Im Jahr 2020 arbeiteten 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag.

Aus: Ausgabe vom 09.06.2021, Junge Welt
Arbeit versus Kapital

Erosion in der Branche

Tarifvertragsgesetz: Mit Novelle wollen gewerkschaftsnahe Politiker allgemeinverbindliche Vereinbarungen stärken. Kapitalverbände halten nichts davon
Von Oliver Rast

Von einer Erosion der Tarifbindung sprechen gewerkschaftsnahe Politiker. Gesetzesinitiativen in Bundesrat und Bundestag sollen Abhilfe schaffen. Mittels einer Novellierung des Tarifvertragsgesetzes (TVG) samt der sogenannten Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Vertragswerken der »Sozialpartner«. Am Montag hörte dazu der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales Sachverständige an. Anlass waren drei Anträge der Fraktionen von Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ihr Tenor: das hiesige Tarifvertragssystem im Sinne der Belegschaften verbessern.

Denn der Fall ist klar: Im Jahr 2020 arbeiteten 43 Prozent der Beschäftigten in Betrieben mit Branchentarifvertrag. Nur noch. Die Tarifbindung ist dabei im Westen höher als im Osten. Rund 45 Prozent der westdeutschen und 32 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten produzierten in einem tarifgebundenen Unternehmen Mehrwert. 2019 galt das noch für 46, beziehungsweise 34 Prozent. Das sind Zahlen des jüngsten Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit.

Öffentliches Interesse

Worum geht es? Im Kern um den Paragraphen 5 des TVG, der die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen einer Branche regelt; unabhängig davon, ob ein Unternehmen tarifgebunden ist. Abstimmungsmodus und Antragsverfahren der AVE sind kontrovers. Linke und Grünen-Abgeordnete fordern folgendes: Zum einen soll ein gemeinsam von Gewerkschaft und Unternehmerverband eingebrachter AVE-Antrag künftig nur noch mit einer Mehrheit im Tarifausschuss abgelehnt werden können. Bislang besteht de facto ein Vetorecht der Kapitalseite. Zum anderen soll es möglich sein, dass nur eine Tarifvertragspartei einen AVE-Antrag stellt. In letzter Instanz befindet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales per Erlass über einen solchen Antrag, wenn dies »im öffentlichen Interesse geboten erscheint«, wie es im Gesetz heißt.

Ein schwammiger Passus, der lediglich durch zwei vage Kriterien ergänzt wird: Schutz vor den Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen und die »überwiegende Bedeutung« eines Tarifvertrags. Inhaltliche Präzisierungen fehlen, monieren Linke und Grüne. Etwa dahingehend, dass durch eine AVE das Tarifvertragssystem gefestigt, angemessene Entgelt- und Arbeitsbedingungen erreicht sowie soziale Standards gesichert und Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden können.

Bereits zuvor, am 28. Mai, brachten die drei »rot-rot-grünen« Landesregierungen aus Bremen, Berlin und Thüringen einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Novelle des Tarifvertragsgesetzes im Bundesrat ein. Wenig überraschend: Er wurde mehrheitlich abgelehnt. Elke Breitenbach (Linke), Berlins Arbeitssenatorin, ärgerte sich ob des Abstimmungsergebnisses im Bundesrat, weil dringender Handlungsbedarf bestehe, wie sie am Dienstag im Gespräch mit jW sagte. »Unternehmen zahlen immer weniger tariflich festgesetzte Löhne. Mit unserer Initiative wollten wir die Situation der Beschäftigten verbessern.« Ähnlich argumentierte die Arbeitsministerin des Freistaats Thüringen, Heike Werner (Linke): »Wir wollten Anreize für die Tarifvertragsparteien setzen«, erklärte sie gleichentags gegenüber dieser Zeitung, »verstärkt von der Allgemeinverbindlichkeitserklärung Gebrauch zu machen.« Daraus wird vorerst nichts.

