Armut: »Je schwerer sich digitale Zugänge und Kontaktbeschränkungen für bestimmte Personengruppen auswirken, desto mehr muss in alternative Zugangsmöglichkeiten investiert werden.«

Sozialer Notstand

Störfaktor werden

Aktivisten fordern Berücksichtigung und Teilhabe von Armen und Erwerbslosen. Evangelisches Hilfswerk Diakonie unterstützt Initiatoren
Von Bernd Müller  Junge Welt  vom 10. Juni 2021

Sie kommen kaum vor: Menschen in Armut. Im Wahlkampf wollen sie das ändern. Unterstützt werden sie dabei vom evangelischen Hilfswerk Diakonie. Am Mittwoch haben sie ein Fünfpunktepapier bei einer Onlinepressekonferenz vorgestellt, mit dem sie auf den sozialen Notstand hierzulande hinweisen.

Michael Stiefel ist einer von ihnen, er engagiert sich beim Armutsnetzwerk. »Die Coronakrise hat das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt«, sagte er bei der Vorstellung des Papiers. Aber besonders hart habe es die getroffen, die schon zuvor mit schweren Belastungen zu kämpfen hatten. Corona bedeute: »Manche gehen in den Lockdown, andere in den Logout, weil sie von allem ausgeschlossen sind«.

Arm zu sein, heißt ständig zu improvisieren. Die Regelsätze in der Grundsicherung seien zu knapp bemessen, so dass jede unvorhergesehene Ausgabe die Existenz bedrohen kann. Armut wird als Verlust von Freiheit wahrgenommen, sagte Stiefel. Was für die meisten Personen normal sei, gelte nicht für Arme: etwa einfach Freunde im Restaurant treffen, in den Urlaub fahren.

Vor der Pandemie waren Essensausgaben, Tagestreffs, kulturelle Angebote, die mit wenig oder ohne Geld wahrgenommen werden können, wichtig, um überhaupt soziale Kontakte zu haben – in der Pandemie ist auch das weggefallen. Dabei nehme die Distanz zu – und stiegen zugleich die Bedarfe, weiß Stiefel. Damit sei aber auch ein entscheidender Faktor für die Selbstorganisation von Erwerbslosen weggefallen.

In der Pandemie leiden viele von denen, »deren Lebenswirklichkeit Armut ist«, an Einsamkeit, sagte Helga Röller auf der Onlinepressekonferenz. Röller ist Aktivistin in Erwerbslosennetzwerken. Die Menschen seien aus ihren sozialen Bezügen herausgedrängt worden. »Ihnen fehlen schon allein die Kreditkarte für die Onlinebuchung im Freibad.« Die Ausgrenzung sei größer und stärker geworden. Darum sei es höchste Zeit für einen demokratischen Streit um Sozialpolitik und Armutsbekämpfung. Es reiche nicht aus, mit einem einmaligen Zuschuss in Höhe von 150 Euro abgespeist zu werden. Nicht nur Viren müssten bekämpft werden, sondern auch Armut und Ausgrenzung. »Armut stört nicht, wenn sie hinter verschlossenen Türen existiert«, sagte Röller und betonte: Arme müssten »wieder selbst zum Störfaktor werden«. Sie seien Experten in eigener Sache, heißt es in dem Fünfpunktepapier, gleichwohl spielten ihre Erfahrungen und Sichtweise bei politischen Entscheidungen keine Rolle. »Wir wehren uns gegen alle Formen der Ausgrenzung und fordern das demokratische Recht auf gesellschaftliche Mitgestaltung ein.«

Die Diakonie hat erklärt, die Betroffenen zu unterstützen, ihre Selbstorganisation und Vernetzung bundesweit zu fördern. Dafür stelle sie die notwendigen Ressourcen zu Verfügung, dass arme Menschen ihre eigene Interessenvertretung aufbauen können: Fahrtkosten, Technik, Tagungskosten, organisatorische Hilfen, Hilfen beim Zugang zu Medien. Die Beteiligten entscheiden aber selbst über Inhalte und Arbeitsschritte, sagte Maria Loheide, verantwortlich für Sozialpolitik im Vorstand der Diakonie Deutschland.

Mit dem vorgestellten Papier ist ein erster Schritt getan. Neben einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums fordern die Initiatoren auch ein Umdenken bei Coronaregeln. »Kontaktbeschränkungen und Pandemiemaßnahmen müssen differenziert gedacht werden«, lautet eine Forderung. Generell müsse gelten: »Je schwerer sich digitale Zugänge und Kontaktbeschränkungen für bestimmte Personengruppen auswirken, desto mehr muss in alternative Zugangsmöglichkeiten investiert werden.«

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