Die ignorierte Armut / Kinderarmut

Bürgergeld statt Hartz IV: Die ignorierte Armut

Blätter für deutsche und internationale Politik, Febr 2022

Die Ampel-Koalition benennt Hartz IV in Bürgergeld um und übertüncht damit die gravierenden Probleme der Grundsicherung, kritisierte Maike Rademaker in der Januar-Ausgabe der »Blätter«. Diese Kritik teilen die Sozialwissenschaftler Wiebke Schröder und Jonas Pieper – allerdings widersprechen sie entschieden Rademakers Aussage, mehr Geld für Hartz-IV-Beziehende ändere nichts an deren Situation.

Hartz IV ist eine Großbaustelle und die bisher von der Ampel angestrebten Veränderungen gehen das Problem im Kern nicht an. Dieser Aussage von Maike Rademaker folgen wir. Doch mit dem Versuch der Autorin, die finanzielle Not von Millionen Grundsicherungsbeziehenden auszublenden, trennen sich argumentativ unsere Wege: Rademaker hält mehr Geld für Betroffene für einen paternalistischen Ansatz und kann daher auch in einer Erhöhung der Regelsätze keine wesentliche Verbesserung erkennen: „Denn mit lediglich mehr Geld – ob 5,50 oder 500 Euro – wird Hartz IV eher zementiert als aufgelöst.“ Dies zeigt deutlich: Die Armut, die Hartz IV produziert, zählt aus Rademakers Sicht nicht zu den entscheidenden Problemen des Systems. Das aber ist ein großes Versäumnis.

Zunächst ist es ein Missverständnis davon auszugehen, dass die Ampel die brutalen Härten von Hartz IV in finanzieller Hinsicht hinter sich lassen möchte. Ganz im Gegenteil müssen wir aufgrund des Koalitionsvertrages annehmen, dass die Regierungsparteien die bisherigen Regelsätze mit dem Bürgergeld fortschreiben wollen. Sie sehen sich bisher nicht einmal dazu veranlasst, die zusätzlichen Kaufkraftverluste der Ärmsten wirksam abzumildern: Während die Verbraucherpreise seit dem Winter 2020 um mehr als fünf Prozent angestiegen sind, beträgt die Regelsatzanpassung zu Beginn dieses Jahres gerade einmal 0,7 Prozent. Ein Gutachten im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes warnt deshalb davor, dass die seit Januar geltende Regelsatzhöhe verfassungswidrig ist.[1] Erst Mitte Januar kündigte der grüne Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck immerhin eine Kompensation für die rasant gestiegenen Energiepreise an.

Februar 2022

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe Februar 2022. Klicken Sie hier, um zur Inhaltsübersicht dieser Ausgabe zu gelangen.

»Für eine gesunde Ernährung reicht der für Lebensmittel vorgesehene Betrag mitnichten aus.«

Der Hartz-IV-Regelsatz für eine alleinlebende Person liegt seit Januar 2022 bei 449 Euro. Damit muss diese Ausgaben für Lebensmittel, Strom, Körperpflege, Kommunikation und Kleidung decken; die Miete und Heizkosten werden gesondert übernommen. Bricht man die Summe auf die Bereiche herunter, aus denen sie sich zusammensetzt, veranschaulicht dies den permanenten Mangel: So sind für Lebensmittel 156 Euro im Monat vorgesehen, also rund 5 Euro pro Tag. Für eine gesunde Ernährung nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung reicht das mitnichten aus. Die Diskrepanz zwischen dem Hartz-IV-Betrag und dem, der in der Bevölkerung als notwendig erachtet wird – laut einer Forsa-Umfrage rund 300 Euro im Monat –, ist gewaltig.[2]

