„Im europäischen Vergleich fällt der deutsche Mindestlohn, gemessen am prozentualen Anteil des nationalen Medianlohns, unterdurchschnittlich gering aus.“

Vielgestaltige Mindestlohn-Landschaft:

Die einen Arbeitgeber wollen (vielleicht) gegen die Erhöhung auf 12 Euro klagen, die anderen erhöhen ihre Lohnuntergrenze auf 14 Euro

Die Ampel-Koalition hat es in ihrem Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 versprochen: »Wir werden den gesetzlichen Mindestlohn in einer einmaligen Anpassung auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen. Im Anschluss daran wird die unabhängige Mindestlohnkommission über die etwaigen weiteren Erhöhungsschritte befinden.« Angesichts der Höhe, die der gesetzliche Mindestlohn seit seiner Einführung zum 1. Januar 2015 mittlerweile erreicht hat (vor allem bedingt durch die Festschreibung eines restriktiven, der Lohnentwicklung nachlaufenden Anpassungsmechanismus und einer entsprechenden Auflage für die Empfehlungen der Mindestlohnkommission), wird das ein ordentlicher Sprung nach oben sein.

Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag (fast) Wirklichkeit werden lassen: Am 13. April 2022 wurde der „Entwurf eines Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“, BT-Drs. 20/1408, als Gesetzentwurf der Bundesregierung in den parlamentarischen Gang der Dinge gegeben. Am 28. April ist die erste Lesung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag eingeplant.

In dem Gesetzentwurf geht man von folgender Problembeschreibung aus: »Im europäischen Vergleich fällt der deutsche Mindestlohn, gemessen am prozentualen Anteil des nationalen Medianlohns, unterdurchschnittlich gering aus. Steigende Lebenshaltungskosten, insbesondere auch Wohnkosten, stellen zudem die Geeignetheit des Mindestlohns in Frage, auf Basis einer Vollzeitbeschäftigung die Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage gewährleisten zu können. Daneben genügt eine mit dem Mindestlohn vergütete Vollzeitbeschäftigung nicht, um eine armutsvermeidende Altersrente zu erreichen.« Die Lösung: »Der für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geltende Mindestlohn wird mit dem Mindestlohnerhöhungsgesetz zum 1. Oktober 2022 einmalig auf einen Bruttostundenlohn von 12 Euro erhöht. Hierdurch wird das Instrument dahingehend weiterentwickelt, dass künftig der Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe bei der Mindestlohnhöhe stärker Berücksichtigung findet. Über künftige Anpassungen der Höhe des Mindestlohns entscheidet weiterhin die Mindestlohnkommission.«

➔ Der zweite Baustein des Gesetzentwurfs ist nicht die von vielen seit vielen Jahren geforderte Abschaffung oder zumindest erhebliche Begrenzung der geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, sondern ganz im Gegenteil bekommen die Minijobber eine neue Entgeltgrenze. Als Problem wird herausgestellt: »Die Höchstgrenze für eine geringfügig entlohnte Beschäftigung (Geringfügigkeitsgrenze) beträgt seit dem Jahr 2013 unverändert 450 Euro monatlich, während die durchschnittlichen Löhne und Gehälter seither deutlich gestiegen sind. Für geringfügig entlohnt Beschäftigte mit einem regelmäßigen monatlichen Arbeitsentgelt im Bereich der Geringfügigkeitsgrenze bedeutet dies, dass sie bei einer Lohnerhöhung, auch aufgrund eines ansteigenden Mindestlohns, ihre Arbeitszeit reduzieren müssen, um ihre Beschäftigung weiterhin in Form eines sogenannten Minijobs ausüben zu können.« Welche Lösung wird hier präsentiert? Man hebt die Geringfügigkeitsgrenze an und dynamisiert sie zugleich mit der zukünftigen Mindestlohnentwicklung: »Künftig orientiert sich die Geringfügigkeitsgrenze an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen. Sie wird dementsprechend mit Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde auf 520 Euro monatlich erhöht und dynamisch ausgestaltet.« Vgl. dazu bereits ausführlicher die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Ein klassisches Tauschgeschäft: Der eine bekommt einen höheren Mindestlohn, der andere eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Trotz vieler Gegenargumente, der hier am 24. November 2021 veröffentlicht wurde. Das ganze Unterfangen ist auch bei anderen auf heftige Kritik gestoßen. Ein Beispiel: Minijob-Reform könnte Zehntausende Frauen in die Teilzeitfalle drängen: Die »Teilzeitfalle, von der vor allem Frauen als Zweitverdienerinnen betroffen sind«, drohe sich zu verschärfen. Mit dieser Einschätzung wird Maximilian Blömer vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung zitiert (vgl. dazu auch Ampel-Reformen bei Mini- und Midijobs verschärfen Teilzeitfalle für Frauen). „Die negativen Beschäftigungswirkungen entstehen vor allem durch die Kombination des bestehenden Ehegattensplittings sowie der Ausweitung der steuer- und abgabenfreien Minijobs. Mit den geplanten Reformen verfehlt die Ampel-Koalition somit ihr erklärtes Ziel, die Verdrängung von regulären Arbeitsverhältnissen durch Minijobs sowie die Teilzeitfalle insbesondere für Frauen zu verhindern“, so Blömer.

