„Die Zahl der Mitglieder, die in den DGB-Gewerkschaften organisiert sind, ist seit der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte eingebrochen.“

DGB-Gewerkschaften im Sinkflug – Sie haben es zugelassen, dass „wir einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut haben, den es in Europa gibt“ und lassen es nun wieder zu

Für Gewerkschaften gibt es nichts Wichtigeres als Mitglieder. Wenn sie die Unternehmen nicht mit Mitgliedern beeindrucken können, können sie sie auch nicht mit Streikdrohungen erschrecken. Wer nicht einmal mit Streiks drohen kann, der braucht an den Tischen der Tarifverhandlungen gar nicht erst Platz zu nehmen.

Immer zum Jahreswechsel bilanzieren die Gewerkschaften die Entwicklung ihrer Mitgliederzahl. Die Zahl der Mitglieder, die in den DGB-Gewerkschaften organisiert sind, ist seit der Wiedervereinigung um etwa die Hälfte eingebrochen. Im Jahr 2017 ist sie erstmals unter 6 Millionen gesunken. Zum Jahresende 2021 waren es noch 5.7 Millionen Mitglieder, gegenüber dem Vorjahr ein Minus von 130.000.

Von offizieller Seite wird diese Entwicklung hauptsächlich auf die demografische Entwicklung, Beschäftigungsabbau allgemein, Strukturwandel in der Berufswelt und neuerdings zusätzlich noch auf die Pandemie, mit ihrer erschwerten Mitgliederwerbung geschoben. Doch diese Sichtweise ist mehr als kurzsichtig, die Gründe sind vielfältiger und durch den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften auch hausgemacht.

Zum Beispiel haben die DGB-Gewerkschaften es zugelassen, dass in Deutschland einer der „besten Niedriglohnsektoren aufgebaut wurde, den es in Europa gibt“.

Geringverdiener im Niedriglohnsektor definiert die EU als Beschäftigte, die zwei Drittel oder weniger des nationalen Median-Bruttostundenverdienstes in dem jeweiligen Land vergütet bekommen. Bei Beschäftigten in Vollzeit stellt diese Schwelle die Armutsgrenze dar, unter der keine angemessene Existenzsicherung mehr gewährleistet ist.

Für die betroffenen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, bringen die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten schlechtere Arbeitsbedingungen und weniger Arbeitsschutz, kaum Chancen auf Weiterbildung und sozialen Aufstieg, geringere soziale Absicherung, weniger Arbeitslosen-, Kurzarbeiter- oder Krankengeld und mehr Altersarmut sowie eine permanente Gefährdung der Existenzsicherung mit sich.

Die Niedriglohnsektoren in den verschiedenen Ländern Europas sind in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem deshalb gewachsen, weil gesetzliche Regelungen und ausreichende Mindestlöhne fehlten, Gewerkschaften in Lohnverhandlungen schwächer wurden oder weil sie, wie in Deutschland, mit der Möglichkeit der Hartz-Gesetzgebung bewusst gefördert wurden.

2005 sagte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinander zu setzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten. Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“

Welches Ausmaß der „funktionierende Niedriglohnsektor“ einmal einnehmen würde, hatte sich vor 17 Jahren kaum jemand vorstellen können.

Niedriglohnsektor 1.0

In Deutschland arbeiten rund 21 Prozent aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Er umfasst Beschäftigte, deren Stundenlöhne nur bis zu 2/3 des Median-Stundenlohns betragen. Dieser Median-Stundenlohn betrug Ende des vergangenen Jahres 18,41 Euro, die Niedriglohnschwelle lag also bei 12,27 Euro. Selbst Vollzeitbeschäftigte kamen damit bei einer 38-Stunden-Woche nur auf ein Bruttomonatsentgelt von 2,027 Euro. Dieser Niedriglohnsektor wurde in den letzten Jahren trotz guter Arbeitsmarktentwicklung, steigender Realeinkommen und sinkender Arbeitslosigkeit nur wenig reduziert. Er erreichte 2011 den Höchststand mit 24,1 Prozent aller Beschäftigten, stagnierte bis 2017 bei ca. 23 Prozent und sank bis 2021 auf 21 Prozent. Das soll sich aber wieder ändern.

Der Niedriglohnsektor konzentriert sich auf besondere Branchen, auf besondere Beschäftigungsverhältnisse, auf besondere Regionen und auf Unternehmen mit niedriger Tarifbindung.

