.

Und hier wird man in den Berichten aus den letzten Monaten immer wieder auf kritische Stimmen aufmerksam gemacht, die ein Kontrolldefizit und in den Wochen der Heimschließungen sogar ein totales Kontrollversagen behaupten. Angehörige »beklagen die fehlenden Kontrollen während der Pandemie – sowohl die unangekündigten Regelprüfungen, die ausgesetzt worden sind, als auch die Kontrolle durch die Familienmitglieder, die die Einrichtungen zeitweise nicht betreten konnten«, kann man hier lesen. Und Timo Thalmann zitiert Reinhard Leopold von der Unabhängigen Selbsthilfe-Initiative für Pflegebetroffene und Bremer Regionalbeauftragter des bundesweit aktiven BIVA-Pflegeschutzbundes: »Besonders kritisch sieht Leopold die jetzt noch bis zum 30. September von der Politik ausgesetzten Kontrollen der Wohn- und Betreuungsaufsicht sowie des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in den Einrichtungen. „Über Monate gab es keine Angehörigen, die nach dem Rechten sehen konnten und die staatlichen Kontrolleure haben ihre Arbeit ebenfalls eingestellt.“ Aus Leopolds Sicht ist so in den Pflegeeinrichtungen in den zurückliegenden Wochen de facto ein rechtsfreier Raum entstanden. Ausgefallene Therapien, weggefallene Freizeitangebote oder die fehlende Hilfe der Angehörigen seien daher nur die Spitze eines Eisberges. „Der ganze Bereich der Pflege war personell schon vor Corona auf Kante genäht.“ Die Pandemie habe die Probleme aber noch verschärft, weil dadurch zusätzliche Arbeitskräfte weggefallen seien.«

Und auch Heinz Rothgang von der Universität Bremen, wird zitiert: Für ihn »sei es möglich, dass fehlende Kontrollen in einigen Fällen zu mangelhafter Pflege geführt haben. „Wenn die Besucher und die Kontrolleure nicht mehr in die Einrichtungen kommen können, entsteht da eine Dunkelkammer, von der wir eben nicht wissen, was darin passiert.“ Allerdings gebe es hierzu keine gesicherten Daten oder Beweise, sondern nur Erfahrungsberichte.« Rothgang »zufolge sei Mehraufwand entstanden, gleichzeitig habe es Personalausfälle gegeben. Angesichts der bereits angespannten personellen Situation sei es klar, dass sie nicht mehr so viel schaffen könnten wie vorher. „Es wäre schon erstaunlich, wenn daraus keine Qualitätsabsenkungen resultierten“, sagt Rothgang.« Und eine weitere Stimme: »Für Stefan Görres, Professor für Pflegeforschung an der Universität Bremen, hat Corona die Lage erheblich beeinträchtigt. Es sei vorstellbar, dass in einigen Heimen dadurch Zustände „am Rande des Chaos“ geherrscht hätten. Dass man dabei nicht die übliche Qualität herstellen könne, sei klar. Sie hätten wie die gesamte Gesellschaft Abstriche machen müssen. Ob die Maßnahmen gerechtfertigt waren, müsse man im Nachhinein analysieren.«

Genau deshalb wäre es ja auch gerade in einer Situation der Abschottung der Heime nach außen von so existenzieller Bedeutung, dass es eine Inaugenscheinnahme von außen gibt, die nach den Menschen schaut.

Nun gibt es im Grunde zwei Stränge, wenn es um (externe) Kontrollen geht:
➞ Zum einen die sogenannten Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Kranken- und Pflegekassen
➞ sowie die auf der Ebene der Bundesländer bzw. der Kommunen organisierte Heimaufsicht.
Und beide Prüfungsinstanzen wie auch deren Vorgehen (wenn denn geprüft wird) waren schon lange vor Corona Gegenstand heftigster Kritik (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Die Entsorgung der Pflegenoten und ein neuer Pflege-TÜV, der keiner sein kann. Anmerkungen zu den neuen Qualitätsprüfungen in der stationären Altenpflege vom 2. Oktober 2019).

