20 Euro mehr pro Monat für arme Kinder- das ist die Art und Weise der Ampelregierung zur Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen

Langzeitskandal Kinderarmut – Gastbeitrag von Christoph Butterwegge

Seit fast 20 Jahren sind in unserem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land nach EU-Maßstäben etwa 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren armutsgefährdet oder armutsbetroffen; knapp 2 Millionen leben sogar von staatlichen Transferleistungen. Wie dramatisch sich unsere Gesellschaft in dieser Beziehung verändert hat, zeigt folgender Vergleich: 1965, auf dem Gipfelpunkt des sog. Wirtschaftswunders der „alten“ Bundesrepublik, bezog jedes 75. Kind Sozialhilfe; heute ist mehr als jedes 7. Kind auf Sozial- bzw. Arbeitslosengeld II angewiesen, im Volksmund „Hartz IV“ genannt. Wenn man das offizielle Kriterium der Europäischen Union zugrunde legt, in einem Haushalt zu leben, dessen Nettoeinkommen bedarfsgewichtet weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt, ist in Deutschland sogar mehr als jedes 5. Kind armutsgefährdet bzw. einkommensarm.

Die heimliche Akzeptanz der Kinderarmut

Zuerst wurde Kinderarmut geleugnet oder verharmlost, indem man die relative Einkommensarmut in Deutschland mit der absoluten, extremen oder existenziellen Armut in den Entwicklungsländern nach dem Motto kontrastierte: Wenn ein Kind in einer Lehmhütte des globalen Südens aufwächst, dann ist es „wirklich“ arm, wenn ein Kind mit Hartz IV in einem Hochhaus aufwächst, jammern seine Eltern jedoch auf hohem Niveau, hieß es.

Natürlich sieht Kinderarmut in Köln anders aus als Kinderarmut in Kalkutta. Aber erstens gibt es absolute Armut auch bei uns, wie man an Obdachlosen und „Straßenkindern“ sieht, die meistenteils Jugendliche sind. Und zweitens heißt die relative Armut nicht deshalb so, weil man sie relativieren kann. Ganz im Gegenteil: Manchmal ist die relative Armut sogar erniedrigender, demütigender und demoralisierender als die absolute. Trägt beispielsweise ein Jugendlicher im tiefsten Winter auf dem Schulhof die zerrissenen Kleidungsstücke größerer Geschwister oder bloß Sommerkleidung und Sandalen, leidet er unter dem Gelächter seiner Mitschüler/innen wahrscheinlich mehr als unter der Kälte.
Anschließend wurde die Kinderarmut hauptsächlich in der Vorweihnachtszeit zum Medienthema gemacht, wenn es darum ging, Spenden zu sammeln. Bis heute engagieren sich Gattinnen von Großverlegern, Filmschauspielerinnen und Fußballprofis auf teilweise rührende Weise darum, der Kinderarmut karitativ zu begegnen. Dies ist leider nötig, zweifellos gut gemeint und im Einzelfall hilfreich, löst aber nicht das eigentliche Problem. Denn solange die Strukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen in unserer Gesellschaft nicht verändert werden, die Kinderarmut hervorbringen, leiden auch künftige Generationen wieder darunter.

Kinderreichtum als Kehrseite der Kinderarmut

Wer über die Armut spricht, sollte vom Reichtum als ihrer Kehrseite nicht schweigen. Das gilt auch für die Kinder, unter denen es teils extrem reiche gibt: Multimillionäre und Milliardäre haben ihnen Unsummen aus steuerrechtlichen Gründen geschenkt. Vor allem hyperreiche Unternehmerfamilien übertrugen zwischen 2011 und 2014 große Teile ihres Vermögens auf ihre Kinder – aus Furcht, dass die Erbschaftsteuer für Firmenerben erhöht werden könnte, was übrigens wegen der Blockadehaltung von CDU, CSU und FDP, aber auch des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gar nicht geschah. Von den steuerfreien Unternehmensübertragungen, für die Altersangaben verfügbar sind, fielen 37 Milliarden Euro während des genannten Festsetzungszeitraums an Minderjährige; 90 Kinder unter 14 Jahren, denen ein Vermögen von mindestens 20 Millionen Euro übertragen wurde, erhielten zusammen 29,4 Milliarden Euro, was im Durchschnitt nicht weniger als 327 Millionen Euro pro Kind ergibt. Da wundert es schon, dass der Begriff „Kinderreichtum“ hierzulande nur Familien meint, die viele Kinder haben.

Entstehungsursachen der Kinderungleichheit

Dass die jungen Menschen eine sozial zerrissene Generation bilden, ist nicht zuletzt Fehlentscheidungen von Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen geschuldet. Einerseits haben sie dafür gesorgt, dass Reichtum in der Familie bleibt und man als Kind oder Jugendlicher einen ganzen Konzern in Besitz nehmen kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaft- oder Schenkungsteuer zahlen zu müssen. Andererseits haben die politischen Entscheidungsträger besonders die Kinderregelsätze bei Hartz IV so niedrig angesetzt, dass aufgrund eines Bundesverfassungsgerichtsurteils mit einem Bildungs- und Teilhabepaket halbherzig nachgebessert werden musste.

