Mietbelastung als Faktor für wachsende Armut

20. Juli 2019 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Redaktion Zeitschrift Sozialismus

Mietbelastung als Faktor für wachsende Armut

Rasande Tyskar/flickr.com (CC BY-NC 2.0)

Deutschland hat innerhalb der OECD einen der größten Niedriglohnsektoren. Das war nicht immer so. Noch 1996 wies die Statistik einen Anteil von 14% für Deutschland aus, womit das Land unter den kapitalistischen Staaten im Mittelfeld lag.

Es handelt sich somit um einen kräftigen Anstieg. Trotz eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren bleiben die Lohneinkommen zurück, vertieft sich die soziale Spaltung und wächst die Armut.

Wichtigste Erklärung für diese Entwicklung: ein hoher Anteil von Bürger*innen in befristeten und/oder prekären Beschäftigungsverhältnissen sowie die geschwächte Macht der Gewerkschaften. Die abnehmende Tarifbindung ist die Hauptursache für die Entstehung eines großen Niedriglohnsektors in Deutschland. Entscheidend dafür waren die abnehmende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, die Schwierigkeiten, das westdeutsche Tarifmodell auf die weniger produktive ostdeutsche Wirtschaft zu übertragen, die abnehmende Mitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden, die zunehmende Auslagerung von Tätigkeiten in nicht tarifgebundene Unternehmen oder auf nicht an deutsche Tarife gebundene Werkvertragnehmer*innen vor allem aus Osteuropa, sowie die über die EU-Direktiven eingeleitete Öffnung öffentlicher Dienstleistungen für private Anbieter.

Unzureichende Lohneinkommen und Sozialtransfers sowie die enormen Mietsteigerungen des letzten Jahrzehnts sind die treibenden Faktoren der zunehmen sozialen Spaltung vor allem auch in der Berliner Republik.

Neuere Untersuchungen[1] belegen außerdem, dass insbesondere steigende Wohnkosten ein Grund für das gestiegene Armutsrisiko sind. Denn Geringverdiener müssen einen überproportional großen Teil ihres Einkommens für das Wohnen aufwenden. So ist das die Armutsrisikoquote bei Mieter*innen seit 1991 deutlich gestiegen: Lag sie hier Anfang der 1990er Jahre bei etwa 16%, betrug sie im Jahr 2015 knapp 29%. Von dieser Entwicklung sind vor allem junge Erwachsene bis 35 Jahren betroffen, die zur Miete wohnen. Deren Armutsrisikoquote ist seit 2000 um 15% gestiegen.

Aber auch für Rentner*innen sind die steigenden Mieten zu einem existenziellen Problem geworden. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA)[2] haben 38% der Haushalte älterer Mieter*innen derart mit den hohen Wohnkosten zu kämpfen, dass sie »überbelastet« sind. Das heißt, sie verwenden 40% oder mehr ihres monatlichen Einkommens auf die Zahlung der Miete. Zum Vergleich: 1996 lag der Anteil der durch Mieten »überbelasteten« Rentner-Haushalte noch bei 22%. Und: Wenn nicht gegengesteuert wird, wird sich diese Entwicklung weiter fortsetzen.

Schere von steigenden Mietbelastung und Alterseinkommen öffnet sich immer weiter
Die Immobilienpreise und Mieten in Deutschland sind in den letzten Jahren stark gestiegen.[3] So haben sich die Angebotsmieten von 2005 bis 2017 im Durchschnitt um knapp 29% erhöht. Die Alterseinkommen entwickelten sich wesentlich schwächer.[4] Wegen der politisch gewollten Absenkung des Rentenniveaus auf 43% (Durchschnittsrentner, vollzeitbeschäftigt, 45 Beitragsjahre) droht ab 2030 allen Arbeitnehmer*innen, die weniger als 2.500 Euro brutto im Monat verdienen und 35 Jahre Vollzeit gearbeitet haben, eine Rente unterhalb des Grundsicherungsbetrags. Durch die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, hohe Massenarbeitslosigkeit, aber auch durch stagnierende oder gar rückläufige Lohneinkommen sowie die diversen Renten»reformen« der letzten beiden Jahrzehnte können viele Lohnabhängige nicht mehr ausreichende Rentenansprüche aufbauen.[5]