Das Politikmagazin „Report Mainz“ hat das Thema der Nicht-Prüfungen in Zeiten von Corona in dem Beitrag „Kontrollverlust in Pflegeheimen – Welche Folgen hat die mangelnde Aufsicht für die Bewohner?“ am 18. August 2020 aufgegriffen, dessen Kritik an den fehlenden Kontrollen auch zu heftigen Abwehrreaktionen vor allem der Pflegeheimbetreiber geführt hat. Dabei ist klar, dass man keineswegs generalisieren darf, wenn man Kritik vorträgt. In dem Beitrag Kaum Kontrollen in Pflegeheimen für die Online-Ausgabe der Tagesschau wird darauf auch gleich am Anfang hingewiesen: »Der Corona-Infektionsschutz führt zu deutlich weniger Qualitätskontrollen in Pflegeheimen – mitunter mit nachteiligen Folgen für die Bewohner«, so heißt es dort. Mitunter und nicht bei allen. Aber auch das ist Fakt: »Rund 14.000 Pflegeeinrichtungen gibt es in Deutschland – sie werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und durch die Heimaufsichten überwacht. Doch seit Mitte März wird als Folge der Corona-Pandemie in den Heimen kaum noch kontrolliert … Demnach hat der MDK seit Mitte März lediglich 51 anlassbezogene Prüfungen in ganz Deutschland durchgeführt. Das sind 56 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum der drei Vorjahre. Auch viele Heimaufsichten räumten ein, dass sie im selben Zeitraum weniger anlassbezogen kontrolliert hätten.« Während die Regelkontrollen zur Entlastung der Heime am 19. März 2020 vom Bundesgesundheitsminister ausgesetzt wurden, sollten anlassbezogene Kontrollen eigentlich weiter stattfinden. Aber dabei muss man bedenken: »Solche anlassbezogenen Kontrollen werden allerdings oftmals auf Betreiben von Angehörigen durchgeführt, die konkrete Qualitätsdefizite in der Pflege bemängeln und melden. Wegen der Besuchsverbote durften aber viele Angehörige wochenlang nicht mehr in die Heime hinein.«

Der an sich einfache Punkt ist: Die Angehörigen müssen sich (eigentlich) darauf verlassen können, dass es jemanden gibt, der nach den pflegebedürftigen Bewohnern schaut, wenn sie selbst ausgeschlossen werden von Besuchen. Der die Anwaltsfunktion für die Betroffenen übernimmt. Theoretisch wäre das der Part der Heimaufsicht.

Auch hier sind wir mit einem echten Staatsversagen konfrontiert

Nun ist das mit den Heimaufsichten so eine Sache. Schon in der Zeit vor Corona gab es eine aufgeladene Debatte über das Kontrollversagen mancher Heimaufsichten – als besonderes und für viele kommunalisierte System so typische Problem kommt hinzu, dass wir mit einer enormen Streuung hinsichtlich der strukturellen Voraussetzungen beispielsweise für Kontrollen konfrontiert sind. Aus der Zeit vor Corona nur ein Beispiel von vielen:

➔ Beispiel Bremen: Am 14. Januar 2020 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Wenn das Personal doppelt fehlt. Beispiel Bremen: Da gab es 2019 von der Heimaufsicht nur zwei Regelprüfungen in Pflegeeinrichtungen. Darin findet man diese Informationen:

