„Auf die Existenzsorgen der Menschen müssen, um alldem zu begegnen, zuallererst überzeugende und glaubwürdige Antworten, Zukunftsperspektiven gegeben werden.“

Zum Vortrag von Werner Seppmann im Herner Sozialforum vom 28.11.2019

Warum wählen (auch) Arbeiter die AfD?

von Werner Seppmann

 

Es hat keine fünf Jahre gedauert, bis aus der anfänglichen „Professorenpartei“ AfD, entstanden aus einer von „Honoratioren“ getragenen Bewegung gegen den Euro bzw. den „Euro-Rettungsschirm“, eine Formation mit politischer Prägekraft geworden ist. Die Partei hat mittlerweile die Sozialdemokraten als drittstärkste politische Kraft in der BRD abgelöst. Es wäre jedoch zu viel der Ehre, der AfD zu attestieren, ihr Aufstieg habe das politische Koordinatensystem der BRD durcheinandergewirbelt. Denn tatsächlich sind durch ihren Erfolg nur existierende Tendenzen sichtbarer geworden: Der Rechtspopulismus hat vorhandener Fremdenfeindlichkeit und einem nationalistischen „Grundrauschen“ einen konkreten Ort gegeben. Die Deutschlandfahnen in den kleinbürgerlichen Vorstadtsiedlungen und auf den Balkonen der Sozialwohnungen sind schon lange vor dem Aufstieg der AfD unübersehbar gewesen.

Zementierung der Spaltung

Aus ihrer gemeinsamen Niederlage haben die etablierten Parteien offensichtlich nichts gelernt. Es ist Bestandteil der „Erfolgsbilanz“ der AfD, dass sich fast alle politischen Kräfte der BRD deren chauvinistischer Position in der Flüchtlingsfrage angenähert haben. Die Hoffnung, den politischen Konkurrenten auf diese Weise zurückdrängen zu können, hat sich nicht erfüllt. Am allerwenigsten sind die Sozialdemokraten in der Lage zu vermitteln, weshalb man sie wählen sollte. Aus beinahe jeder Äußerung des SPD-Personals wird deutlich, dass nichts, aber auch gar nichts aus dem dramatischen Absturz gelernt wurde. Versprochen wird zwar, die „Übertreibungen“ der Hartz-IV-Zumutungen zu „korrigieren“, aber zu mehr als zu „Schönheitsreparaturen“ scheint niemand bereit zu sein.

Typisch ist die Forderung der ehemaligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, die Sanktionen (Leistungskürzungen bei „Fehlverhalten“) für jüngere Hilfebedürftige abzuschaffen. Grundsätzlich wird damit allerdings weiterhin die Praxis akzeptiert, die Hilfssätze unter das Existenzminimum zu drücken – wovon jährlich fast eine Million Bedürftige betroffen sind.

Nicht einmal ansatzweise existiert ein Bewusstsein davon, wie sehr sich die Partei mit den Angriffen auf die Sozialsysteme und die Lebensinteressen der Lohnabhängigen diskreditiert hat. Geradezu zynisch mutet an, dass ein „Neuanfang“ ausgerechnet mit Andrea Nahles gelingen soll, die sich bedenkenlos als Propagandarednerin der Schröderschen „Agenda-Politik“ betätigt und im demagogischen Jargon verkündet hatte: „Wir wollen die Leistungsbereitschaft der Menschen nicht durch karitative Transferlogiken einschläfern.“1

Die Umsetzung dieses Programms hieß Einschüchterung durch Verunsicherung. Es gibt also Gründe, warum den Sozialdemokraten die Stammwähler davongelaufen sind und etliche von ihnen inzwischen der AfD ihre Stimme geben. Man wird jedoch genauer hinsehen müssen, aus welchen gesellschaftlichen Schichten die AfD-Wähler kommen. Eine knappe Skizze der bundesrepublikanischen Klassenverhältnisse vermag zu illustrieren, in welchem sozialen Umfeld der Aufstieg der Partei stattgefunden hat.2 In den vergangenen Jahrzehnten fanden tiefgreifende Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen statt, die auch innerhalb der Linken nur selten in klassenanalytischer Perspektive diskutiert wurden. Die offensichtliche Hilflosigkeit gegenüber dem Rechtspopulismus geht auch darauf zurück.