Zurück zum gesetzlichen Mindestlohn und seiner geplanten Anhebung. Die Arbeitgeberfunktionäre haben sich – keine Überraschung – zwischenzeitlich sehr kritisch zu Wort gemeldet und beklagen die vorgesehen (einmalige) Aushebelung der Mindestlohnkommission, in der die Arbeitgeber- neben der Gewerkschaftsseite vertreten ist und die, gestützt auf die bisherigen Regularien, unter denen die Kommission arbeiten musste, bislang die Anhebung des Mindestlohns auf überschaubare und nachträgliche Schritte begrenzen konnte. Da wundern dann solche Meldungen nicht: Arbeitgeber erwägen Klage gegen Mindestlohnerhöhung: „Wir glauben, dass der jetzige Gesetzgebungsvorschlag nicht nur politisch, sondern auch rechtlich ausgesprochen fragwürdig ist“, wird der BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter zitiert. »Eine Klage gegen das Gesetz hält sich die BDA weiter offen. Sie lehnt staatliche Lohnfestsetzung ab.«

Angeblich richten sich die Bedenken der BDA „nicht gegen eine bestimmte Lohnhöhe“. Vielmehr gehe es darum, dass man glaube, dass der Bundestag hierfür „die kompetentere Organisation“ sei. Bisher werden die Erhöhungen des Mindestlohns von der Mindestlohnkommission bestimmt, in der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter miteinander verhandeln. „Wir werden im Anschluss an das Gesetzgebungsverfahren entscheiden, ob wir weitere rechtliche Schritte … vornehmen werden“, kündigte Kampeter an. Er hoffe darauf, dass das Gesetz noch geändert werde. Basis für ein mögliches rechtliches Vorgehen sollen laut Kampeter von der BDA in Auftrag gegebene rechtliche Gutachten sein.

Natürlich wird dann verkürzend in den Medien berichtet werden, dass „die“ Arbeitgeber gegen die geplante Mindestlohnerhöhung rechtlich vorgehen wollen. Aber „die“ Arbeitgeber gibt es gar nicht, es handelt sich hier um Funktionäre aus den Reihen der Arbeitgeberverbänden, die – wenn auch vorsichtig – den dicken Max markieren wollen.

Andere Arbeitgeber handeln in der Zwischenzeit. »Der Lebensmittel-Discounter Aldi erhöht den Mindestlohn für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit den Lohnsteigerungen will das Unternehmen auf die allgemeine Teuerung in Deutschland reagieren«, kann man dieser Meldung entnehmen: Aldi zahlt mehr Mindestlohn: »Der Mindestlohn für die Beschäftigten bei Aldi in den beiden Schwester-Unternehmen Aldi Nord und Aldi Süd soll ab Juni von derzeit 12,50 Euro auf 14 Euro je Stunde angehoben werden. „Alles wird aktuell teurer, und das spüren natürlich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, so ein Unternehmenssprecher.«