Warum bekommt ein Chefarzt durch Inanspruchnahme des Kinderfreibetrages bei der Einkommensteuer über 1.000 Euro pro Jahr mehr für sein Kind als eine Krankenschwester an Kindergeld für ihren Nachwuchs? Und warum geht kein Aufschrei durchs Land, wenn CDU, CSU und AfD ein Familiensplitting fordern, das kinderreichen Chefärzten zehntausende Euro an Steuerersparnis einbringen würde, der alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug aber keinen Cent?

Pläne der Ampelkoalition zur Bekämpfung der Kinderarmut

Mittlerweile wird Kinderarmut hierzulande zwar allenthalben beklagt, aber weiterhin nicht energisch bekämpft, obwohl man bedürftige Minderjährige schwerlich für ihre Misere selbst verantwortlich machen kann, wie das bei Erwachsenen geschieht, wenn man sie als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert. Trotzdem wurde politisch kaum etwas gegen die Kinderarmut getan, wenn man von dem allerdings selbst nach der Anhebung auf 12 Euro brutto pro Stunde ab 1. Oktober 2022 immer noch zu niedrigen Mindestlohn absieht.

Seit der Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 sanken die Zahlbeträge des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes zudem immer weiter unter die Armutsrisikoschwelle der Europäischen Union, die heute für Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren bei 1.463 Euro und für ein Paar mit zwei Kindern gleichen Alters bei 2.364 Euro liegt. Angesichts des inflationären Auftriebs der Verbraucherpreise aufgrund der Covid-19-Pandemie, des Ukrainekrieges und der westlichen Sanktionen gegenüber Russland werden die Familien im Transferleistungsbezug noch stärker abgehängt.

Die seit dem 8. Dezember 2021 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gestellte Bundesregierung will die Kinder aus Hartz IV herausholen und mehrere für sie bestimmte Leistungen (Kindergeld, Sozialgeld, Kinderzuschlag sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepakets) zu einer Kindergrundsicherung zusammenfassen. Diese soll aus zwei Komponenten bestehen, dem einkommensunabhängigen, für alle Kinder und Jugendlichen gleich hohen Garantiebetrag sowie und einem vom Elterneinkommen abhängigen, gestaffelten Zusatzbetrag.

Mit dem Garantiebetrag will man in dieser Legislaturperiode die Grundlage für das perspektivische Ziel schaffen, künftig allein durch ihn die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach Freistellung des kindlichen Existenzminimums bei der Besteuerung des Elterneinkommens zu entsprechen. Damit könnten der steuerliche Kinderfreibetrag und die Privilegierung der Eltern mit Spitzeneinkommen entfallen, ohne dass es im Koalitionsvertrag steht. Weil die FDP in ihr Wahlprogramm sogar eine Anhebung des steuerlichen Kinderfreibetrages geschrieben hatte, bleibt abzuwarten, ob Bundesfinanzminister Christian Lindner eine Gleichbehandlung aller Kinder wirklich umsetzt.

Denn obwohl für SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei der Bundestagswahl zusammen beinahe viermal so viele Zweitstimmen abgegeben wurden wie für die FDP, macht sich der übermächtige Einfluss des kleinsten Koalitionspartners auf die Regierungspolitik auch hier bemerkbar: Eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums soll die Wechselwirkungen zwischen der Kindergrundsicherung und anderen staatlichen Leistungen überprüfen, um sicherzustellen, dass sich die Erwerbsarbeit auch für Eltern lohnt. Offenbar lebt das Lohnabstandsgebot des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) unter der „Ampel“ wieder auf.

Bis zur Einführung der Kindergrundsicherung sollen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die mit ihren leistungsberechtigten Eltern in einem Haushalt leben, durch einen „Sofortzuschlag“ in Höhe von 20 Euro im Monat unterstützt werden. Das ist natürlich besser als nichts, reicht aber bei Weitem nicht aus, um das soziale Kardinalproblem der Kinderarmut zu lösen. Geduldete und nicht anerkannte Flüchtlingsfamilien gehen sogar leer aus, obwohl die vorliegenden Daten zeigen, dass gerade Kinder ohne deutschen Pass in extrem hohem Maße von Armut betroffen sind.

Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung?

Ob die Kindergrundsicherung der „Ampel“ so großzügig ausfällt, dass alle Kinder gesund ernährt, gut gekleidet und bestens ausgebildet werden können, ist angesichts des von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede zum Ukrainekrieg am 27. Februar 2022 verkündeten sicherheitspolitischen Paradigmenwechsels, wonach Rüstungsprojekte bei SPD, Bündnisgrünen und FDP nunmehr höchste Priorität genießen, stark zu bezweifeln.
Wer die Kinderarmut wirksam bekämpfen und der wachsenden Ungleichheit zwischen den Minderjährigen begegnen will, muss den Reichtum antasten. Geht es nach der „Ampel“, werden in dieser Legislaturperiode aber weder neue Substanzsteuern eingeführt noch Steuern wie die Einkommen-, Kapitalertrag- oder Körperschaftsteuer erhöht. So steht es im Koalitionsvertrag unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, der insofern irritiert, als niemand sozialen Fortschritt fürchten muss.