Grundlegend war eine beispiellose Privilegierung der oberen Gesellschaftsschichten auf der einen Seite und eine Spaltung der unteren Schichten auf der anderen. Die oberen zehn Prozent sichern sich mittlerweile einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, wie das zuletzt im Kaiserreich der Fall war. Auf der Stufe darunter finden wir die gesellschaftlichen „Funktionsträger“, die Professoren, Manager, Finanztechniker, Rechtsexperten ebenso wie die gehobene technische Intelligenz – nicht zu vergessen auch die Berufspolitiker und die Profiteure der mikroelektronischen Revolution. Alle diese Gruppen sind ständig bemüht, ihre Privilegien (beispielsweise durch Steuersenkungen) zu erhalten und Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen gemäß ihrer Interessen zu nehmen.

Darunter beginnt mit vielen Abstufungen der Bereich, der heute undifferenziert als gesellschaftliche Mitte bezeichnet wird. Das trifft die Sache nicht ganz, soll jedoch hier nicht weiter problematisiert werden. Auch in den oberen Segmenten dieser „Mitte“ ist ein nicht unerheblicher Teil unter Druck geraten. Viele fühlen sich vom Abstieg bedroht, weil sie merken, dass ihre gesellschaftliche Stellung nicht mehr so stabil ist, wie sie einst wähnten und wie die offiziösen Propagandaredner behaupten. Diese Unsicherheit hat viele Facetten. Beispielsweise resultiert sie aus der Erfahrung, dass der Statuserhalt für die Kinder keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Ein anderer Aspekt, der in der Regel kaum thematisiert wird, sind die Verdrängungserfahrungen durch die sich ausbreitende Digitalwirtschaft. Der Apotheker hat es mit den Internetanbietern ebenso zu tun wie der Inhaber einer Lotto-Annahmestelle.

Bedrohungserfahrungen

Die Lebenssituation einer ehemals „gutsituierten Mitte“ ist in der Regel dadurch charakterisiert, dass sie immer mehr und intensiver arbeiten muss, um „über die Runden“ zu kommen. Gestiegen ist der zur Existenzsicherung notwendige Einsatz von Lebensenergie, ohne sich der erreichten Position jemals ganz sicher sein zu können, denn auf der erreichten sozialen Stufe scheint für alle kein Platz mehr zu sein. Das ist eine realistische Wahrnehmung. Die sozialstatistischen Daten dokumentieren, dass „nicht nur die Aufstiegsdynamik stagniert, [sondern] auch die Abstiege“ sich häufen.3

Was zu betrachten übrigbleibt, ist der arme Rest der Gesellschaftspyramide, also ziemlich exakt deren untere Hälfte, die sich zu 20 Prozent aus Menschen zusammensetzt, die in der einen oder anderen Form in Armut leben, und einer weiteren Gruppe – etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung –, die permanent vom sozialen Absturz bedroht ist. Wie dramatisch sich die Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben, wird dadurch deutlich, dass 1965 nur jedes 75. Kind auf Sozialhilfe angewiesen war. Heute ist es (mindestens) jedes fünfte.4

Zweifellos gibt es nicht wenige Lohnabhängige, gerade auch unter den Facharbeitern und mittleren Angestellten, die noch in gesicherten Verhältnissen leben. Aber ganz so „komfortabel“ wie noch in der jüngeren Vergangenheit erleben sie ihre Situation nicht mehr. Beispielsweise wird in den Betrieben die unübersehbare Anwesenheit von prekär Beschäftigten („Randbelegschaften“) als das erfahren, was sie im Sinne des Kapitals auch ist: eine ständige Erinnerung an die Unsicherheit der eigenen Existenz.

In einer aktuellen Studie zur Klassenstruktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird der Anteil der Lohnabhängigen, die intensiv an der Verteidigung ihrer Position arbeiten müssen, auf 65 Prozent geschätzt. Diejenigen, die dieser Gruppe zuzuordnen sind, werden in dieser bemerkenswerten Studie mit großer Plausibilität als „Kämpfer“ bezeichnet, „weil sie zur Berufsarbeit gezwungen sind und sie um Leistung und Verdienst täglich kämpfen müssen“.5