Und auch die Nachwuchskräfte sollen was abbekommen: »Aldi Süd hat zudem in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass es auch die Ausbildungsvergütung erhöhen wird. Ab August werden die Gehälter für alle Auszubildenden um 100 Euro angehoben: auf 1.100 Euro im ersten Jahr, 1.200 Euro im zweiten Jahr und 1.350 Euro im dritten Jahr. Aldi Nord und Aldi Süd beschäftigen in Deutschland knapp 90.000 Mitarbeiter, rund 5.000 Nachwuchskräfte werden in den beiden Konzernen derzeit ausgebildet.«

Natürlich kann und muss man vermuten, dass dieser Schritt auch eine durchaus gelungene PR-Aktion ist, da viele Menschen aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten sehr sensibilisiert sind für Lohnfragen und eine solche Nachricht mehr oder weniger bewusst positiv mit dem Unternehmen assoziieren werden. Wie dem auch sei, angesichts er guten Entwicklung gerade in den zurückliegenden Corona-Jahren kann sich Aldi die Erhöhung sicher mehr als locker leisten.

Letztendlich ist das auch eine Frage von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und wenn sich dort die Relationen zugunsten der Arbeitsanbieter ändern, dann muss das über kurz oder lang Auswirkungen haben auf die erzielbaren Löhne in der jeweiligen Branche. Selbst wenn es dort viele Unternehmen gibt, denn es wirtschaftlich deutlich schlechter geht als den Lebensmitteleinzelhändlern.

Nehmen wir als Beispiel die Gastronomie, die ja gerade in der bisherigen Corona-Pandemie besonders gebeutelt war. Aus dieser Branche erreichen uns die folgenden Meldungen: Tarifabschluss im Gastgewerbe bringt großes Plus, wurde Anfang April dieses Jahres gemeldet. Und das hat eben auch etwas zu tun mit der beabsichtigten Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (und auch als eine Art Vorwärtsverteidigung einer Branche, die immer wieder kritisiert wird angesichts der Arbeitsbedingungen – dazu ausführlicher der Beitrag Mit „exorbitanten Gehaltssteigerungen“ und flexiblen Arbeitsmodellen gegen den Personalmangel im Gastgewerbe? vom 8. November 2021):

»Für die Angestellten im Gastgewerbe gibt es bald mehr Geld. „Wir haben in fast allen Bundesländern neue Tarifverträge mit Einstiegslöhnen oberhalb des künftigen Mindestlohns von zwölf Euro pro Stunde und kräftigen Steigerungen in allen Entgeltstufen abgeschlossen“, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Freddy Adjan. Möglich geworden sei dies durch die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns und den Fachkräftemangel in der Branche.«

Was das konkret bedeutet? »Den höchsten tariflichen Stundenlohn verdienen laut NGG ab dem 1. Oktober 2022 Angestellte in Gastronomiebetrieben in Rheinland-Pfalz – hier gilt ab Oktober ein Stundenlohn von 15 Euro für Fachkräfte, das Einstiegsgehalt liegt bei 12,60 Euro. Der niedrigste Tarifabschluss gilt in Sachsen, hier liegt der Stundenlohn für Fachkräfte bei 12,88 Euro, das Einstiegsgehalt bei 12,24 Euro.«

„Kein Personal und der angekündigte gesetzliche Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde – beides zusammen hat die Arbeitgeber in Bewegung gebracht“, so Freddy Adjan von der Gewerkschaft NGG. Für „viele Hunderttausende Beschäftigte“ in der Gastronomie sei es gelungen, einen Einstiegslohn von über zwölf Euro festzulegen und die gesamte Lohntabelle „deutlich nach oben zu schieben“. Teilweise betrügen die Lohnsteigerungen über 20 Prozent.

Aber dass es auch andere Reaktionen auf den offensichtlichen Fachkräfte- und sogar Arbeitskräftemangel gibt, zeigen dann leider solche Nachrichten: Der erste Branchenmindestlohn soll der erste sein, der von den Arbeitgebern beerdigt wird. Die Arbeitgeber der Baubranche haben die Lohnuntergrenze gekippt, so ist ein Beitrag überschrieben, der hier am 12. April 2022 veröffentlicht wurde. Da geht es um den Branchen-Mindestlohn oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Wie man das in dieser Branche und dann auch noch zu diesem Zeitpunkt machen kann – darauf muss man erst einmal kommen.

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