Wie nötig dies wäre, zeigt folgendes: Zwischen ein und zwei Prozent aller Branchentarifverträge der zurückliegenden zwei Dekaden seien allgemeinverbindlich erklärt worden, schrieb Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, am vergangenen Donnerstag in einem Blogbeitrag. Und der Forscher führt exakt Buch: »Im Jahr 2020 waren es gerade einmal 24 Tarifverträge.«

Alexander Luckow, Kommunikationsleiter vom Unternehmerverband Nordmetall, sieht darin kein Problem. »Die AVE ist ein absoluter Ausnahmefall«, betonte er am Dienstag auf jW-Anfrage. Mehr noch: »Es sollte auch so bleiben.« Denn sonst würde die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie ausgehöhlt und destabilisiert, findet er. Je stärker der Staat eingreife, »um so mehr sinkt der Anreiz für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sich freiwillig in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu engagieren«, befürchtet der Kapitalboss aus Hamburg. Nein, in der Metall- und Elektroindustrie habe es bislang keine AVE gegeben. »Dies käme einer Bankrotterklärung der Tarifvertragsparteien gleich.« Differenzierter sieht das Uwe Schummer. »Allgemeinverbindlichkeitserklärungen können den Branchentarifvertrag stärken«, teilte der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Dienstag gegenüber jW mit. Allerdings lasse sich damit nicht dauerhaft eine breite Mitgliederbasis bei Beschäftigten- und Unternehmerorganisationen ersetzen.

Organisierte Tarifflucht

Eine weitere Kontroverse ist die »negative Koalitionsfreiheit«. Den Antipoden von Arbeit und Kapital ist es laut Grundgesetz freigestellt, Mitglied eines Interessenverbandes zu sein. So weit, so gut. In den 2000er Jahren gingen Kapitalverbände ferner dazu über, sogenannte OT-Mitgliedschaften zu gewähren. Das »OT« steht für »ohne Tarifbindung«. Danach sind Mitgliedsunternehmen nicht automatisch an einen Tarifabschluss gebunden. Ein Affront gegen die »Sozialpartnerschaft«, heißt es aus Gewerkschaftskreisen.

Die Parlamentarier der Linkspartei und der Grünen fordern in ihren Gesetzesinitiativen von Geschäftsführungen, transparent zu machen, ob ihr Unternehmen Verbandsmitglied und tarifgebunden ist. Der Aufschrei ist groß. Von einer Stigmatisierung ist die Rede, seitens des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) zum Beispiel. Solche Unternehmen dürften nicht »in ihrer wirtschaftlichen Betätigung, etwa im Rahmen von Vergabeverfahren oder gesteuertem Kundenverhalten, benachteiligt und gleichsam an den Pranger gestellt werden«, mahnte der ZDH am Dienstag auf jW-Anfrage.

Für progressive Politiker sind das hingegen Druckmittel. Wichtig sei ein Bundestariftreuegesetz, »denn Tarifflucht darf nicht noch mit öffentlichen Aufträgen belohnt werden«, betonte Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Arbeitnehmerrechte und aktive Arbeitsmarktpolitik, am Dienstag gegenüber jW. Des weiteren müsse die Tarifflucht durch die Gründung von Tochtergesellschaften unterbunden werden. Pascal Meiser stimmt zu. Zugleich müsse die Auftragsvergabe durch den Bund an die Zahlung von Tariflöhnen gekoppelt werden, sagte der gewerkschaftspolitische Sprecher der Linke-Bundestagsfraktion im jW-Gespräch. »Es muss Schluss damit sein, mit Steuermitteln Lohndumping zu befördern.«

Die Verhandlungsmacht von Gewerkschaften könne auf verschiedenen Wegen gestärkt werden, so Meiser weiter. Der Gesetzgeber solle »dies mit geeigneten politischen Instrumenten flankieren«. Eben durch eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Dabei müsse indes der »sozialpartnerschaftliche Geist« gewahrt bleiben, sagte der Christdemokrat Schummer, also keine Alleingänge bei AVE-Anträgen. Und er erinnert an die klassische betriebliche Mitbestimmung – Schummers Formel: »Dort, wo es mehr Betriebsräte gibt, gibt es auch mehr Tarifverträge.«

Dennoch, die Erosion der Tarifbindung sei bereits lange im Gange, weiß die grüne Gewerkschafterin Müller-Gemmeke. Das Bundeskabinett habe es verpasst, so ihr Urteil, »in dieser Legislaturperiode Reformen anzustoßen, um den Negativtrend zu stoppen«.

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