Es kommt als belastender Faktor hinzu, dass viele traditionelle „Gewissheiten“ keine Gültigkeit mehr haben und die Zukunftsperspektiven weniger kalkulierbar geworden sind. Alle verunsichernden Veränderungen und Wahrnehmungen werden von der Hartz-IV-Bedrohung überwölbt, die jeden 40jährigen permanent daran erinnert, dass er in spätestens zehn Jahren, wenn er „aus dem Tritt“ gerät, schnell in die Abstiegsspirale geraten kann. Besonders diese letztgenannte Gruppe fühlt sich, wenngleich sie in etwas besseren Verhältnissen lebt, von der AfD angesprochen bzw. umgekehrt von ihren bisherigen Interessenvertretern verraten und verkauft. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass die Gewerkschaften in der amtlichen Kommission zur Anpassung des Mindestlohns sich gerade zum zweiten Mal mit den Unternehmervertretern darüber einig waren, nur die gesetzlich vorgeschriebene Mindesterhöhung vorzunehmen.

Die politische Bühne haben nun also Akteure betreten, von denen die Verunsicherten, Bedrohten und Abgehängten den Eindruck haben, dass sie für ihre Sorgen und Nöte ein offenes Ohr haben. Deren gegenwärtiger Zuspruch dokumentiert, dass sie einen Nerv getroffen haben, obwohl die AfD in entscheidenden Punkten wie der historische Faschismus vorgeht, sich des Mittels Betrug bedient, um den Eindruck zu erwecken, für die „da unten“ da zusein. Das ist taktisches Kalkül. Die tonangebenden AfD-Politiker wissen, was sie tun: Sie folgen einem Konzept von Armin Mohler, einem, wenn man so will, Vordenker des Rechtspopulismus, der herausgearbeitet hat, dass eine rechte Strategie die Stimmung in Krisenzeiten instrumentalisieren kann, wenn sie „Fürsorglichkeit“ und Verständnis vortäuscht: Solche Orientierungen rechter Bewegungen auf eine „Politik der Sorge“ ermögliche politischen Terraingewinn.6

Alte Kameraden

Der Blick auf eine verbreitete Verunsicherung, auf die nicht zuletzt die Erfolge der Rechtspopulisten zurückgehen, sollte jedoch nicht davon ablenken, dass keinesfalls nur „Abgehängte“ und verunsicherte „Mittelschicht“ von der AfD angesprochen werden. In der ersten Reihe aktiv sind die Protagonisten einer „gefestigten“ Rechten, die sich in einer Traditionslinie mit den „alten Kameraden“ sehen. Hinzu kommen die Vertreter eines nationalkonservativen Blocks, die eine Vermittlerfunktion zwischen dem Rechtspopulismus und traditionell faschistischen Orientierungen einnehmen.

Anfänglich blieb die tatsächliche Ausrichtung der AfD undeutlich. Es schien sachlich unangemessen, von ihr als einer neofaschistischen Partei zu sprechen – obwohl es einen solchen Strang seit ihrer Gründungsphase gab. Eine durch und durch faschistische Partei ist sie zwar immer noch nicht, aber die Demarkationslinie zwischen Rechtspopulismus und Neofaschismus verschwimmt mehr und mehr. Spätestens seit den letzten Parteitagen ist deutlich geworden, wie stark die Neofaschisten inzwischen sind.

Es hat viele wegbereitende Faktoren gegeben (die „geistig-moralische Wende“ der Kohl-Zeit und auch die rassistische Sarrazin-Welle gehören dazu), und dennoch ist das Tempo der Rechtsentwicklung, die sich in den innerparteilichen Formierungsprozessen der AfD manifestiert, überraschend: Der Einfluss der dezidiert rechtsextremen Kräfte ist deutlich gestiegen. Immer prägender werden die Akteure aus der Richtung um den Faschisten sans phrase Björn Höcke. Unabhängig davon, wie diese neofaschistischen Tendenzen bewertet werden, ist es denkbar, dass sie (wenn auch indirekt) den Weg für einen „traditionellen“ Faschismus bereiten können. Die aktuelle Entwicklung in Italien sollte eine Lehre sein. Die AfD könnte ähnliche Effekte erzielen wie die „Fünf-Sterne-Bewegung“, die mit ihrer vorgeblichen Antipolitik „dem getarnten Faschismus der Lega Nord Tür und Tor geöffnet“ hat.7

Jedoch selbst diese Bewegung nimmt gegenwärtig nur eine Platzhalterrolle ein, insofern sie das Feld für einen formierten Faschismus, einer Bewegung autoritärer Apparate und totalitärer Erziehung, der Militarisierung und einer Politik der Gewalt vorbereiten kann. Die Fraktion der Mussolini-Anhänger steht jedenfalls Gewehr bei Fuß.