Auch in anderen Bereichen liegen die Beträge fern der finanziellen Realitäten: Für Strom stehen rechnerisch 38 Euro zur Verfügung, während das Vergleichsportal „Check 24“ jüngst in der Grundversorgung monatliche Stromkosten in Höhe von durchschnittlich 50 Euro kalkulierte.[3] Je nach Region und Haushaltstyp fällt die Unterdeckung auch deutlich höher aus: So errechnete die Verbraucherzentrale NRW 2018 für eine Alleinerziehende mit Kind eine Unterversorgung beim Strompreis von bis zu 52 Euro im Monat.[4] Betroffene müssen dann, um ihre Stromkosten decken zu können, an anderer Stelle einsparen. Da die Regelsätze insgesamt nicht bedarfsdeckend sind, ist das Risiko hoch, dass Grundsicherungsbeziehende ihre Stromrechnungen schlicht nicht mehr bezahlen können. Ihnen droht im schlimmsten Fall eine Stromsperre mit weiteren schwerwiegenden Folgen.

Drittes Beispiel für den Mangel im Hartz-IV-System: Mobilität. Die hierfür monatlich vorgesehenen 40 Euro reichen bei weitem nicht aus, um die dafür anfallenden Kosten zu decken. Selbst wer das Glück hat, in einer Gegend mit einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr zu leben, kann mit dieser Summe schwerlich die Ausgaben bestreiten, die für ein reduziertes Monatsticket, die ein oder andere Fernfahrt im Jahr und beispielsweise ein Fahrrad anfallen. Weitaus auswegloser stellt sich die Lage für all jene dar, die auf dem Land fernab einer solchen Infrastruktur leben.

»Eine Armutspolitik, die sich lediglich darauf konzentriert, Menschen in Arbeit zu bringen, greift zu kurz.«

Die kleingerechneten Regelsätze bedeuten somit Entbehrung und Ausgrenzung – oder kurz: Armut.[5] Selbstverständlich ist dies nicht das einzige Problem bei Hartz IV: Die Kürzungen des Existenzminimums durch Sanktionen, eine unzureichende psychosoziale Betreuung oder der strikte Vermittlungsvorrang tragen zu einem System bei, das eben nicht vorrangig der Hilfe und Unterstützung dient. Doch beim Blick in die Praxis wird deutlich: Die materiellen Entbehrungen eines Lebens in Hartz IV sind ein zentrales Problem. Denn Schulden hängen, anders als Rademaker es behauptet, sehr wohl auch mit den finanziellen Engpässen in Hartz IV zusammen. Und gerade auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen stellt es eine enorme Belastung dar, wenn das Geld nicht ausreicht, um sicher durch den Monat zu kommen.

Geld ist die Schlüsselressource zur gesellschaftlichen Teilhabe. Wessen Einkommen – ganz gleich, ob man es aus Erwerbsarbeit, aus Sozialleistungen oder aus beidem erzielt – eine gewisse Grenze unterschreitet, hat es hierzulande schwer, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen: Dann ist kein noch so kurzer Urlaub mehr möglich, steht die Essenseinladung an Freund*innen in Frage und auf das Kinderfahrrad muss ebenfalls lange gespart werden. Wo die Armutsgrenze genau verläuft, hängt vom gesellschaftlichen Wohlstand ab. Je reicher eine Gesellschaft insgesamt ist, desto höher liegen die Preise und desto mehr Geld braucht jede*r Einzelne, um am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. 2020 lag die empirisch ermittelte Armutsgrenze für eine alleinstehende Person hierzulande bei 1126 Euro.[6]

16,1 Prozent oder rechnerisch 13,4 Millionen Menschen gelten demnach als einkommensarm, darunter knapp drei Millionen Kinder und Jugendliche. Von den erwachsenen Armen sind mehr als ein Drittel aktuell erwerbstätig. Ein knappes weiteres Drittel bezieht Rente oder eine Pension. 35 Prozent der erwachsenen Armen sind erwerbslos, darunter ein großer Teil, der dem Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen kurzfristig nicht zur Verfügung steht, beispielsweise wegen der Betreuung kleiner Kinder, der Pflege älterer Menschen oder wegen einer Ausbildung bzw. Weiterqualifikation. Diese Zahlen zeigen bereits deutlich, dass eine Armutspolitik, die sich lediglich darauf konzentriert, Menschen in Arbeit zu bringen, unweigerlich zu kurz greift.