»Immer öfter wird von Mängeln in verschiedenen Pflegeheimen berichtet, allerdings ist auch die Lage in der Heimaufsicht extrem schwierig: Im vergangenen Jahr wurden nur zwei Regelprüfungen durchgeführt«, berichtet Lisa-Maria Röhling in ihrem Artikel Kaum Kontrollen in Bremer Pflegeeinrichtungen. Und es kommt noch dicker: »Die Bremer Heimaufsicht, die für die Qualitätskontrolle von Pflege- und Behinderteneinrichtungen zuständig ist, hat in den vergangenen Jahren nahezu alle Regelprüfungen ausgelassen.« Damit man ein Gefühl für die Relationen bekommt: »Demnach sind im Jahr 2019 zwei Einrichtungen überprüft worden. Eigentlich hätte die Heimaufsicht aber 190 dieser gesetzlich vorgeschriebenen, jährlichen Kontrollen erledigen müssen. Während zahlreiche Pflegeheime bei sogenannten anlassbezogenen Prüfungen kontrolliert wurden, sind insgesamt 47 Einrichtungen länger als zwei Jahre gar nicht von den Aufsichtsbehörden besucht worden.« Die Zahl dieser Prüfungen ist in den vergangenen Jahren stetig gesunken: 2017 wickelte die Heimaufsicht acht von 191 vorgesehenen Regelkontrollen ab, 2018 waren es vier von 189. Die Hälfte der Regelprüfungen soll ohne vorherige Ankündigung geschehen. Knapp 200 Tagespflegeeinrichtungen oder Wohnformen mit ambulanten Pflegeleistungen unterliegen nicht den Regelprüfungen. Sie werden deshalb nur dann kontrolliert, wenn es Beschwerden gibt.

Allerdings muss man bedenken, dass sich die Zahlen auf die Regelprüfungen beziehen. »Anders sieht die Situation bei den anlassbezogenen Kontrollen der Heime aus. Ihre Zahl steigt seit Jahren: Im Jahr 2017 waren es 210, bis Ende Oktober 2019 waren die Mitarbeiter der Heimaufsicht in 220 Fällen den Hinweisen auf mögliche Missstände nachgegangen. Dass es immer mehr Beschwerden gibt, hat auch mit dem zunehmenden Fachkräftemangel in den Einrichtungen zu tun.« Wohlgemerkt, dass waren die Zahlen vor Corona – und viele anlassbezogene Kontrollen wurden durch entsprechende Eingaben der Angehörigen ausgelöst. Die Prüfbehörde in Bremen selbst hat bei der Frage nach den Ursachen darauf hingewiesen, dass sie mit „erheblichen Personalengpässen“ zu kämpfen habe.

„Erhebliche Personalengpässe“ bei der Heimaufsicht ist ein wichtiges Thema – bei dem man zugleich zeigen kann, wie unerträglich groß die Spannweite ist hinsichtlich der Personalausstattung zwischen den Kommunen für diese so bedeutsame Arbeit.

➔ Beispiel Niedersachsen: »Die Heimaufsicht in Niedersachsen ist in einigen Landkreisen offenbar unterbesetzt. Das geht aus einer Antwort des Sozialministeriums auf eine Anfrage der FDP hervor. Nach Berichten über Patienten in einem Celler Pflegeheim, die brutal fixiert worden sein sollen und in ihren Ausscheidungen liegen gelassen wurden, fragte die FDP die Landesregierung, wie es um die Heimaufsicht im Land bestellt sei. In der Antwort wird deutlich, wie unterschiedlich die Heimaufsichten in Niedersachsen personell aufgestellt sind. Zwar schreibt das Sozialministerium, im Mittel sei ein Mitarbeiter einer Heimaufsicht für 30 Einrichtungen zuständig. Bei genauem Hinsehen allerdings offenbaren sich die Differenzen«, berichtet Christina Harland in ihrem Beitrag Heimaufsicht außer Kontrolle? Die folgende Abbildung visualisiert einmal die angesprochene Streubreite hinsichtlich der Personalausstattung der Heimaufsichten in einem Bundesland:

Das muss man nicht wirklich weiter kommentieren. 60 oder mehr als 70 Einrichtungen für eine Vollzeitstelle bei der Heimaufsicht – da kann man sich vorstellen, was dabei (nicht) herauskommt. Wir sind hier übrigens mit einem Phänomen konfrontiert, das wir auch in anderen Bereichen diskutieren bzw. beklagen müssen: einem eklatanten Staatsversagen bei der (Nicht-)Umsetzung der Schutzaufträge staatlicher Institutionen, wie wir es beispielsweise auch aus dem Arbeitsschutz kennen, man denke hier nur an die „Tönnies-Debatte“ (vgl. dazu den Beitrag Wenn man ein Kind groß ziehen kann, bis die Kontrolleure wieder vorbeikommen. Das Staatsversagen beim Arbeitsschutz geht weiter vom 5. Mai 2020 sowie bereits Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“, ein Beitrag, der hier am 23. August 2018 veröffentlicht wurde).

Es ist, das sei hier nur angemerkt, vollkommen klar, dass Kontrollen immer als eine zusätzliche Belastung und Einschränkung verstanden werden – gerade von denen, die versuchen, eine gute Arbeit abzuliefern. Was dann noch verstärkt wird, wenn die Art und Weise der Kontrollen, beispielsweise nur eine Aktenprüfung, als sinnwidrig verstanden wird. Aber zur Professionalität gehört eben auch, dass man in der Altenpflege zur Kenntnis nehmen muss, dass es neben den vielen unter den herrschenden Bedingungen gut arbeitenden Heimen eben auch so einige ziemlich schwarze Schafe gibt, aus denen immer wieder von eklatanten Verletzungen einer halbwegs menschenwürdigen Pflege berichtet wird.

➔ Hierzu nur ein Beispiel aus den Zeit kurz vor dem Ausbruch der Corona-Zeiten, also unter „Normalitätsbedingungen“ – und gerade die sind offensichtlich an sich ein Problem: »43 Mal am Tag fahren die Rettungskräfte der Berliner Feuerwehr in Pflegeheime zum Noteinsatz – und das häufig nur, weil eine Pflegekraft alleine überfordert ist. Jetzt schlägt die Feuerwehr Alarm«, berichten Anja Herr und Vanessa Klüber am 28. Januar 2020 unter der Überschrift Berliner Feuerwehr muss für fehlende Pflegekräfte einspringen. Man muss die Erfahrungswerte der Feuerwehr auf sich wirken lassen: »Zwei Mal pro Schicht fährt Eric Menzlow in ein stationäres Pflegeheim, schätzt der Notfallsanitäter. Insgesamt wurde die Berliner Feuerwehr nach eigenen Angaben 15.675 Mal zwischen September 2018 und August 2019 zu solchen Einsätzen gerufen. Das sind im Durchschnitt 43 Einsätze pro Tag im Pflegeheim. Diese Daten hat die Feuerwehrs erstmals überhaupt ausgewertet, weil das Problem überhand nimmt. „Der Klassiker ist: Wir werden gerufen, weil der Patient aus dem Bett gefallen ist. Er hat keine Beschwerden, er schafft es nur aus eigener Kraft nicht wieder aufzustehen“, weil nur eine Pflegekraft im Dienst sei, sagt Menzlow. „Die schafft es alleine nicht, einen älteren Menschen mit 100 Kilogramm zurück ins Bett zu heben.“ In ihrer Not rufen viele Pflegekräfte die 112, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen. Oft seien die Pflegekräfte aber auch schlicht überfordert, weil sie einfach zu viele Bewohner haben, um die sie sich gleichzeitig kümmern müssten, sagt Menzlow. „Dann kommen an einem Tag drei Neuzugänge, aber sie hat noch 20 andere zu betreuen. Da muss sie denjenigen, dem es am schlechtesten geht, über die Feuerwehr ins Krankenhaus abschieben.“ (…) Notfallsanitäter Menzlow beschreibt „riesengroße Häuser“, in denen nach seiner Beobachtung nachts nur zwei oder drei Pflegekräfte arbeiten. Die Einsatzkräfte müssten den betroffenen Bewohner oft selbst suchen. Manchmal liege jemand wegen eines Magen-Darm-Infekts zwei Stunden lang im eigenen Erbrochenen, oder es gab keine ausreichende Übergabe zwischen den Pflegekräften, die die Bewohner nicht gut kennen. „Dann weiß die Fachkraft nicht, dass der Arm des Bewohners schon immer gelähmt ist“, schildert Menzlow einen Fall. „Der kann sich wiederum krankheitsbedingt nicht ausdrücken – und wir gehen von einem Schlaganfall aus und fahren ihn weg.“ Im schlimmsten Fall, sagt der ärztliche Leiter Poloczek, habe die Feuerwehr ein Heim für mehrere Stunden „kapern“ müssen, „um auf die Menschen dort aufzupassen.“« Und der Berichte endet so: »Sicherlich, da sind sich die Rettungskräfte einig, gibt es einige Pflegeheime, die ihre Sache gut machen – und man habe hohe Achtung vor den Pflegekräften. Eric Menzlow hofft dennoch, dass es noch eine Weile dauert, bis er selbst in ein Pflegeheim muss.«