Erfolgreiche Medienoffensive

Große Teile der etablierten Medien verhalten sich zum bundesrepublikanischen Rechtspopulismus mindestens distanziert, oftmals ablehnend. Darauf ist nicht viel zu geben, da AfD und Co auf die etablierten Meinungsdistributoren kaum angewiesen sind. Die Rechte weiß die sogenannten neuen Medien effektiv und erfolgreich zu nutzen.8

Traditionelle Wege der Meinungs- und Einstellungsvermittlung werden dadurch unterlaufen. Die nackten Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache: Rechtsextreme und rechtspopulistische Webseiten erreichen tagtäglich Zigtausende Leser. Die „national-konservative“ Wochenzeitung „Junge Freiheit“ kommt laut Analysedienst „Similar Web“ mit ihrer Website jeden Monat auf mehr als 2,6 Millionen Zugriffe. Noch einflussreicher ist der islamfeindliche Blog „PI-News“ mit monatlich rund 5,3 Millionen Zugriffen, und die Wutbürgerpostille „Epoch Times“ kommt binnen der gleichen Zeitspanne auf eine Zahl von fast sechs Millionen.9

Diese Liste könnte fortgesetzt werden. Damit allerdings sind lediglich Aktivitäten auf der Ebene organisierter Propaganda erwähnt. Hinzu kommen die irrationalistischen, hasstriefenden Kommentare in den beschönigend so bezeichneten „sozialen Netzwerken“. Widerwillig hat der Direktor der Medienanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen die gravierenden Ausmaße dieses Betätigungsfeldes politischer Irrläufer dokumentiert. Mit abwiegelnden Worten wurden von ihm im Sommer 2018 Untersuchungsergebnisse präsentiert, die ergeben hätten, dass diese Szene in der „öffentlichen Wahrnehmung“ maßlos überschätzt werde, denn bloß „ein Prozent der Nutzer“ verbreite „Hasskommentare“.

Ein Prozent? Eine zu vernachlässigende Größe? In absoluten Zahlen sind das innerhalb des Untersuchungszeitraums sage und schreibe 700 000 faschistoide Meinungsäußerungen, die strafrechtliche Relevanz besitzen. Wohlweislich verschwiegen wird dabei zudem, wie viele (zustimmende) Leser solche Kommentare erreichen. Entgegen der offiziellen Verharmlosung wird man sagen müssen: Es hat sich eine Sturmtruppe reaktionärer Stimmungsmache formiert. Was sich im Erfolg der populistischen Rechten ausdrückt, ist dennoch nicht ursächlich auf die neuen Kommunikationskanäle zurückzuführen. Denn ihr Aufstieg gründet in krisenhaften Entwicklungen von Ökonomie und Gesellschaft, in der Allgegenwart von Vorurteilen und sozial stimulierten Abgrenzungsbedürfnissen. Aber auch an eine weit nach rechts offene „Gesinnungslage der Nation“ kann die AfD bruchlos anschließen.

Die empirischen Rohdaten sprechen für sich: Einzelne Elemente rechter, antidemokratischer, sozial-diskriminierender, fremdenfeindlicher und völkischer Einstellungen werden von bis zu 60 Prozent der Bevölkerung geteilt. Noch vor wenigen Jahren resistent gegen allzu plumpe Verunglimpfungen, wurden nach der Weltwirtschaftskrise auch Teile einer „gutbürgerlichen Mitte“ von den Stimmungen eines ohnehin schon erklecklichen Teils der Bevölkerung erfasst, der beispielsweise meint, es sei „empörend“, dass sich die Langzeitarbeitslosen „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“ machten.