Seit Mitte der 2000er Jahre ist daher auch die Armutsquote um zwei Prozentpunkte gestiegen: Lag sie 2006 bei 14 Prozent, kletterte sie bis 2019 auf 15,9 Prozent – und im Pandemiejahr 2020 auf 16,1 Prozent.[7] Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen. Das ist die wirkliche Großbaustelle, die es anzugehen gilt.[8]

»Eine gute, sozialen Aufstieg ermöglichende Bildungspolitik ist wichtig – doch sie hilft akut keinem Kind, das derzeit in Armut aufwächst.«

Die Bilanz der Armutspolitik der vergangenen 15 Jahre fällt somit alles andere als gut aus. Viel zu viel wurde auf eine Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik gesetzt, die Armut höchstens mittelfristig reduzieren können und in keinem Fall dazu geeignet sind, Armut im Hier und Jetzt abzuschaffen. Eine gute Bildungspolitik, die sozialen Aufstieg ermöglicht, ist ohne Frage wichtig und wird vielerorts schmerzlich vermisst. Doch hilft sie akut keinem Kind, das derzeit in Armut aufwächst. Und eine arbeitsmarktpolitische Armutsbekämpfung setzt darauf, die Vermarktungsfähigkeit der Arbeitskraft zu steigern, wie es auch Maike Rademaker in ihrem Text vorschlägt. Dies zum Schwerpunkt der Armutsbekämpfung zu machen, ist jedoch ein Irrtum. Denn, wie gezeigt, sind erwachsene Arme zum Großteil gar nicht arbeitslos. In der großen Mehrheit sind sie Rentner*innen oder zu geringfügigen Löhnen beschäftigt.

In der Pandemie gelang es der großen Koalition immerhin, eine weitaus größere Armut zu verhindern, die angesichts des massiven wirtschaftlichen Einbruchs und des rasanten Anstiegs der Arbeitslosigkeit drohte. Unter den zahlreichen Hilfsmaßnahmen wirkte hier insbesondere das Kurzarbeitergeld überaus positiv. Gemeinsam mit dem Arbeitslosengeld I wurden so zwar Einkommenseinbußen nicht verhindert, sehr viele Menschen konnten allerdings vor dem Abrutschen in die Armut geschützt werden. Nicht zuletzt angesichts dieser positiven Bilanz der Leistungen des Arbeitslosengeldes I, mit der ein rasanter Anstieg der Armut vermieden werden konnte, ist die von Rademaker behauptete Ähnlichkeit der Situationen im SGB II und SGB III irreführend. Gewiss ist das Arbeitslosengeld I nicht immer armutsvermeidend, wofür ein Mindestarbeitslosengeld oberhalb von Hartz IV eine passende Lösung wäre, aber seine positiven armutspolitischen Effekte sind offensichtlich. Die Leistungen des SGB II sind dagegen in fast allen Fällen derzeit nicht armutsfest.

»Eine wirksame Armutspolitik kommt nicht umhin, die Regelsätze in der Grundsicherung signifikant zu erhöhen.«

Im besonderen Kontrast dazu steht deshalb auch, wie wenig die große Koalition für bereits arme Menschen übrig hatte: Erst ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie und nur unter erheblichem öffentlichem Druck aus der Zivilgesellschaft rang sich die Bundesregierung im Februar 2021 dazu durch, allen Grundsicherungsberechtigten eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 150 Euro zu zahlen.[9] Die laufenden und gestiegenen Kosten, die durch eingeschränkte Hilfsangebote, für Masken, Hygieneartikel und gestiegene Lebensmittelpreise anfielen, konnten dadurch allerdings bei weitem nicht ausgeglichen werden.