So betrug der durchschnittliche Zahlbetrag der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), der quantitativ wichtigsten Einkommensquelle im Alter, im Jahr 2005 im Rentenbestand 666 Euro und im Jahr 2017 802 Euro. Das bedeutet einen Anstieg von nur 20%, der erheblich unter der Entwicklung der Immobilien- und Mietpreise liegt. Parallel dazu wächst die Armutsrisikoquote von Personen ab 65. In der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen lag die Quote im Jahr 2006 noch bei 11%, im Jahr 2016 betrug sie 13,4%.

Die Auseinanderentwicklung von Renteneinkommen und Mieten führt dazu, dass es für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren immer schwieriger wird, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Allerdings sind nicht alle Personengruppen in gleicher Weise von dieser Entwicklung betroffen. Erstens ist die Entwicklung der Immobilienpreise und Mieten nicht in allen Regionen gleich. Die Preise steigen in Großstädten im Vergleich zu ländlichen Regionen besonders stark. Zweitens wirkt sich die Wohnkostenentwicklung unterschiedlich nach Eigentümerstatus aus. Während Eigentümer*innen von steigenden Immobilienpreisen profitieren können, müssen Mieter*innen entsprechend mehr für das Wohnen zahlen. Von der steigenden Belastung durch Wohnkosten sind auch Bestandsmieter*innen betroffen. Sie leben häufig in älteren Immobilien, die saniert werden müssten, was zu starken Mietsteigerungen führen könne.

Die Mieten sind damit zu einem gewichtigen Faktor der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. »Wenn man sich die Entwicklung der Alterseinkommen und die Entwicklung der Mietpreise in den letzten etwa 15 Jahren vor Augen führt, so geht dort eine Schere auseinander, da sich die Alterseinkommen wesentlich schwächer entwickeln als die Mietkosten und auch die Immobilienpreise«, sagt Markus Grabka vom DIW. 2016 gaben Rentner*innen-Haushalte im Schnitt 34% ihres Einkommens für Miete plus Nebenkosten aus. Eigentümerhaushalte mussten dagegen nur 15% ihres Einkommens für die Wohnkosten aufwenden. Unter Älteren gibt es heute zwar anteilig mehr Eigentümerhaushalte als noch vor 20 Jahren, da immer mehr Ältere aus den höheren Einkommensgruppen Wohneigentum besitzen. Von den Haushalten mit niedrigeren Einkommen dagegen wohnt die Mehrheit zur Miete.

Besonders bedrohlich sind die Mietsteigerungen vor allem für Menschen mit geringen Einkommen. Sie leben deutlich häufiger zur Miete als andere in dieser Altersklasse. So besitzen unter den 20% Rentner*innen mit den niedrigsten Einkommen 66% kein Eigenheim. Sie trifft der Anstieg der Mieten besonders hart. Aber auch Rentner*innen mit höheren Einkommen ächzen unter der Entwicklung. Während 1996 etwa 38% der älteren Mieterhaushalte knapp ein Drittel ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben mussten, gilt das heute bereits für zwei Drittel. Wer im Alter allein lebt – und das sind oft Frauen – kommt mit dieser hohen Belastung kaum zurecht.

Werden mehr als 40% des Haushaltseinkommens für Wohnkosten ausgegeben, liegt nach gängiger Definition eine Überbelastung durch Wohnkosten vor. Der Anteil der älteren Mieterhaushalte mit einer Wohnkostenüberbelastung ist seit 1996 stark gestiegen und lag im Jahr 2016 bei 38%. In anderen Worten: Beinahe zwei Fünftel aller älteren Mieterhaushalte leben in nicht angemessen bezahlbarem Wohnraum und müssen – wenn nicht ausreichend Vermögen vorhanden ist – ihren privaten Konsum einschränken, um für Miete und Nebenkosten aufzukommen. Vor zwanzig Jahren lag der Anteil mit rund einem Fünftel noch deutlich niedriger.

