Im Vergleich zum TVöD bis zu rund 800 Euro weniger Lohn – ohne Tarifbindung !

Die einen sind drin und wollen mehr, die anderen sind draußen, wollen rein und würden mehr bekommen.

Anmerkungen zur Zwei-Klassen-Tarifgesellschaft

Immer wieder wird allgemein diskutiert über die abnehmende Tarifbindung und über mögliche Wege, diese Entwicklung aufzuhalten und umzukehren (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Was könnte man machen gegen die abnehmende Tarifbindung? Zur möglichen Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen vom 30. Juni 2021). Aber hin und wieder sollte man auch ein paar Etagen runtersteigen, in die Niederungen der Prozesse, bei denen es ganz handfest um Auslagerungen mit dem Ziel der Tarifflucht, um unvollständige Tarifverträge und um den Kampf der Beschäftigten geht, an diesen Situationen etwas zu verändern.

Nehmen wir als Beispiel die Krankenhausbeschäftigten der Charité, Vivantes und den Tochterunternehmen in Berlin. Im Mai 2021 berichtete Mischa Pfisterer unter der Überschrift 100 Tage Ultimatum: »Berliner Krankenhausbeschäftigte fordern mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen – für alle Klinikmitarbeiter bundesweit.« Tausende Beschäftigte der beiden Häuser haben eine Petition unterzeichnet, die dem Berliner Senat übergeben wurde – und den Klinikleitungen, verbunden mit einem 100-Tage-Ultimatum, die Forderungen zu erfüllen. Ansonsten würde man streiken.

Es sind zwei zentrale Forderungen, die von der Berliner Krankenhausbewegung gestellt werden:

1.) Nach wie vor gibt es bei den Tochterunternehmen von Vivantes in der Reinigung, im Labor, in der Speiseversorgung, im Patiententransport und vielen weiteren Bereichen Beschäftigte ‚zweiter Klasse‘, die endlich faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen fordern. Die Beschäftigten der Vivantes-Tochterunternehmen haben geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen, als Beschäftigte, die die gleiche Arbeit in anderen städtischen Krankenhäusern oder als ‚Gestellte‘ (Beschäftigte mit Altverträgen von Vivantes und der Charité) machen. Man will hier (wieder) unter das Dach des TVöD kommen. Die Einkommenseinbußen, die den Beschäftigten in diesen Tochterunternehmen im Vergleich zu einer Vergütung nach dem TVöD entstehen, sind erheblich – es handelt sich um mehrere hundert Euro pro Monat:

Dazu aus dem Artikel von Mischa Pfisterer: »Felix Bahls reicht es. Bahls arbeitet bei der Labor Berlin GmbH, einer Tochter von Charité und Vivantes. „Wir fühlen uns wie Beschäftigte zweiter Klasse“, klagt er. „Das muss aufhören.“ Labor Berlin ist nur eine der Töchter, die Anfang der 2000er Jahre ausgegliedert wurden.« So wie die Reinigung, der Patiententransport, die Wäscherei oder die Speiseversorgung. „Damit hat man die Situation erzeugt, dass Altbeschäftige nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD) bezahlt werden und die Neubeschäftigten zu deutlich schlechteren Bedingungen eingestellt werden“, wird Maike Jäger, Verdi-Fachbereichsleiterin Gesundheit und Soziales, zitiert. „Ich habe Kollegen, von denen ich weiß, dass sie explizit mehr verdienen als ich“, berichtet der Laborangestellte Bahls. Das können schon mal 800 Euro im Monat mehr sein. Für die gleiche Tätigkeit. Für die gleiche Arbeit.

Der neue Tarifvertrag soll für alle Beschäftigen gelten – auch für die der Tochterunternehmen.

2.) Die zweite Forderung kommt aus den Reihen der Pflegekräfte: Gefordert wird ein Tarifvertrag Entlastung, mit dem verbindliche Personalbesetzungen geregelt werden sollen. Damit reagiert man auf das faktische Ergebnis eines 2015 zu Recht gefeierten Durchbruchs, denn 2015 ist es den Beschäftigten an der Charité gelungen, einen Tarifvertrag Entlastung zu erkämpfen (vgl. aus der damaligen Berichterstattung beispielsweise den Beitrag Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.05.2015). »Vor sechs Jahren waren die Pflegekräfte an der Charité die ersten, die den Personalmangel in den Mittelpunkt eines unbefristeten Arbeitskampfes stellten und damit zum Vorbild für eine bundesweite Tarifbewegung an Kliniken wurden. Nun wollen sie nachsteuern und bis zur Abgeordnetenhauswahl im September eine tarifvertraglich garantierte Entlastung der Pflegekräfte erreichen«, berichtet Mischa Pfisterer und lässt die Intensivkrankenschwester Jeannine Sturm zu Wort kommen: Die damals vereinbarten „Regeln (werden) einfach ignoriert, weil keine Sanktionen vorgesehen sind“. Eine mögliche Nachschärfen des Entlastungstarifvertrags wird auch andere sehr interessieren, denn bundesweit sind mittlerweile 17 Krankenhäuser dem Berliner Tarifvertrag von 2015 gefolgt.