Der Anteil der Menschen mit latent antisemitischen Einstellungen liegt in der BRD im Bereich von 20 Prozent. Viele Untersuchungen verfehlen jedoch die tatsächliche Dramatik der Bewusstseins- und Stimmungslage, weil sie von rechtsextremen Einstellungen nur dann sprechen, wenn geschlossene Weltbilder ausgemacht werden, wenn also Rassismus, autoritäre Politikvorstellungen, Fremdenfeindlichkeit, Gewaltphantasien und Antisemitismus gemeinsam auftreten. Die Zustimmung zu einer rechtsextremen Ideologie bewegt sich dann tatsächlich „nur“ im Bereich von zehn Prozent. Aber diese Einschätzung ist irreführend, denn reaktionäre Weltbilder sind auch jenseits von Antisemitismus und Führerkult weit verbreitet. Das hat zur Folge, dass alle, „die zum Beispiel eine autoritäre Herrschaftsform ablehnen und die Demokratie grundsätzlich für gut halten [und so wäre noch hinzuzufügen, bei Wahlen für Parteien der „Mitte“ votieren], allerdings zugleich rassistische oder antisemitische Einstellungen haben, (…) statistisch nicht zu dieser Personengruppe gezählt“ werden.10

Alltäglicher Irrationalismus

Zwar vertreten die Parteigänger rechtspopulistischer Gruppierungen überdurchschnittlich oft rassistische bzw. fremdenfeindliche Positionen und bevorzugen autoritäre Politikkonzepte: Jedoch sind die rechten Weltbilder oft genug auch mit Einstellungen der „Mehrheitsgesellschaft“ vereinbar, in der Abwertungs- und Ausgrenzungsphantasien seit jeher vorhanden sind, weil sie den „gewöhnlichen“ marktextremen und damit sozialdarwinistischen Auffassungen von der „Natürlichkeit“ eines Kampfes aller gegen alle entsprechen. Von der AfD wird deshalb auch nicht ursächlich die „Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft betrieben“, wie oft zu lesen ist, sondern sie instrumentalisiert reale Ausgrenzungs- und Abwertungsvorgänge. Es sind die kapitalistischen Funktionsmechanismen, die irrationalistische Denkmuster und Stigmatisierungsbedürfnisse produzieren. Selbst unter Druck geraten, pocht ein wachsender Teil auf vermeintlich angestammte „Vorrechte“ („Arbeitsplätze für Deutsche“) und wertet gleichzeitig (als hilflose Geste der Distanzierung gegenüber Verhältnissen, in die man abzurutschen befürchtet) jene ab, denen es noch schlechter geht: Denn „geht das Geschäft nicht wie gewöhnlich, dann wird der Sinn scharf“.11

Solche Reaktionsmuster sind der eigentliche Humus für die rechten Bewegungen, die erst versetzen sie in die Lage, durch Personalisierung („Flüchtlinge“, „Islamisten“ etc.) ein irrationalistisches Bedrohungsbild zu schaffen. Die rechtspopulistische Weltbildarbeit schließt also direkt an bestehende Abwertungsphantasien an, kanalisiert und „unterfüttert“ sie mit ihren Stereotypen der Diskriminierung. Diese propagandistische Vermittlungsarbeit fügt sich jedoch nicht automatisch zu einer kompakten rechtsextremen Ideologie: Sie kann jedoch eine Zwischenstufe bei deren Vermittlung, Ausbildung und Verfestigung sein.

Was eine gesellschaftliche Linke am Aufstieg einer rechten Bewegung in der Bundesrepublik vorrangig interessieren muss, ist die Frage, warum so viele „sozial Schwache“ zum Rechtspopulismus tendieren, aber auch Gewerkschafter bereit sind, bei Wahlen der AfD ihre Stimme zu geben. Auf den ersten Blick sprechen die Zahlen für sich: Der Anteil der Wahlberechtigten mit AfD-Präferenzen liegt bei Beschäftigten mit einfacher beruflicher Qualifizierung und bei Arbeitern bei 36 Prozent. Auch bei den Gewerkschaftsmitgliedern in diesen Beschäftigtengruppen beträgt er noch 24 Prozent.

In den Betrieben hat die AfD organisatorisch noch nicht flächen-deckend Fuß fassen können, aber immerhin wichtige Brückenköpfe erobert: Betriebsgruppen gab es Ende 2017 beispielsweise bei Volkswagen, im BMW-Werk Leipzig, bei Opel in Rüsselsheim und bei Daimler in Rastatt. Bei den Betriebsratswahlen 2018 erzielte die AfD-nahe Liste „Zentrum Automobil“ im Daimler-Werk Untertürkheim ein Stimmenergebnis von 13,2 Prozent und kann damit sechs Betriebsräte stellen.