Die 7,2 Millionen Niedriglohnbeschäftigten arbeiteten 2019 (Zahlen von 2019 wegen Pandemieauswirkung genutzt) vor allem in den Branchen

  • Einzelhandel mit 159.000 = 40,1 Prozent der dort Beschäftigten
  • Gastronomie mit 662.000 = 62,5 Prozent der dort Beschäftigten
  • Gebäudebetreuung mit 655.200 = 61,2 Prozent der dort Beschäftigten
  • Gesundheitswesen mit 612.00 = 16,4 Prozent der dort Beschäftigten
  • Erziehung/Unterricht mit 345.600 = 11,7 Prozent der dort Beschäftigten

Regional betrachtet mussten 29,1 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland zu Niedriglöhnen arbeiten, in Westdeutschland „nur“ 16,4 Prozent.

In den nicht tarifgebundenenUnternehmen werden häufiger Niedriglöhne gezahlt: 2017 bekamen „nur“ 17 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen einen Stundenlohn unter 12 Euro; bei allen Beschäftigten lag das Risiko aber bei 27 Prozent. Im Lohnsegment unter 12 Euro arbeiteten nur 1/3 der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen.

Nach dem Beschäftigungsstatus sind Vollzeitbeschäftigte von Niedriglöhnen zwar am wenigsten betroffen; aber auch hier arbeiten 18,7 Prozent zu Niedriglöhnen. Bereits bei sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten steigt das Risiko auf mehr als ein Fünftel. Geringfügig Beschäftigte sind sogar zu mehr als 3/4 davon betroffen.

Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse

Die Branchen mit hohem Anteil an Niedriglöhnen beschäftigen auch viele Frauen in Minijobs. So arbeiteten in der Gastronomie 52,6 Prozent aller Beschäftigten im Minijob, in der Gebäudebetreuung 45 Prozent und im Einzelhandel 27,5 Prozent.

Die Verdienstgrenze für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse wurde ebenfalls zum 1.10.2022 von 450 Euro auf 520 Euro heraufgesetzt und soll danach dynamisiert werden. Die Verdienstgrenze für „Midijobs“, für die geringere Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen, soll auf 1600 Euro erhöht werden. Der Übergang zwischen Mini- und Midijob soll erleichtert werden, indem die Sozialversicherungsbeiträge im Übergang zu Midijobs noch einmal gesenkt wurden. Diese Aufwertung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist ein herber Rückschlag bei der Bekämpfung des Niedriglohnsektors. Denn mehr als 75 Prozent der geringfügig Beschäftigten arbeiten zu Niedriglöhnen. Es ist außerdem ein Rückschlag für die Förderung einer gleichberechtigten Erwerbsarbeit von Frauen, da diese Arbeitsverhältnisse die Ideologie eines kleinen Zuverdienstes für „Hausfrauen“ weiterhin verfestigen.

Die Stundenlöhne geringfügig Beschäftigter liegen derzeit im Durchschnitt zwischen 10 und 11 Euro. Das Gros wird damit deutlich unter Tarif und unter den Stundenlöhnen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im gleichen Betrieb und mit vergleichbarer Tätigkeit bezahlt, das ist ein eindeutiger Rechtsverstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser Verstoß wird aber mit dem Sonderstatus dieser Beschäftigtengruppe legitimiert: Wenn Beschäftigte monatlich bis zu 520 Euro verdienen oder als Saisonkräfte nur bis zu 3 Monate im Jahr eingesetzt werden, zahlen sie bekanntlich keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Auch von den Beiträgen zur Rentenversicherung können sie sich befreien lassen, was auch die Meisten tun. Sie bekommen also ihren Stundenlohn „Brutto für Netto“.

Die Unternehmen müssen zwar über 30 Prozent an Lohnnebenkosten zahlen und damit mehr als für Beschäftigte mit Sozialversicherung. Trotzdem lohnt sich der Einsatz für sie, weil sie diese steuer- und sozialrechtliche Sonderstellung ausnutzen und die Stundenlöhne weit unter das Niveau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten absenken. Außerdem werden Geringverdiener häufig als „Stundenlöhner/Aushilfen“ behandelt. Diesen Status Beschäftigter gibt es arbeitsrechtlich gar nicht, doch haben diese Menschen zumindest außerhalb großer, stärker kontrollierter Unternehmen häufig keinen Kündigungsschutz oder feste Arbeitszeiten und die Hälfte der Minijobbeschäftigten erhält keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und ein Drittel bekommt keinen bezahlten Urlaub.