An diesem Beispiel kann man zugleich wie einem Lehrbuch das „doppelte Staatsversagen“ beim Schutz der Bewohner erkennen: Zum einen die strukturell bedingten Missstände, die natürlich auch etwas mit den defizitären Vorgaben und möglichen Finanzierungsproblemen zu tun haben, zum anderen aber eben auch die offensichtlich vorhandene Nicht-Kontrolle der Bedingungen in den Einrichtungen.

Was nicht wieder passieren darf und was zu tun wäre

Gerade in diesen Tagen wird mit Sorge auf die Entwicklung der Infektionszahlen geschaut und angesichts der nun bevorstehenden kälteren Jahreszeit mit den vielen „normalen“ Grippe- und Erkältungsfällen wird befürchtet, dass es wieder eine Situation geben könnte, in dem aus der Perspektive des Schutzes der Hochrisikogruppen, zu denen Heimbewohner gehören, erneut Einschränkungen für die Angehörigen erwogen werden. An dieser Stelle muss man in aller Deutlichkeit sagen: Dass Heime vollständig vom Netz genommen werden und Bewohner von ihren Angehörigen radikal getrennt werden, darf es so nicht noch einmal geben. Insofern müssten die Heimbetreiber und ihre Verbände (eigentlich) massiv darauf aufmerksam machen, was denn die Heime für Schutzmaterialien brauchen und was an personeller Zusatzausstattung, um dieses Ziel auch in schwierigen Zeiten erreichen zu können. Das wird auch an anderer Stelle so gesehen:

Beispielsweise sei auf dieses neue Thesenpapier hingewiesen:
➔ Mattias Schrappe et al. (2020): Die Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 – der Übergang zur chronischen Phase. Verbesserung der Outcomes in Sicht – Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren – Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren. Thesenpapier 4.0, Köln, Berlin, Bremen, Hamburg, 30. August 2020

Dort finden wir auf der Seite 45 folgenden Hinweis:
»Die Pflegeheime waren zu Beginn von der Epidemie schwer betroffen, sowohl hinsichtlich der Krankheitslast der Mitarbeiter … als auch der Bewohner … Das Personal war zwar in der Lage, die Situation bei anfangs defizitären Rahmenbedingungen und nur mangelhaft vorhandenen Schutzmaterialien bestmöglich zu kompensieren … Durch den enormen Einsatz einzelner Teams und durch den hohen sozialen Zusammenhalt in den Pflegeeinrichtungen konnte eine weitere katastrophale Entwicklung vermieden werden, auch unter den Bedingungen fortgesetzt defizitärer personeller Besetzungen und chronisch unzumutbarer Engpässe … Allerdings kann aus zwei Gründen noch nicht von einer Entwarnung gesprochen werden, einerseits wegen der immer noch bestehenden Problematik der in den Heimen akquirierten „nosokomialen“ Infektionen, andererseits wegen der nicht zu leugnenden negativen Nebeneffekte der eingeschlagenen Präventionsmaßnahmen.«