Veränderung des Betriebsklimas

Grundlage des Bedeutungszuwachses rechter Akteure ist eine mehr als schleichende Veränderung des betrieblichen Klimas in Richtung fremdenfeindlicher und sozialdemagogischer Orientierungen in den vergangenen Jahren. Diese Entwicklung hat zunächst ohne einen unmittelbaren Einfluss rechter Aktivisten stattgefunden. Die Formierung „beginnt im Kleinen. Etwa bei Diskussionen in der Pause über Flüchtlinge, wo es dann heißt: „Die bekommen alles umsonst, und wir müssen dafür arbeiten‘, und reicht bis dahin, dass Gewerkschaftsfunktionäre ausgepfiffen werden, wenn sie sich auf Betriebsversammlungen kritisch zur AfD äußern“.12

Bei solchen Erfahrungen muss jedoch berücksichtigt werden, dass rechtspopulistische Tendenzen bei Lohnabhängigen nicht automatisch mit geschlossenen rechten Weltbildern einhergehen, denn zu einem beträchtlichen Teil handelt es sich bei der Übernahme rechter Parolen in einem Klima der Orientierungslosigkeit um „symbolische“ Akte, mit denen Benachteiligte und Verunsicherte auf ihre Probleme aufmerksam machen wollen, die nach ihrem Eindruck von keiner politischen Gruppierung mehr aufgegriffen werden. Die rechtspopulistische Partei erhält Zustimmung, weil ihre assoziativen Schlagworte den Nerv vieler Beschäftigter mit ihren Sorgen, Befürchtungen und Ängsten treffen: „Die Partei ist ein Resonanzraum für Gefühle und eine Projektionsfläche für Hoffnungen. Deshalb reicht es nicht aus, ihr nur mit Fakten Paroli zu bieten. Ängste lassen sich nicht dementieren, Wut lässt sich nicht wegargumentieren.“13

Es gibt Aspekte der Hinwendung zu den rechtspopulistischen Gruppierungen, die man, „so widersprüchlich es klingen mag, (…) zumindest teilweise als eine Art politischer Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss“, denn die Menschen „versuchen, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten“.14

Es ist ja nur zu offensichtlich, dass es – von Labour in Großbritannien über die „Sozialisten“ in Frankreich bis zur SPD in der Bundesrepublik – „Sozialdemokraten“ waren, die in den 90er Jahren dem Neoliberalismus mindestens als Steigbügelhalter, wenn nicht sogar als dessen „Vortrupp“ gedient haben.

Sozialpolitische Zäsur

Wut und Zorn verstärkten sich, als die Monstrosität der Hartz-Gesetze allmählich sichtbar wurde.15 In Kombination mit den infolge der Weltwirtschaftskrise intensivierten Bedrängungs- und Unsicherheitserfahrungen entwickelte sich bei den Belegschaften sogar ein latenter Antikapitalismus, der jedoch keinen Adressaten kannte. Die Belegschaften der Industrie erwarten am allerwenigsten noch etwas von den Gewerkschaften.16

Wut und Zorn blieben folglich ziellos. Vor allem die besonders intensiv Bedrängten und die „Abgehängten“ resignierten – bis sich Pegida formierte und die AfD durch ihre Wahlerfolge die Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihnen gelang es, der Erregung eine Richtung zu geben. Die zuvor diffuse Wut fand nun eine Projektionsfläche. Sie „resultiert nun nicht mehr weitgehend in Ohnmacht, sondern setzt neue kollektive Machtphantasien frei“.17

Im Windschatten der politischen Bedeutungszunahme der AfD kam es in den Betrieben zu einer verstärkten Akzeptanz rechter „Erklärungsmuster“, auch wenn offene Zustimmung zum Rechtspopulismus noch die Ausnahme war. Artikuliert wurden rechte Schlagworte und Parolen „zunächst vor allem in privaten Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen“18, die direkte fremdenfeindliche Artikulation wurde jedoch vermieden, weil sie zumeist noch auf Widerspruch traf. Aber dann wurde die „Flüchtlingswelle“ zu einem „Medienereignis“, latente und schemenhafte ausländerfeindliche Einstellungen gewannen an Kontur, wurden radikaler. Vorurteile wurden ungehemmter ausgesprochen – und gleichzeitig wurde die Gegenwehr von Kolleginnen und Kollegen schwächer. Ein Gewerkschafter hat diese Entwicklung zutreffend zum Ausdruck gebracht: „Diese Flüchtlinge (…), das hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“19