All das ist rechtswidrig; es wird aber von vielen Beschäftigten nicht als ungerecht empfunden, da sie ja „Brutto für Netto“ bekommen.

Ausbau des Niedriglohnsektors 2.0 durch das neue Bürgergeld

Um den Wirtschaftsstandort und den Arbeitsmarkt zu sichern, wollen die „Partner der Transformation im Arbeitsmarkt“ so versteht sich eine große Koalition aus den Regierungsparteien, Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsräten und Verbänden besser mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) zusammenarbeiten und vernetzen und die Möglichkeiten des geplanten Bürgergelds für den Aufbau des größten europäischen Niedriglohnsektors in Deutschland nutzen.

Für diese politischen Akteure, die das Bürgergeld vorantreiben, steht fest, dass z.B.

  • das Bürgergeld als Lohnergänzungsleistung konzipiert ist und nicht dazu gedacht, den laufenden Lebensunterhalt der Bezieher und ihrer Familien auf einem akzeptablen Niveau zu sichern.
  • nicht an den Grundpfeilern der Schröder’schen Arbeitsmarktreformen zu rütteln ist und weiter der Grundsatz „billige Arbeitskraft für den Exportweltmeister“ gelten muss.
  • gesellschaftliche Teilhabe bei uns nur durch Lohnarbeit erreicht werden kann.
  • ein Berufs- und Qualifikationsschutz auch beim Bürgergeld nicht gilt. Auch bleiben die strengen Zumutbarkeitsregeln erhalten und die Menschen müssen auch künftig Jobs annehmen, die weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt werden.
  • um Teil der Gesellschaft zu sein, eine Eigenverantwortung bzw. Hilfe zur Selbsthilfe vorausgesetzt wird. Teilnahme an der Gesellschaft wird aber nur als eine strikte Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gesehen, wobei auch weiterhin 1 Euro Jobs, Coaching und das Ehrenamt hilfreich sein sollen.
  • in der Gesellschaft nach wie vor die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einzige Quelle der Existenzsicherung besteht.
  • wegen der „Leistungsgerechtigkeit“ nichts umsonst ist und deshalb können auch die unveräußerlichen, sprich die „unverdienten“ Grundrechte wegfallen z.B. die freie Berufswahl.
  • das individuelle Recht, Arbeitsangebote und Maßnahmen abzulehnen, auch künftig nicht besteht, weil erreicht werden soll, den Arbeitskräftebedarf der Unternehmen mit billigen Arbeitskräften zu bedienen.
  • ein Sozialer Arbeitsmarkt die vielfältigen „Teilhabedefizite“ mildern soll, die ein langfristiger Ausschluss vom Arbeitsmarkt und die daraus resultierende Transferabhängigkeit bei den Betroffenen angeblich bewirken.
  • man sich an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) zu den Sanktionen von Leistungsbeziehern nach dem SGB II halten will. Das Gericht hatte Ende 2019 geurteilt, dass Sanktionen höchstens zu einer Kürzung des Existenzminimums um 30 Prozent und nicht mehr zu einer 60-prozentigen oder vollständigen Kürzung führen dürfen.
  • die unterbrochenen Erwerbs- und Sozialversicherungsbiografien für viele der im Niedriglohnsektor arbeitenden Menschen den Regelfall bilden sollen.
  • prekäre und irreguläre Arbeitsformen genauso wie unterbeschäftigtes Elend bei gleichzeitiger Überausbeutung auch zukünftig bleiben sollen.
  • auch die bekannte Zielsetzung von Vermittlung in Arbeit um jeden Preis und die Form eine Verkopplung von Lohn und Sozialleistung Bestand hat.
  • ein Zweiklassensystem eingeführt wird. Auf der einen Seite stehen die Menschen, die eine Überbrückung für die möglichst schnelle Rückkehr ins Arbeitsverhältnis brauchen und diejenigen die aus unterschiedlichen Gründen – die meisten sind pflegende, alleinerziehende und kranke Bezieher der SGB II-Leistungen – nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden können.
  • in Zeiten des Bedarfs an billigen Arbeitskräften, Beschäftigte auch ohne Berufsausbildung benötigt werden, die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs Sinn macht und die bislang gängige Praxis die Menschen unter Zwang in den erstbesten Aushilfsjob zu pressen, nicht mehr notwendig ist

und

anstelle des Vermittlungsvorrangs nun im SGB II der § 16 j angehängt wird, der neue Möglichkeiten der Bewertung der Menschen bzgl. der Weiterbildungsvoraussetzungen bietet und bei Wohlverhalten mit einer in Aussicht gestellten höheren finanziellen Leistung bzw. ein Bonus in Höhe von 75 Euro monatlich einhergeht.