Die Pflegebeschäftigten fordern einen neuen sogenannten Tarifvertrag Entlastung, mit dem die Personalbesetzung pro Schicht verbindlich festgelegt werden soll. Bei Unterbesetzung einer Schicht sollen die Beschäftigten einem Belastungsausgleich in Form von Geld oder Freizeit bekommen. Eine Unterschreitung der verhandelten Besetzung wird automatisch im Dienstprogramm erfasst. Alle, die in Unterbesetzung gearbeitet haben, erhalten einen Belastungsausgleich in Freizeit oder Geld. Das gibt es schon an anderer Stelle: An der Uniklinik Jena erhalten die Beschäftigten für sechs Schichten in Unterbesetzung einen zusätzlichen freien Tag. Dadurch soll auch der Druck auf die Arbeitgeber steigen, neues Personal einzustellen. Und die Politik müsste natürlich eine Gegenfinanzierung ermöglichen, deshalb hat die Berliner Krankenhausbewegung das Ultimatum auch so platziert, dass bei Nicht-Handeln ein Arbeitskampf einige Wochen vor der Wahl möglich werden könnte. In Berlin wird am 26. September 2021 nicht nur der Bundestag gewählt, sondern auch eine neue Bürgerschaft, also der Landtag des Stadtstaates.

Nun sind bereits die ersten 50 Tage des Ultimatums verstrichen. Wie sieht es aktuell aus? Damit beschäftigt sich Jörg Meyer in seinem Artikel Eine Belegschaft, ein Kampf: »50 Tage haben die Arbeitgeber noch Zeit, sich auf Tarifverhandlungen einzulassen. Dann drohen Streiks an den Kliniken. Die Berliner Krankenhausbewegung mobilisiert und erfährt großen gesellschaftlichen Rückhalt. So findet eine für den 9. Juli geplante Delegiertenversammlung, zu der mehrere 1000 Menschen erwartet werden, in der Alten Försterei statt, dem Stadion des Fußball-Bundesligisten Union Berlin.«

Dieses eine Beispiel von vielen kann verdeutlichen, dass es ein ziemlich mühsames Geschäft ist, sich die Tarifbindung (zurück) zu erkämpfen und bei Tarifverträgen nachzulegen, wenn man erkennt, dass das eigentlich anvisierte Ziel nicht getroffen wurde.

Zugleich wird an diesem Beispiel aber auch erkennbar, dass im Hintergrund ein Problem lauert, dessen Ausmaße man nicht unterschätzen sollte. Selbst wenn man sich einmal vorstellt, die beiden Krankenhausträger würden den Forderungen nachgeben, dann steigt natürlich aus deren Sicht das Kostenniveau erheblich. Und wenn das nicht oder nur teilweise gegenfinanziert wird, dann verschlechtert sich die Wettbewerbssituation gegenüber den anderen Krankenhausträgern, die möglicherweise zu erheblich niedrigeren Kosten „produzieren“ können. Das hier angesprochene Gefälle ist ja auch ein wichtiger Grund für die in den vergangenen Jahren beobachtbare Tarifflucht (und auch die Auslagerung bestimmter Arbeitsbereiche in nicht-tarifgebundene Tochterunternehmen ist hier als praktisches Beispiel zu subsumieren). Man muss sich das bei Wettbewerb zwischen den Kliniken so vorstellen wie das auch in anderen Branchen funktioniert: bei einem spürbaren Kostengefälle, weil die einen Beschäftigten deutlich billiger zu haben sind, sitzen auch die Unternehmen, die sich an einen Tarif halten oder gar die Bestimmungen des Tarifvertrages zugunsten der Beschäftigten verbessern, auf einer schiefen Ebene und rutschen über kurz oder lang nach unten, so dass auch sie alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um die Kostenvorteile der anderen Wettbewerber zu reduzieren oder auszugleichen. Da wäre man dann wieder bei der Frage, wie man diese schiefe Ebene und das Abrutschen der „guten“ Arbeitgeber nach unten verhindern kann.

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