Merklich nahm die Bereitschaft zu, demagogische Sprachmuster aufzugreifen. Offensichtlich gab „es im Kontext der Fluchtbewegung einen signifikanten Prozess der Enttabuisierung rassistischer Ressentiments in Betrieben und Verwaltungen“.20 Was bis dahin eher verhalten ausgesprochen wurde, geschah nun freimütiger: Die Enttabuisierung ging mit der Enthemmung einher. Dadurch wurde „ein Alltagsrassismus sichtbar, bei dem die Übergänge von provokanten, aber nicht fest im rechten Ressentiment verankerten Äußerungen bis zu verbalen rechtsradikalen Stigmatisierungen und Ausgrenzungen durchaus fließend sind“.21

Spaltende Gewerkschaftspraxis

Diese „Entgrenzungen“ in den Betrieben sollten nicht überraschen, denn die Zunahme diskriminierender Aussagen ist über lange Jahre durch die Privilegierung der Interessen von Stammbelegschaften in der praktischen Gewerkschaftsarbeit in nicht wenigen Branchen vorbereitet worden. Mit dieser gewerkschaftlichen Reaktion auf die tiefen Einschnitte in das Arbeitsrecht durch die neoliberalen „Reformen“ (die prekäre Beschäftigung im gegenwärtigen Umfang erst ermöglicht haben) wurde die Axt an die Wurzeln der Tradition solidarischer Interessenvertretung gelegt und der Geist der Konkurrenz gefördert, womit die AfD-Aktivisten in den Betrieben demagogisch umzugehen wissen. Bei ihren Auftritten demonstrieren diese gleichzeitig eine bemerkenswerte „Flexibilität“, weil sie einerseits an die gewerkschaftliche Politik der Vorzugs-behandlung der Stammbelegschaften anschließen, jedoch auch die eingeschliffene Ausgleichsrhetorik von am Ko-Management orientierten Betriebsräten kritisieren. Sie benennen reale Konflikte und präsentieren sich als konsequente Interessenvertreter der (Stamm-)Belegschaften.

Ihre Fähigkeit, so aufzutreten, ändert nichts an der machtkonformen Funktionalität der rechten Aktivisten: Sie artikulieren sich latent „antikapitalistisch“, leisten faktisch jedoch ideologische Entlastungsarbeit, indem sie vom grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ablenken, indem sie die Konflikte nach dem Motto ethnisieren: „Die Asylanten bedrohen den Sozialstaat.“

Obwohl rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen sich häufen, bleibt dennoch fraglich, ob Arbeiter tatsächlich überproportional rassistisch oder fremdenfeindlich sind, wie einige Untersuchungen nahelegen. Betrachtet man einzelne Befragungsergebnisse, ist zwar eine größere xenophobe Tendenz bei den „bildungsfernen Schichten“ zu erkennen. Aber nicht auszuschließen, sogar wahrscheinlich ist, dass deren Angehörige nur mit weniger Kalkül, mit geringerer Rücksicht auf „Anstands“-Gebote die ihnen gestellten Fragen beantworten und sich auch alltäglich unbedachter artikulieren, als es bei Kleinbürgern und „Gebildeten“ der Fall ist. Dies nicht berücksichtigt zu haben, ist auch der große Nachteil der Klage von Didier Eribon über den in der französischen Arbeiterklasse verbreiteten Rassismus.22

Ohne Frage gibt es diese rassistischen Tendenzen in Frankreich wie auch anderswo – aber nicht nur innerhalb der Arbeiterklasse. In sozialen Bedrängungssituationen artikuliert sich Rassismus in den proletarischen Lebensbereichen zwar offensichtlicher als in den „gehobenen“ Schichten – aber letztlich nur in Nuancen und auch aufgrund einer weniger „flexiblen“ Artikulationsfähigkeit. Arbeiter sind offensichtlich auch eher bereit, ihrer tatsächlichen Stimmung freien Lauf zu lassen, als das beim „mittleren Mann“ (Bloch) der Fall ist, der gelernt hat, sich „legitim“ zu äußern und unauffälliger zu verhalten.