Die neuen Beschäftigungsverhältnisse auf dem „Sozialen Arbeitsmarkt“

Mit der Diskussion um neue Sozialgesetzesvorhaben haben sich CDU und SPD während der damaligen großen Koalition besonders durch eine Wortakrobatik hervorgetan und ganz neue Begriffe erfunden, anstatt den Abbau des Sozialstaates zu bekämpfen. So redete man von „Starke-Familien-Gesetz, Gute-Kita-Gesetz, Respekt-Rente oder Sozialstaatskonzept 2025“. Den Vogel schoss aber der Begriff „Gründungsmitglieder“ ab, mit dem man die Menschen bezeichnet, die seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung immer noch als „Altfälle“ erwerbslos sind und bei dem Teilhabechancengesetz vorrangig berücksichtigt werden sollen.

Geworben wird für das Teilhabechancengesetz auch mit Versprechungen für die Betroffenen, die sich bei genauerem Hinschauen aber als weitere Drohung entpuppen. Böse Zungen behaupten, dass die Politiker auf Bundes- und Landesebene, aber vor allem in den Kommunen sich als Handelnde mit einer völligen sozio-ökonomischen Ahnungslosigkeit, die Lichtjahre von der konkreten Arbeits- und Lebenssituation der abhängig beschäftigten und erwerbslosen Menschen entfernt ist, outen. Doch kann man auch unterstellen, dass hier knallhart Menschen als billige und unfreiwillige Arbeitskräfte für den Niedriglohnsektor zugerichtet werden sollen.

Das Teilhabechancengesetz/Sozialer Arbeitsmarkt sieht im Einzelnen vor, dass

  • die Maßnahme fünf Jahre dauert oder auch eine kürzere Befristung mit optionaler einmaliger Verlängerung explizit erlaubt ist.
  • nach 5 Jahren keine Verpflichtung für die  Unternehmen bzw. Anstellungsträger zur Weiterbeschäftigung besteht und ein Großteil der Betroffenen wieder in den Hartz-IV-Bezug gehen wird.
  • der typische Arbeitsvertrag im Rahmen dieser Förderung  zunächst auf zwei Jahre angelegt sein wird und bei guter Führung und Leistung anschließend um drei Jahre verlängert werden kann.
  • es sich nur zum Teil um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung handelt. Da keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhoben werden, ist am Ende nur der Hartz-IV-Bezug möglich und das Hartz-IV-System greift wieder. Es braucht kein Arbeitslosengeld 1 nach dem SGB III gezahlt zu werden und es fallen keine Vermittlungskosten an.
  • die Jobcenter zusammen mit den Unternehmen entscheiden, welcher Mensch welche Stelle annehmen muss. Der Arbeitszwang seitens der Jobcenter steht dabei der Selbstbestimmung des Einzelnen entgegen.
  • ein Angebot nicht abgelehnt werden kann. Auf jegliche Verweigerung folgt die Sanktionierung durch die Jobcenter.
  • der Mindestlohn, selbst in Vollzeit sind das etwa 1.550 Euro brutto (Stand 2020), zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Schon gar nicht kann man davon eine Familie ernähren.
  • es sich um eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme handelt und sich damit kein Arbeitsverhältnis begründet. So sind Verstöße gegen Arbeitsrechte und Arbeitsschutz vorprogrammiert.
  • im Zuge der Beschäftigung von Zusatzjobbern reguläre Beschäftigung in nicht zu vernachlässigendem Umfang verdrängt und der bestehende Wettbewerb beeinflusst wird.
  • Maßnahmeteilnehmer aus der Maßnahme durch die Arbeitsverwaltung abberufen werden können, z.B. für Bildungsmaßnahmen oder eine andere Arbeitsaufnahme

und dass die Beschäftigten immer noch unter der Knute der Jobcenter stehen. Da es sich um eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme handelt, sind sie während der gesamten Laufzeit nicht nur ihren Unternehmen, sondern auch der „Betreuung“ durch die Jobcenter unterworfen.

