Soziale Kluft vertieft sich weiter. Deutscher Gewerkschaftsbund mit Kampfansage gegen Armutsrisiken

Klassengesellschaft

Immer ungleicher

Bundeskabinett verabschiedet Armuts- und Reichtumsbericht. Soziale Kluft vertieft sich weiter. Deutscher Gewerkschaftsbund mit Kampfansage gegen Armutsrisiken
Von Oliver Rast jw

Es gibt nur eine Lesart: Die Bundesrepublik ist ein Klassenstaat. Arme werden ärmer, Reiche reicher. An dieser unbequemen Wahrheit kommen selbst die »schwarz-roten« Koalitionäre nicht vorbei. Das Bundeskabinett verabschiedete am Mittwoch nachmittag den coronabedingt um ein Jahr verschobenen Armuts- und Reichtumsbericht. Es ist der sechste seiner Art.

Eine der Kernaussagen des 555 Seiten starken Werks lautet: »Seit den 1980er Jahren hat der Anteil der Personen, die sich jeweils stabil in der untersten oder obersten sozialen Lage befinden, kontinuierlich zugenommen.« Übersetzt heißt das: Die soziale Spaltung hierzulande vertieft sich, das Armutsrisiko erhöht sich. Das ärmste Zehntel der Bevölkerung ist ferner ohne jegliche »Veränderungsperspektiven und Aufstiegschancen«. Existenznot tradiert sich gewissermaßen, in der Coronakrise allemal.

Die Erkenntnisse lägen nun schwarz auf weiß vor, »weggucken geht nicht«, musste Daniela Kolbe, Sprecherin für Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration der SPD-Bundestagsfraktion, in einem Gastbeitrag in der Onlineausgabe des Parteiblatts Vorwärts am Mittwoch einräumen. Dennoch: Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) versuchte, die Befunde aus seinem Hause schönzureden und behauptete gleichentags bar jeder Vernunft: »Deutschland ist keine ›Abstiegsgesellschaft‹.«

Das dürften zahlreiche Betroffene anders sehen. Zu Recht. Dem amtlichen Bericht zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, in die Armutsfalle zu rutschen, seit den 1980er Jahren von 40 auf 70 Prozent gestiegen. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren monatlichen Einkommens verfügt, anders ausgedrückt: netto maximal 1.176 Euro im Portemonnaie hat. Das heißt, prekäre Lebensumstände bestehen längst nicht nur in subproletarischen Milieus. Ein Fünftel der Menschen hierzulande lebe inzwischen in einer »vollautomatischen Drehtür«, wird Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie, am Mittwoch in einer Mitteilung zitiert. Er meint: Mies entlohnte Interimsjobs samt Scheinselbständigkeit wechseln sich mit wiederholtem »Transferleistungsbezug« ab. Hinzu kommt ein Ost-West-Gefälle. Das »Aufstiegsversprechen«, wonach jeder, der sich nur anstrengt, etwas aus seinem Dasein machen kann, ist im Osten noch mehr eine zynische Floskel als im Westen der Republik.

Die ungleiche Einkommens- und Vermögensentwicklung 2020 ist bezifferbar: »Die obere Hälfte der Verteilung verfügte über 70 Prozent aller Einkommen, die untere Hälfte über 30 Prozent«, steht im Armuts- und Reichtumsbericht. Die Vermögen sind sogar noch ungleicher verteilt: »Haushalte in der oberen Hälfte der Verteilung besaßen etwa 97,5 Prozent, Personen etwa 99,5 Prozent des Gesamtvermögens.« Insofern brauche es eine Kehrtwende in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, sagte Susanne Ferchl, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Die Linke, am Mittwoch gegenüber jW. Die Bundesregierung könne nicht länger verschleiern, dass die Misere die direkte Folge ihrer politischen Entscheidungen sei. Deshalb müsse fortan Schluss sein mit Steuernachlässen für Wohlhabende und repressiven »Sozialgesetzen« gegen Arme.

Lösungsansätze gibt es längst, etwa die Wiedererhebung der Vermögenssteuer und höhere Erbschaftssteuern, aber auch die Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze auf 600 Euro und einen pauschalen Mehrbedarfsaufwand von 100 Euro monatlich in der Pandemie. Das seien wesentliche Elemente einer neuen Umverteilungspolitik, »mit der wir nicht schnell genug beginnen können«, mahnte Joachim Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa des Paritätischen Gesamtverbands, am Mittwoch auf jW-Nachfrage.

Kaum im Blick sei bei den regierungsamtlichen Berichterstattern das Armutsrisiko Erwerbstätiger, kritisierte Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied, in einer Pressemitteilung am Mittwoch. Das sei aktuell so hoch »wie noch nie«. Erwerbstätige machten mit rund 4,4 Millionen die zahlenmäßig größte Gruppe der von Armut betroffenen Personen aus. Gegenrezepte? Ja, die liegen vor: Aufstockung des Kurzarbeitergelds, Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Abschaffung sachgrundloser Befristungen, Selbständige unter den Schutzschirm der Arbeitslosenversicherung. Und nicht zuletzt müsse der Niedriglohnsumpf trockengelegt werden, dafür solle der Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro angehoben und die Tarifbindung gestärkt werden, forderte die DGBlerin. »Wir müssen Armutsrisiken klar den Kampf ansagen.«

teilen mit …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

− 6 = 1