„Niedriglohnsumpf austrocknen“: Tarifbindung im Einzelhandel schwindet rasant !

„Niedriglohnsumpf austrocknen“: Tarifbindung im Einzelhandel schwindet rasant

Stand: 13.05.2024, 05:07 Uhr FR

Von: Steffen Herrmann

Der Einzelhandel knackt Umsatzrekorde, seine Beschäftigten bezahlt er häufig schlecht. Das zeigt eine Auswertung des Statistischen Bundesamts.

Schlechte Nachrichten für Verkäuferinnen und Verkäufer: Im Einzelhandel schwindet die Tarifbindung rasant. Zwischen 2010 und 2023 ging der Anteil tarifgebundener Betriebe im Einzelhandel um 45 Prozent zurück, wie eine Antwort des Statistischen Bundesamts auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl zeigt, die der Frankfurter Rundschau vorliegt. Damit verlief der Rückgang im Einzelhandel schneller als in der Gesamtwirtschaft (minus 27 Prozent). 2010 war demnach noch jeder dritte Betrieb im Einzelhandel tarifgebunden, zehn Jahre später war es nicht einmal mehr jeder fünfte.

„Auf das Klatschen in der Krise folgt die Klatsche mit der Lohntüte. Denn alles wird teurer, nur der Lohn stagniert“, sagte Ferschl der FR. „Während die Umsätze der Unternehmen von Rekord zu Rekord klettern, werden die Beschäftigten häufig mit Dumpinglöhnen abgespeist.“

Das verdienen Beschäftigte im Einzelhandel

Die Zahl der Tarifbeschäftigten ging ebenfalls zurück: 2010 galt noch für jede Zweite und jeden Zweiten ein Tarifvertrag. 2020 kam weniger als ein Viertel aller Beschäftigten im Einzelhandel in den Genuss eines Tarifvertrages, der häufig ein Plus bei Lohn und Freizeit bedeutet. Die Lohndifferenz zwischen tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Unternehmen lag 2023 demnach bei 3,06 Euro brutto pro Stunde.

Im Einzelhandel arbeiten auch überdurchschnittlich viele Beschäftigte, die weniger als 14 Euro verdienen: 1,6 Millionen. Über alle Branchen hinweg waren es 2023 knapp 8,4 Millionen Beschäftigte.

Die Linken-Abgeordneten Ferschl sieht deshalb die Politik in der Pflicht: „Es braucht eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, damit diese in der ganzen Branche Wirkung entfalten und dort auch den Niedriglohnsumpf austrocknen können. Auch von der notwendigen Anhebung des Mindestlohns auf 60 Prozent des Medianlohns – gegenwärtig sind das über 14 Euro – würden deutlich mehr als eine Millionen Beschäftigte im Einzelhandel profitieren.“

Derzeit läuft die Tarifrunde im Handel: Seit mehr als einem Jahr verhandelt die Gewerkschaft Verdi mit den Arbeitgebern – trotz mehrerer Warnstreiks und Aktionswochen scheint eine Einigung bislang nicht in Sicht.

„Während Handelskonzerne wie die Edeka im vergangenen Jahr ihren Jahresumsatz erneut steigern konnten und erstmals die 70-Milliarden-Euro-Marke überschritten haben, kämpfen die eigenen Beschäftigten seit genau einem Jahr für einen respektablen Tarifabschluss“, sagte Mizgin Ciftci, Gewerkschaftssekretär für den Handel im Bezirk Hannover Heide Weser, in der vergangenen Woche. „Konzerne wie Edeka, Ikea und Kaufland müssen wieder lernen, dass sie ihre Beschäftigten an den Früchten ihrer Arbeit beteiligen müssen“, so Ciftci weiter.

Verhandlungen abgesagt

Die Verhandlungen für die rund fünf Millionen Beschäftigten im Handel werden regional geführt. In einigen Regionen laufen Sie bereits seit April 2023. Verdi fordert im Einzel- und Versandhandel 2,50 Euro mehr pro Stunde. Im Groß- und Außenhandel sollen es 13 Prozent mehr Lohn sein, mindestens aber 400 Euro pro Monat.

Die Arbeitgeberseite in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Mitteldeutschland, Hessen und Hamburg boten laut Verdi zuletzt für 2023 nach drei Nullmonaten eine tabellenwirksame Erhöhung von sechs Prozent und für 2024 weitere vier Prozent sowie eine Inflationsausgleichsprämie (500 für 2023 und 250 Euro in 2024) bei einer Laufzeit von 24 Monaten an.

Im vergangenen November hatten die Arbeitgeber bundesweit die Tarifverhandlungen im Einzelhandel abgesagt und mit Ausnahme für die Region Hamburg keine neuen Verhandlungstermine benannt. Für Verdi kam das „völlig überraschend“, seither versucht die Gewerkschaft, die Arbeitgeber zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen.

Mitte März kündigten mehrere Einzelhändler freiwillige Lohnerhöhungen an. „Wir sind nach nunmehr elf Monaten Tarifkonflikt mit mehr als 60 Verhandlungsrunden bundesweit zu der Auffassung gelangt, dass Verdi leider keinerlei Interesse an einem zeitnahen Abschluss im Einzelhandel hat“, sagte Steven Haarke, Tarifgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), damals. Die Mitarbeiter: innen sollten nicht immer weiter unter der „eigensinnigen Strategie“ ihrer Gewerkschaft leiden müssen.

 

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