Der letztgenannte Punkt führt zu unserem Thema:

Die „nicht zu leugnenden negativen Nebeneffekte der eingeschlagenen Präventionsmaßnahmen“ sind »von größer Wichtigkeit, denn will man im Rahmen einer „Stabilen Kontrolle“ nicht auf Zielgruppen-orientierte Präventionsmaßnahmen verzichten, dürfen diese Maßnahmen sich nicht durch ihre Nebeneffekte delegitimieren. Diese Gefahr scheint jedoch zu bestehen, denn Beobachtungen der Fachöffentlichkeit wie auch von zahlreichen Angehörigen lassen bei den angewandten Präventionsmaßnahmen in Pflegeheimen einen deutlichen negativen Einfluss auf die Lebensqualität der Bewohner vermuten. In vielen Einzelbeispielen wird in den vergangenen Monaten die strenge Isolierung und Kontaktvermeidung mit einer raschen Verschlechterung im gesundheitlichen Verlauf in Zusammenhang gebracht. Beschrieben wird eine rasant zunehmende Desorientierung bei anfangs noch relativ eigenständigen Menschen im Kontext einer schwerwiegenden kognitiven und körperlichen Beeinträchtigung.
Unter der Argumentation, es würden die Empfehlungen des RKI befolgt, scheint es in zahlreichen Einrichtungen die oberste Devise geworden zu sein, ihr Klientel „satt + sauber“ zu versorgen und vor allem Skandalmeldungen wegen neu aufgetretener Corona- Infektionen zu vermeiden. Nach wie vor werden äußerst knappe Besetzungen im pflegerischen Bereich, dadurch bedingte Ernährungsmängel und zu wenig Mobilisierung geschildert. Es kommt zu Einschränkungen der physiotherapeutischen oder ergotherapeutischen Anwendungen, die Begegnungen innerhalb der Einrichtung wie gemeinsame Mahlzeiten, Sport, Kultur, Religion oder Spaziergänge werden eingeschränkt oder sind gar eingestellt worden, hinzu kommen verzögerte ärztliche Besuche trotz akuter Bedarfe. Schwer wiegen außerdem Berichte über eine Zunahme von Gewaltanwendungen. Prüfungen der Heimaufsicht scheinen in Abhängigkeit vom jeweiligen Bundesland nur noch telefonisch zu erfolgen, wären aber vor Ort dringend erforderlich. Hinzu kommen Berichte über gesetzeswidrige bzw. grenzwertige Quarantänemaßnahmen.«

Aus dieser Analyse formulieren die Autoren die folgende These:

»Soziale Teilhabe und Sicherung der Lebensqualität sind für Pflegeheimbewohner auch unter den Bedingungen der CoViD-19-Epidemie wichtige Ziele, die mit den Zielen des Infektionsschutzes in Einklang zu bringen sind. Es mehren sich jedoch Berichte, dass negative Nebeneffekte der Isolationsmaßnahmen in den Langzeitpflegeeinrichtungen z.T. ein menschenunwürdiges Maß angenommen haben und geeignet sind, die Würde der Bewohner zu gefährden; diese Zustände sind unverzüglich zu beenden. Auch unter den Bedingungen des Infektionsschutzes sind die Bedürfnisse und Bedarfe der Bewohner vollumfänglich zu gewährleisten. Angehörige wie auch Beschäftigte unterliegen dabei neben adäquaten Hygieneregeln einer geordneten Kontrolle, die regelhafte Testungen beinhalten. Innovative Konzepte müssen dringend entwickelt und evaluiert werden.« (Schrappe et al. 2020: 46)

Und mit Blick auf entsprechende Vorstöße aus den Reihen der Sozialverbände sei hier auf diese neue Veröffentlichung hingewiesen:

➔ Armin Lang und Myriam Moser mit Unterstützung des Sozialpolitischen Ausschusses des Sozialverbandes VdK Saarland (2020): Corona-Krise fordert den vorsorgenden Sozialstaat – auch im Saarland! Eine Zwischenbilanz, Saarbrücken: VdK Saarland, August 2020

Dort finden wir speziell zu den Pflegeheimen dieser Ausführungen:

»Besuchsverbote in Einrichtungen dürfen zukünftig nur in extremen Gefahrenlagen angeordnet werden. Die Versorgung durch externe Therapeuten muss jederzeit gewährleistet sein, damit es nicht zu Therapiebrüchen kommt und damit zu dauerhaften Funktionsstörungen bei den kranken Menschen.
Pflegebedürftige und behinderte Menschen müssen in jeder Einrichtung immer die Möglichkeit haben, mittels technischer Hilfen mit Angehörigen und Freunden zu kommunizieren. Deshalb ist für stationäre Pflege- und Behinderteneinrichtungen eine gesetzliche Vorgabe zur Sicherstellung einer technischen Ausstattung, etwa durch WLAN und Tablets, nötig. Die öffentlichen Förderprogramme zum Ausbau der Digitalisierung müssen so gestaltet werden, dass sie auch von privaten, öffentlichen und gemeinnützigen Trägern der Sozialwirtschaft genutzt werden können.
Es braucht intelligente, der jeweiligen Situation vor Ort angemessene Vorgaben zur Schließung bzw. Öffnung von Betreuungseinrichtungen für Angehörige und staatliche Kontrollen derselben, um gleichwertige Verhältnisse für alle Betroffenen zu garantieren. Das Kriterium kann hier nicht die Orientierung am Worst Case sein, dessen Regeln dann für alle gelten sollen. Vielmehr müssen die Regelungen so ausgestaltet sein, dass die den jeweiligen Bedingungen angemessen sind: Regelungen auf Landkreisebenen sind besser als bundeseinheitliche Regelungen, Regelungen für unterschiedliche Gruppen behinderter Menschen sind besser als Regelungen, die unterschiedslos für alle gelten.«

Und wer sich für eine umfassende und nach wissenschaftlichen Kriterien ausgearbeitete Leitlinie interessiert, der kommt an diesen insgesamt 14 Empfehlungen nicht vorbei:

➔ Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft (Hrsg.) (2020): S1 Leitlinie – Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie – Langfassung, Duisburg: Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft, August 2020

Aus der Politik kommen nun solche Meldungen: Spahn will keine erneuten Besuchsverbote: »Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schließt erneute Besuchsverbote in Pflege- und Altenheimen aus … Im März seien die getroffenen Maßnahmen, auch die Besuchsverbote in Pflege- und Altenheimen und das Schließen von Kitas und Schulen, richtig gewesen, um die gesamte Bevölkerung und vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen. „Man kann nicht im September die Lage im März mit dem Wissen aus dem September bewerten“, mahnte der CDU-Politiker.«

Was man aber sehr wohl mit dem Wissen aus dem September tun kann und muss: Die Frage nach der Verantwortung und der Zuständigkeit stellen und dabei den staatlichen Schutzauftrag aus dem Nebel holen und klar definieren, was es für eine moderne und konsequent an den Schutzbedürftigen und ihren Angehörigen ausgerichtete Aufsicht und auch Kontrolle braucht, sonst geht das ganze Chaos beim nächsten Mal wieder von vorne los. Die staatlichen Ebenen dürfen nicht erneut aus der Verpflichtung entlassen werden, wenigstens ein Minimum an Kontrolle und Verantwortungsübernahme sicherstellen. Und zwar überall und nicht nur in einigen sicher vorhandenen kommunalen Leuchttürmen. Darauf haben die Menschen einen Anspruch, den es einzulösen gilt.

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