»Mit dieser kümmerlichen Regelsatzerhöhung für Kinder im Hartz-IV-Bezug kann die Kinderarmutsquote in Deutschland nicht gesenkt werden, da sie nicht mal die Inflationsrate kompensiert.«

„Grundsicherung“

Kürzungen bei den Ärmsten

»Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums«: Sozialverbände kritisieren neue Hartz-IV-Regelsätze als verfassungswidrig
Von Bernd Müller  junge welt 9.10.2021

Lebensmittel werden in Deutschland teurer, die Energiepreise gehen durch die Decke – für arme Menschen werden Grundnahrungsmittel und eine warme Wohnung zunehmend unerschwinglich. Ab 1. Januar 2022 erhalten all jene, die auf Leistungen zur Grundsicherung angewiesen sind, gerade mal drei Euro mehr im Monat. Sozialverbände monieren schon seit geraumer Zeit, dass diese Erhöhung viel zu gering ausfällt. Nun wird ihre Argumentation durch ein Rechtsgutachten untermauert, das besagt: Die dürftige Anhebung der Regelsätze verstößt gegen das Grundgesetz.

Der Paritätische Gesamtverband hatte das Gutachten in Auftrag gegeben und am Freitag veröffentlicht. Doch auf die entscheidende Abstimmung im Bundesrat hatte es keinen Einfluss mehr: Dort wurden die neuen Regelsätze am Freitag von den Vertretern der Bundesländer abgenickt.

Das Gutachten wurde von der Rechtswissenschaftlerin Anne Lenze erstellt. Sie verweist in dem Papier auf einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte im Jahr 2014 festgestellt, dass die Regelbedarfe bereits an der untersten Grenze dessen liegen, was verfassungsrechtlich geboten ist. Lenze ist nun der Auffassung, dass die geringfügige Anpassung der Regelsätze in Verbindung mit der anziehenden Inflation eine »neue Stufe der Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums« bedeute. Sollte der Gesetzgeber nicht aktiv werden, um die absehbaren Verluste an Kaufkraft abzuwenden, verstoße er damit gegen die Verfassung, so das Fazit der Juristin.

Der Sozialverband hatte bereits im April darauf hingewiesen, dass durch die Art und Weise der Fortschreibung der Regelsätze reale Kaufkraftverluste drohen. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, konstatierte am Freitag in einer Erklärung, Einschätzungen vieler Fachleute seien nicht beachtet worden. Seit Monaten sei absehbar gewesen, dass nach den geltenden Regeln im kommenden Jahr eine Nullrunde drohe, bei gleichzeitig spürbarem Anstieg der Lebenshaltungskosten. »Der Vorgang ist nicht nur für die betroffenen Menschen hart und folgenschwer – er unterläuft darüber hinaus grundsätzlich den sozialstaatlichen Grundauftrag, das menschenwürdige Existenzminimum sicherzustellen«, so Schneider. Auch wenn die Regierungsbildung noch ausstehe, müsse der Bund einschreiten.

Ein breites Bündnis aus Sozialverbänden wandte sich am Freitag mit einem Appell an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). »Es braucht eine rote Linie bei existenzsichernden Leistungen wie Hartz IV«, heißt es in dem Papier. Wenigstens müssten Preissteigerungen immer und zeitnah ausgeglichen werden. Umgehendes Handeln sei nötig, »um die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten in unserer Gesellschaft zu stoppen«. Getragen wird der Appell von 15 Verbänden und Organisationen, die bundesweit tätig sind.

Das Deutsche Kinderhilfswerk forderte eine komplette Neuberechnung der Regelbedarfe. »Mit dieser kümmerlichen Regelsatzerhöhung für Kinder im Hartz-IV-Bezug kann die Kinderarmutsquote in Deutschland nicht gesenkt werden, da sie nicht mal die Inflationsrate kompensiert«, erklärte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann. Die Sätze entsprächen in keiner Weise »dem notwendigen soziokulturellen Existenzminimum«. Dringend sollten die Regelbedarfe auf ein Niveau angehoben werden, das echte gesellschaftliche Teilhabe möglich mache.

Berechnet werden die Bedarfe jährlich anhand der Preisentwicklung und der Entwicklung der Nettolöhne. Die zuletzt deutlich gestiegenen Verbraucherpreise werden allerdings erst bei den Berechnungen für das Jahr 2023 berücksichtigt, wie das Sozialministerium am Freitag noch einmal gegenüber der Deutschen Presseagentur bestätigte. Die gesetzlich vorgeschriebene Methodik lasse keinen Entscheidungsspielraum.

Für alleinstehende Erwachsene steigt der Regelsatz um drei Euro auf 449 Euro. Der Satz für Jugendliche ab 14 Jahren steigt ebenfalls um drei auf 376 Euro. Erwachsene, die mit anderen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten künftig 404 Euro. Erwachsene unter 25 Jahren, die gemäß den Vorschriften bei ihren Eltern leben müssen, erhalten 360 Euro. Für Kinder bis fünf Jahre steigt der Regelsatz um zwei auf 285 Euro, für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren erhöht sich der Satz ebenfalls um zwei auf 311 Euro.

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