Sanktionen können auch hier greifen

Im § 31 des SGB II wird unter dem Begriff „Pflichtverletzungen“ festgelegt, dass langzeitarbeitslose Menschen vom Jobcenter sanktioniert werden können, wenn sie z.B. eine Maßnahme nicht annehmen oder unterbrechen. Auf jegliche Verweigerung folgt die Sanktionierung durch die Jobcenter. Dies konnte zumindest bis November 2019 dazu führen, dass die Menschen gar kein Einkommen mehr erhalten, je nachdem, wie viel Prozent laut Vorgaben vom laufenden Bezug gestrichen wurde.

Das Gothaer Sozialgericht war bundesweit das erste Gericht, das die Frage aufgeworfen hat, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Es fragte, ob auch neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch Sanktionen berührt werden.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte in seiner Entscheidung vom 05.11.2019 die Anwendung der Sanktionen eingeschränkt, allerdings festgestellt, dass die Kürzungen der Leistungen bis zu einer bestimmten Grenze mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wäre das Gericht weitergegangen, wäre das gesamte HARTZ-IV-Gebilde in Frage gestellt worden. Denn Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-IV-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

Grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit wird ausgehebelt

Die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit wird ebenfalls berührt, wenn Menschen gezwungen werden, jede Arbeit, Beschäftigung oder Maßnahme anzunehmen. Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt. Die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter dem Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.

Es wird hierbei die SGB II Vorschrift der § 10 Abs. 2 angewandt. Danach ist einem erwerbslosen Menschen jede Arbeit zumutbar und er kann nur ausnahmsweise Arbeitsangebote ablehnen, z.B. wegen besonderer körperlicher Anforderungen oder wegen der Gefährdung der Erziehung des Kindes. Ausdrücklich kein „wichtiger Grund“ zur Ablehnung eines Vermittlungsangebots soll sein, dass die „Arbeitsbedingungen ungünstiger“ als die Bedingungen des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses sind. Das ist der Hebel, mit dem man die Beschäftigten mit staatlichem Zwang in den Niedriglohnsektor drängt.

Coaching

Grundsätzlich wird den erwerbslosen Menschen unterstellt, dass sie an individuellen „Vermittlungshemmnissen – von familiären Problemen über Fettleibigkeit bis hin zur Sucht“ leiden und die Sekundärtugenden wie frühes Aufstehen, Pünktlichkeit und regelmäßige Arbeitsabläufe einhalten, erst wieder trainieren müssen. Dabei sollen sie von Coaches unterstützt werden.

Komischerweise sollen das die gleichen Coaches machen, die genau daran in den letzten eineinhalb Jahrzehnten seit der Hartz-IV-Einführung als Bewerbungstrainer und Individual-Coaches in den immer gleichen Maßnahmen mit den gleichen Teilnehmern gescheitert sind. Jetzt sollen sie innerhalb von drei Monaten vor Beschäftigungsbeginn, diese Menschen arbeitsfähig machen. In dieser Zeit wurden dann plötzlich aus dem Menschen mit früheren Vermittlungshemmnissen ein abhängig Beschäftigter als vollwertiges, weil lohnarbeitendes Mitglied der Gesellschaft gemacht, das allerdings auch in der neuen Beschäftigung noch eines Coaches bedarf, wenn es bei der Verwertung seiner Arbeitskraft hakt.

Staatlich subventionierte Leiharbeit

Neu beim Teilhabechancengesetz ist auch, dass Zeitarbeitsfirmen nicht als Förderberechtigte ausgeschlossen werden. Die Branche, die schon jetzt größter Abnehmer von langzeitarbeitslosen Menschen und Profiteur der Agenda 2010 ist, trommelte für das Gesetz am lautesten. Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. bot und bietet Seminare an und hat eine Broschüre herausgegeben, um seinen Mitgliedern Anleitungen für das Ausschöpfen des Fördertopfs an die Hand zu geben. Denn das Gesetz macht die Träume dieser Branche wahr. Sie können ab sofort einen Menschen für 24 Monate anstellen, sich die kompletten Lohnkosten vom Staat bezahlen lassen und das Geld, das sie für die Verleihung der Angestellten erhalten, als Gewinn einstreichen. Der Leiharbeiter darf nicht mal kündigen, da ihm dann Sanktionen vom Jobcenter drohen.