Berücksichtigt man zusätzlich diejenigen Haushalte, deren Wohnkostenbelastung zwischen 30% und 40% liegt, was schon als hoch bezeichnet werden kann, sind es im Jahr 2016 fast zwei Drittel der Mieterhaushalte, die 30% und mehr ihres Einkommens allein für Wohnkosten aufwenden. Im Jahr 1996 traf dies nur auf etwas mehr als ein Drittel zu.

Wegen der zu geringen Renteneinkommen und der wachsenden Belastung durch die Wohnkosten gehen immer mehr Rentner*innen arbeiten. Ende 2017 hatten fast 1,1 Mio. Senior*innen ab 65 Jahren eine geringfügige Beschäftigung.

Die Zahl der Rentner*innen mit Minijob stieg damit seit 2003 um 83% bzw. 500.000. Einen besonders großen Zuwachs gibt es den Angaben bei den Rentner*innen ab 75 Jahren. Ende 2015 waren mit knapp 176.000 Senior*innen dieser Altersgruppe mehr als doppelt so viele in einem sogenannten 450-Euro-Job beschäftigt als im Jahr 2005. Während in der Gesamtbevölkerung die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten (Minijobs) seit 2005 rückläufig ist, verkehrt sich diese Entwicklung im Alter also ins Gegenteil. Die Quote der ausschließlich geringfügig Beschäftigten sinkt bei den 15 bis 64-Jährigen (2005: 8,0% auf 2014: 7,8%) und steigt aber bei den 65 und älteren von 4,4 auf 5,5% an.

Auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig arbeitenden Senior*innen hat deutlich zugenommen. Ende letzten Jahres waren 308.000 sozialversicherungspflichtige Lohnabhängige älter als 65 Jahre. Rechnet man die raus, die die Altersgrenze noch nicht erreicht haben, waren das immer noch 237.000 Senior*innen.

Für das Arbeitern im Alter gibt es unterschiedliche Gründe. Die meisten arbeitenden Rentner*innen wollen den Kontakt zu den Kolleg*innen nicht missen, haben Spaß an ihrer Arbeit und suchen Erfüllung in ihrer Aufgabe, und wollen ihr Haushaltseinkommen aufbessern. Aber selbstverständlich ist für viele Renter*innenhaushalte vor dem Hintergrund der niedrigen Renteneinkommen die Aufbesserung der Haushaltskasse eine existentielle Notwendigkeit.

Was zu tun wäre

Die Autor*innen der DIW Studie schlagen drei Maßnahmen vor, um der durch die steigenden Mieten und unzureichende Alterseinkommen bedrohlichen sozialen Situation auch vieler Rentner*innenhaushalte zu begegnen. Erstens setzen sie auf die Förderung des Wohneigentums, die sich allerdings erst langfristig auswirken kann. Zweitens plädieren sie dafür, die Einkommen (nicht nur) der betroffenen Rentner*innen durch eine dynamisierte Anpassung des Wohngelds aufbessern. Die dritte Stellschraube soll der soziale Wohnungsbau sein. Es müssten viel mehr Sozialwohnungen gebaut werden, vor allem in und um Großstädte.

Mehr Wohngeld und sozialen Wohnungsbau sind sicherlich sinnvolle Maßnahmen, die aber nicht ausreichen, um dem Problem steigender Mieten und unzureichender Sozialtransfers beizukommen. Es geht erstens darum das Rentenniveau wieder zu erhöhen und die Grundsicherungsleistungen schrittweise auf ein armutsfestes Niveau anzuheben.