Der armutspolitische Handlungsdruck für die neue Bundesregierung ist also groß. Und tatsächlich haben die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag einige Maßnahmen verabredet, die zu einer Senkung der Armut beitragen könnten. Zuallererst ist hier die Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 9,82 Euro auf 12 Euro pro Stunde zu erwähnen, was zu deutlichen Einkommenszuwächsen im unteren Lohnbereich führen wird. Zudem sollen die Kindergrundsicherung und der vorübergehende Sofortzuschlag die Kinderarmut senken. Ob dies gelingt, wird indes von der genauen Ausgestaltung abhängen, insbesondere von der Bereitschaft, Mehrausgaben zu finanzieren. Auch Verbesserungen beim Wohngeld, BAföG und den Erwerbsminderungsrenten könnten Armut hierzulande bekämpfen.

Allerdings drohen die positiven Effekte in der Dynamik der Armutsentwicklung unterzugehen, sollte die Ampelkoalition zentrale armutspolitische Maßnahmen ausklammern. Dazu zählen ein besserer Schutz vor Armut durch die Arbeitslosenversicherung, eine Mindestrente gegen Altersarmut und eine effektive Politik zur Mietpreisdämpfung. Eine wirksame Armutspolitik kommt außerdem nicht umhin, die Regelsätze in der Grundsicherung signifikant zu erhöhen. Nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müssten sie auf deutlich über 600 Euro ansteigen, um armutsfest zu sein – um also die finanzielle Härte von Hartz IV tatsächlich abzuschaffen. Sollte die Ampel diese entscheidende Baustelle – die Armutssätze in der Grundsicherung – allerdings nicht angehen, kann von einer Überwindung von Hartz IV im Sinne der Betroffenen nicht die Rede sein.

[1] Anne Lenze, Verfassungsrechtliches Gutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022, Berlin 2021, www.der-paritaetische.de.

[2] Andreas Aust, Arm, abgehängt, ausgegrenzt. Eine Untersuchung zu Mangellagen eines Lebens mit Hartz IV, Berlin 2020, S. 10 ff.

[3] Check 24, Hartz-IV-Erhöhung 2022 reicht nicht für Stromkosten, Presseinformation vom 30.12.2021, www.check24.de.

[4] Verbraucherzentrale NRW, Hartz IV: Das Geld reicht für die Stromrechnung nicht aus. Berechnungen zur Deckungslücke bei Haushaltsenergiekosten und dezentraler Warmwasserbereitung für Sozialleistungsbezieher, Düsseldorf 2018.

[5] Kleingerechnet sind die Regelsätze insofern, als dass beim angewandten statistischen Modell bei den Referenzausgaben im unteren Einkommenssegment methodisch unzulässig einzelne Ausgabenposten gestrichen worden sind, insbesondere solche, die für die soziale Teilhabe relevant sind. Ausführlich hierzu: Andreas Aust, Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnung zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung, Berlin 2020.

[6] Damit folgen wir der in der amtlichen Statistik und Armutsforschung etablierten Definition von relativer Einkommensarmut, wonach arm ist, wer 60 Prozent oder weniger des mittleren Einkommens hat.

[7] Die Ergebnisse des Mikrozensus für 2020, auf denen die Armutsquote beruht, sind nach Angaben des Statistischen Bundesamts aus methodischen Gründen nur eingeschränkt mit den Vorjahreswerten vergleichbar.

[8] Mehr zur Situation der Armut in Deutschland in: Paritätischer Gesamtverband, Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021, Berlin 2021.

[9] Für eine ausführliche kritische Würdigung der Armutspolitik in der Pandemie siehe Kapitel 5 des Paritätischen Armutsberichts 2021, a.a.O.

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