Weiterer Ausbau des Niedriglohnsektors

Die Schaffung von angestrebten 800.000 zusätzlichen Beschäftigungs-/Maßnahme/- Arbeitsplätzen wird die Bedingungen aller lohnabhängigen Arbeitskräfte beeinflussen. Sie wird eine Umschichtung in den Betrieben zur Folge haben und reguläre Stellen abbauen. Die verbleibenden Beschäftigten werden zunehmend Ängste um ihren Arbeitsplatz entwickeln und leisten, wenn sie Glück haben, bezahlte Mehrarbeit. Dadurch verhindern sie Neueinstellungen und können ihre familiären und sozialen Beziehungen nicht mehr pflegen. Sie werden auf die notwendige Genesungszeit bei Krankheit verzichten, schädigen damit ihre Gesundheit weiter und verursachen mehr Kosten für das Gesundheitssystem. Gesamtgesellschaftlich wird eine angstgetriebene Hoffnungslosigkeit erzeugt und der Konkurrenzgedanke bestimmt noch mehr den Alltag.

Immer mehr öffentliche und private Unternehmen ziehen sich weiter aus ihrer Verantwortung zur Schaffung von regulären Arbeitsplätzen zurück. Dies wird unter anderem dadurch erreicht, dass eine bewusst erzeugte Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte forciert wird: mit Hinweis auf die leeren Kassen wird eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz gefördert, notwendige Arbeiten durch Arbeitskräfte aus dem „Sozialen Arbeitsmarkt“ erledigen zu lassen.

Gewerkschaften als Steigbügelhalter für weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors

So wie die Hartz Gesetzgebung den Ausbau des Niedriglohnsektors forciert hat, so wird auch das neue Bürgergeld bei der Beschäftigungsoffensive mit Niedriglöhnen Pate stehen. Damals wie heute werden die DGB-Gewerkschaften die Gesetzesvorhaben unterstützen und „kritisch begleiten“. Das war ab 2004 so und wird ab 2023 wieder so sein.

Kurz vor der Hartz-IV-Einführung sagte die damalige stellvertretende Vorsitzende des DGB, Engelen-Kefer am 25.12.2004 gegenüber der Presse: „Im nächsten Jahr führen wir mit dem Bundeskanzler weitere Gespräche über die Auswirkungen von Hartz IV. Dabei wollen die Gewerkschaften erreichen, dass auftretende Probleme nicht nur angehört, sondern auch abgestellt werden“.

Heute ist der DGB „Partner der Transformation im Arbeitsmarkt“ und möchte die Möglichkeiten des geplanten Bürgergelds für den Aufbau des größten europäischen Niedriglohnsektors in Deutschland nutzen.

DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sagte am 10.11.2022: „Der Bundestag hat trotz der Blockade der Union das Bürgergeld beschlossen. Dieser Beschluss ist für viele Millionen Menschen mit geringen Einkommen und ohne Arbeit eine gute Nachricht. Ihre Situation wird endlich verbessert. Jetzt müssen die Bundesländer in der Sondersitzung des Bundesrats am Montag den Weg für das Bürgergeld mit seinen wichtigen Verbesserungen freimachen. Das Bürgergeld bietet soziale Sicherheit für langjährig Beschäftigte, mühsam Aufgebautes nicht zu verlieren. Für sie ist das Bürgergeld eine Chance, dass bei Arbeitslosigkeit nicht sofort der soziale Abstieg auf Sozialhilfeniveau folgt. Der DGB appelliert deshalb an die Bundesländer, verantwortungsvoll zu handeln und in der Sondersitzung des Bundesrats am Montag den Weg für das Bürgergeld mit seinen wichtigen Verbesserungen frei zu machen“.

Ob die „vielen Millionen Menschen mit geringen Einkommen und ohne Arbeit“ das heute auch so sehen, scheint zweifelhaft zu sein.

Die Gewerkschaften sagen, sie würden die prekär beschäftigten Menschen mit ihrer Mitgliederwerbung kaum erreichen und für und mit Nichtmitgliedern zu kämpfen lohne sich nicht. Die im Niedriglohnsektor arbeitenden potentiellen Gewerkschaftsmitglieder sagen, die Gewerkschaften tun nichts für uns und eine Mitgliedschaft mit einem Prozent Beitrag vom Bruttolohn monatlich ist eine ziemlich teure und ineffiziente Sache. Beim weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors wird dieser Kreislauf noch an Dynamik gewinnen und die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften weiter sinken lassen.

 

 

 

 

Quellen: DGB, IAB, Tagessspiegel, Junge Welt, BA, Statis.deWiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, arbeitsschutz-portal.de, dgb, verdi, ngg, Politika, B 92, wildcat, PM Arbeitsministerium, Franziska Wiethold, SGB

Bild: Mitgliederspiegel DGB

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