So fordert der Sozialverband VdK u.a.:

  • Das Rentenniveau muss dauerhaft auf über 50% angehoben werden. Das Festschreiben des Niveaus bei 48%, wie von Schwarz-Rot vorgesehen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, dem eine Anhebung auf 53% folgen muss. Die Renten müssen wieder parallel zu Löhnen und Gehältern angehoben werden. Dafür müssen die Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel abgeschafft werden.
  • Zur Vermeidung von Altersarmut innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung müssen gezielt die Elemente des sozialen Ausgleichs, wie Rente nach Mindesteinkommen, Bewertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit und Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung und Pflege von Familienangehörigen, überprüft, modifiziert und ausgebaut werden.
  • Die Erwerbsminderungsrenten müssen angehoben werden, damit Krankheit nicht zur Armutsfalle wird. Die Abschläge von bis zu 10,8% müssen abgeschafft werden, auch für Bestandsrentner*innen. Die von der schwarz-roten Koalition angekündigten Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente können hier nur der erste Schritt sein.
  • Die gesetzliche Rentenversicherung muss langfristig zu einer Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden. Das erfordert, alle Selbstständigen und Beamte in die Versicherungspflicht einzubeziehen. So wird die Einnahmesituation der Rentenversicherung verbessert, und die Pensionslasten werden verringert.

Zweitens geht es im Bereich der Wohnungspolitik darum, die Marktgesetze bei Grund und Boden außer Kraft zu setzen. Für weite Bereiche des Umgangs mit Grund und Boden muss das Allgemeinwohl gelten und nicht die Gewinnsteigerung. In diesem Sinne ist auch die überfällige Besteuerung der Grundsteuer zu reformieren. Als Steuer, die an das Vermögen ihres Eigentümers anknüpft und nicht zu den üblichen Nebenkosten gehört, sollte die Grundsteuer künftig auch nicht mehr auf die Mieter überwälzt werden dürfen.

Ein Sozialer Wohnungsbau, der diesen Namen verdient, ist nur möglich nur möglich, wenn er öffentlich finanziert und von öffentlichen, gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Trägern verwirklicht wird. Nur ein auf diese Weise entstehender und wachsender gemeinwirtschaftlicher Wohnungssektor, der von den Mietern demokratisch verwaltet wird, böte die Möglichkeit für ein dauerhaft soziales Wohnungswesen.

Es ist ein »Mythos«, dass Neubau die Krise auf dem Mietmarkt lösen könne. Die öffentliche Hand kann regulierend eingreifen, Mietpreissteigerungen können durch Deckelung und durch die Förderung bezahlbaren Wohnraums unterbunden sowie durch die Schaffung einer Struktur von öffentlichen, genossenschaftlichen und privatkapitalistischen Eigentümern auf ein anderes Entwicklungsterrain gehoben werden.

[1] Markus M. Grabka und Jan Goebel, Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, DIW Wochenbericht 21/2018
[2] Laura Romeu Gordo, Markus M. Grabka, Alberto Lozano Alcántara, Heribert Engstler und Claudia Vogel, Immer mehr ältere Haushalte sind von steigenden Wohnkosten schwer belastet, DIW Wochenbericht 17/2019.
[3] Vgl. Redaktion Sozialismus, Mietenwahnsinn und Alternativen, in Sozialismus 6/2019
[4] Vgl. dazu Joachim Bischoff/Bernhard Müller, Schlüsselproblem Altersarmut, in: Sozialismus 11/2018
[5] Zu beachten ist, dass bei der Einschätzung der Renten nicht einfach auf das Haushaltseinkommen der Rentner*innen geschlossen werden kann. Die Rentenhöhe gibt für sich genommen nur eingeschränkt Hinweise auf die Einkommenssituation im Alter. Da weitere Einkommen nicht berücksichtigt werden, ist die Bezugnahme auf die Höhe des durchschnittlichen Bruttobedarfs von Empfänger*innen der Grundsicherung im Alter (800 Euro, Stand Dezember 2016) diesbezüglich nicht aussagefähig.

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