4 Millionen VollzeitarbeiterInnen im Niedriglohn

Arbeit und Soziales:Jeder Fünfte verdient wenig – trotz Vollzeit

Millionen Arbeitnehmer bekommen nur bis zu 2300 Euro brutto im Monat, obwohl sie voll arbeiten. Die Lohngrenze spaltet Deutschland in Mann und Frau, Akademiker und Ungelernte, Stadt und Land.

Von Alexander Hagelüken

Wie weit reicht das Geld, wenn jemand voll arbeitet, aber maximal 2284 Euro im Monat verdient? Brutto, also vor allen Abzügen? Wie jemand damit finanziell über die Runden kommt, hängt davon ab, was er für Miete und anderes zahlt. Klar ist: Es sind ziemlich viele, die das versuchen müssen. Tag für Tag, Monat für Monat. 2020 waren es vier Millionen, fast jeder fünfte Vollzeitarbeiter. Das zeigt eine neue Studie vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI).

„So ein Verdienst trotz Vollzeit ist dürftig“, sagt WSI-Forscher Eric Seils. „Wer Alleinverdiener ist, kann davon gerade in Gegenden mit höheren Mieten nur schlecht leben. Und wer dauerhaft zu diesem Lohn arbeitet, wird nur eine sehr kleine Rente erhalten.“ Höchstens knapp 2300 Euro, damit verdient jemand weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttolohns. An dieser Einkommensgrenze spaltet sich das Land: in Mann und Frau, Stadt und Land, West und Ost, Akademiker und Menschen ohne Abschluss.

Schon zwischen den Berufen klaffen große Unterschiede. Wer beim Staat angestellt ist, in der Bank oder Autofirma, der verdient fast immer mehr. Ganz anders Kellner, Köchinnen und Leiharbeiter. In der Gastronomie bringen zwei von drei Beschäftigten weniger als knapp 2300 Euro nach Hause, obwohl sie annähernd 40 Stunden arbeiten. In der Landwirtschaft ist es jede oder jeder Zweite. Überdurchschnittlich oft schlecht bezahlt sind auch Kunst und Unterhaltung, Logistik und Handel. Sozial- und Gesundheitsberufe rangieren dagegen nah am Durchschnitt.

Auch die Qualifikation schlägt sich direkt aufs Konto durch. Akademiker bleiben selten unter der Lohngrenze, beinahe jeder zweite Arbeitnehmer ohne Abschluss dagegen schon. Generell gilt: Jung verdient schlechter. Und das Geschlecht hat ebenfalls Auswirkungen auf das Gehalt. Jede vierte Frau verdient trotz Vollzeit dürftig – bei den Männern ist es nur weniger als jeder sechste. Dabei bleiben sogar noch all die Arbeitnehmerinnen außen vor, die in Teilzeit (meist nicht so toll) verdienen.

„Unsere Analyse zeigt einige positive Tendenzen.“

Es gibt auch Fortschritte. So hat der zehnjährige Wirtschaftsboom bis zur Corona-Krise den Anteil der Wenigverdiener etwas reduziert. „Unsere Analyse zeigt einige positive Tendenzen“, sagt Helge Emmler, der ebenfalls am gewerkschaftsnahen WSI-Institut forscht. Das hilft vor allem dem Osten. Dort schrumpfte der Anteil der Wenigverdiener von fast 40 auf knapp 30 Prozent. Immerhin.

Betrachtet man alle Landkreise und Städte in Deutschland, fällt der Verdienst von West nach Ost trotzdem steil ab (siehe Grafik). In Wolfsburg, Stammsitz des Autokonzerns VW, gibt es kaum schlecht Bezahlte. Der höchste Anteil findet sich im Erzgebirgskreis. Die Lohndaten sind keine Schätzung, sondern stammen direkt von den Arbeitgebern. Sie müssten deshalb bis auf die regionale Ebene hinunter ein korrektes Bild zeichnen, so die Forscher.

Ein Gefälle herrscht auch zwischen Süd und Nord. Und zwischen Stadt und Land. Industrie, Finanzbranche, Wissensbereich und Verwaltung sitzen meist in Ballungsräumen. Auf dem Land sind diese gut zahlenden Arbeitgeber weitaus seltener. Gegenden mit vielen Wenigverdienern finden sich im Westen daher auf dem Land, gerade nahe der Grenzen.

Wer in der Stadt wohnt, verdient meist mehr. Aber davon hat er nicht unbedingt etwas, erklärt WSI-Forscher Eric Seils: „In Regionen mit hohen Mieten sind zumeist die Löhne höher. Das bedeutet aber nicht unbedingt mehr Kaufkraft für die Beschäftigten, weil die Mieten und Preise den höheren Lohn gleichsam auffressen.“ Das gilt besonders bei starken Preissteigerungen. Die realen Löhne, also die Löhne abzüglich Inflation, schrumpften vergangenes Jahr nennenswert – zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren.

Mit einem Mindestlohn von zwölf Euro würde die Kaufkraft zunehmen

Was lässt sich für all die Bürger mit niedrigem Einkommen tun? Vielen würde helfen, wenn die neue Ampel-Regierung den Mindestlohn wie geplant auf zwölf Euro steigert. „Wer bisher weniger verdient, für den bedeutet das meist ein Lohn-Plus von gut 20 Prozent – auf einen Schlag“, rechnet Robert Feiger vor, Chef der Gewerkschaft IG Bau. „Die Menschen werden damit notwendige Anschaffungen für den Haushalt machen und sich Dinge leisten, auf die sie bislang verzichten mussten.“ Nach einer Studie des Pestel-Instituts nimmt die Kaufkraft der Arbeitnehmer um zehn Milliarden Euro zu – pro Jahr.

Ökonomen diskutieren außerdem Modelle, wonach Niedrigverdiener weniger Sozialabgaben abführen müssten. Sie hätten dann von ihrem überschaubaren Bruttolohn am Ende mehr übrig.

Helfen würde auch, wenn mehr Unternehmen Tariflöhne einhalten, die ein höheres Einkommen bescheren. Mitte der 1990er-Jahre bezahlten die Firmen 70 Prozent der Beschäftigen im Westen nach Tarif. Heute sind es unter 50 Prozent. Im Osten hat sich die Tarifbindung fast halbiert. „Wir wollen die Tarifbindung stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden“, verspricht der Koalitionsvertrag der Ampel. Wie das genau aussehen soll? Darauf fehlt die Antwort noch.

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