Nur wenn die Kindergrundsicherung sinnvoll konstruiert wird und ihr Gesamtzahlbetrag die Summe der bisherigeren Transferleistungen für Minderjährige aus einkommensschwachen Familien erheblich übersteigt, kann sie einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Kinderarmut leisten. Letztlich stellt eine Kindergrundsicherung, die Minderjährige aus dem Bürgergeld- oder Hartz-IV-Bezug herauslöst, ihre Eltern aber darin belässt, höchstens eine Teillösung des Problems der Familienarmut dar.

Die Vermögensteuer ist zwar eine Substanzsteuer, muss aber gar nicht „eingeführt“ werden – sie wird nur seit dem 1. Januar 1997 nicht mehr erhoben, steht noch in der Verfassung (Art. 106 Abs. 2 GG), aus der die FDP sie gerne tilgen würde, und könnte für mehr Steuergerechtigkeit sorgen, aber auch die Handlungsfähigkeit von Ländern und Kommunen im Kampf gegen die Kinderarmut erhöhen. Gleiches gilt in Bezug auf die Erbschaftsteuer für Firmenerben. Warum soll man weiterhin einen ganzen Konzern erben können, ohne einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen? Auch jene FDP-Politiker, die völlig zu Recht verlangen, dass sich Leistung lohnen muss, hierunter allerdings nur wirtschaftlichen Erfolg verstehen, sollten begreifen, dass es keine Leistung ist, der Sohn oder die Tochter eines Großunternehmers zu sein.

In der Steuerpolitik verspricht die „Fortschrittskoalition“ einen totalen Stillstand – außer für Unternehmen und Kapitaleigner. Diesen gönnt man eine „Investitionsprämie für Klimaschutz und digitale Wirtschaftsgüter“, indem sie 2022/23 einen Anteil der Anschaffungs- und Herstellungskosten der im jeweiligen Jahr angeschafften oder hergestellten Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, die in besonderer Weise den genannten Zwecken dienen, vom steuerlichen Gewinn abziehen können.

Neben dieser „Superabschreibung“, mit welcher der FDP-Politiker Christian Lindner seine Klientel erfreut, gibt es noch weitere Bonbons für das Kapital: Die erweiterte Verlustverrechnung wird bis Ende 2023 verlängert und der Verlustvortrag auf die zwei unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeiträume ausgeweitet. Durch „praxistaugliche Anpassungen“ beim Optionsmodell, das es Inhabern von Personengesellschaften erlaubt, um bis zu 15 Prozentpunkte niedrigere Steuern wie eine Kapitalgesellschaft zu zahlen, und bei der Thesaurierungsbesteuerung, die nicht entnommene Gewinne sogar um bis zu 16,75 Prozentpunkte begünstigt, soll die als „elementar für den Erfolg der deutschen Wirtschaft“ bezeichnete Eigenkapitalausstattung der Unternehmen verbessert werden. Von der zum 1. Januar 2023 geplanten Anhebung des „Sparerpauschbetrages“, der Zinsen, Dividenden sowie die Gewinne aus dem Verkauf von Kapitalanlagen und Termingeschäften von der Besteuerung freistellt, auf 1.000 bzw. 2.000 Euro im Falle der gemeinsamen Veranlagung von Ehepaaren profitieren wegen der niedrigen Zinsen ebenfalls nicht „kleine Sparer“, sondern vornehmlich Aktionäre und Kapitalanleger. Von einer Steuerreform, die kleine und mittlere Einkommen entlastet, wie sie fast alle Wahlkämpfer der „Ampel“-Koalition im Munde führten, ist keine Rede mehr.

Fazit: Armutsbekämpfung wird von SPD, Bündnisgrünen und FDP zwar mit einem Tunnelblick auf die betroffenen Kinder proklamiert, dürfte in der Regierungspraxis aber weiterhin sehr halbherzig praktiziert werden; Reichtumsbegrenzung wurde in den Koalitionsverhandlungen gar nicht erst diskutiert, sondern von der FDP generell blockiert. Deshalb wird es am Ende dieser Legislaturperiode eher mehr als weniger Ungleichheit auch der Kinder geben, die zu verringern SPD und Bündnisgrüne ihren Wähler(inne)n jedoch versprochen hatten.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt mit seiner Frau Carolin Butterwegge das Buch „Kinder der Ungleichheit“ bei Campus veröffentlicht.

Quelle:  https://www.blog-der-republik.de/langzeitskandal-kinderarmut-gastbeitrag-von-christoph-butterwegge/

 

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