Gesten der „Nichtkonformität“

Für die Zustimmung zur AfD ist zunächst kein umfassendes Einverständnis mit ihrer Programmatik erforderlich. Viel entscheidender ist die Aura der „Nonkonformität“, mit der die Partei sich umgibt: Sie wird gegenüber den etablierten Parteien als „anders“, gar „alternativ“ erlebt. Besonders „attraktiv“ ist der Aufmerksamkeits-effekt, der mit dem Wahlvotum verbunden ist. Die AfD-Wähler haben das Gefühl, endlich einmal mit ihren Problemen von „der Öffentlichkeit“ ernst genommen zu werden. In diesem Sinne ist vor allem das Wahlverhalten von Angehörigen der „Unterschichten“ von einem gewissen „Pragmatismus“ geprägt: Es „gleicht einem Ausprobieren unterschiedlicher Optionen. Ob sie bei der AfD für längere Zeit heimisch werden, ist nicht ausgemacht.“23

Da der Aufmerksamkeitseffekt eine wesentliche Motivation für das AfD-Votum ist, spielen die tatsächlichen Resultate der politischen Arbeit der Partei eine nachgeordnete Rolle. Es wird in der Regel von ihr auch nicht viel erwartet. Wie wenig die konkreten Probleme und die tatsächlichen politischen Erfolge bei der Parteinahme für den Rechtspopulismus eine Rolle spielen, wird in den Gesprächen deutlich, die die US-amerikanische Soziologin A. R. Hochschild mit Tea-Party-Aktivisten und Trump-Anhängern in den USA führte. Obwohl Opfer von Umweltkatastrophen und sensibilisiert für ökologische Fragen – etwa weil die Umweltvergiftung viele Familienmitglieder das Leben gekostet hat – ergreifen sie dennoch Partei für Kandidaten, die sich gegen wirkungsvolle Umweltschutzmaßnahmen ausgesprochen haben. Sie lassen sich von den demagogischen Politikern beeinflussen, die dieses Thema gegen das Versprechen von mehr und sicheren Arbeitsplätzen ausspielen. Trotz der Erfahrung mit den großen Umweltkatastrophen im Golf von Mexiko schenken sie der Parole „Je mehr Öl, umso mehr Arbeitsplätze“ unbedingt Glauben.24

Unter den verbreiteten Stellungnahmen zum Erfolg der Rechtspopulisten gibt es Einschätzungen, die prinzipiell in die richtige Richtung gehen, aber in der Regel nicht einmal die Hälfte der Problematik erfassen. Denn soll der Erfolg der AfD begriffen werden, muss mehr als die bloße Tatsache existentieller Verunsicherung in den Alltags- und Lebenskontexten durch „die Globalisierung“ thematisiert werden. Und es ist auch nicht ausreichend, wenn davon gesprochen wird, dass die AfD „aus den Ängsten der Menschen Profit schlagen will“.

Beides ist nicht falsch, jedoch noch keine Erklärung, warum der AfD eine so erstaunliche Mobilisierung gelungen ist. Wenn die Ur-sachen entschlüsselt werden sollen, muss über die bloße Beschreibung krisenhafter Sozialverhältnisse (die natürlich die Basis jeder ernsthaften Analyse sind) hinausgegangen und die Frage gestellt werden, welche subjektiven Bedürfnisse mit rechtspopulistischen Schlagworten und symbolischen Aktivitäten bedient werden.

Bedürfnis nach Weltanschauung

Neben der Befriedigung eines fehlgeleiteten Protestbedürfnisses liegt das „Geheimnis“ der Hinwendung zum Rechtspopulismus über alle soziokulturellen Grenzen zwischen Arbeitern und klein-bürgerlichen Existenzen hinweg darin, dass den Krisenopfern eine (Pseudo-)Erklärung der Ursachen ihrer schwierigen Lebenssituation angeboten wird. Von grundlegender Bedeutung ist das bekannte Spiel: Der Rechtspopulismus definiert relevante Sündenböcke und leitet Frustrationen und Ängste auf identifizierbare „Problem“-Gruppen, auf „die Juden“, „die Ausländer“ oder „die Flüchtlinge“ um. Die Abwertung von anderen wird zur Bedingung der eigenen Selbsterhöhung nach dem Motto „Auch wenn du sozial ganz unten bist, kannst du immerhin Stolz empfinden, ein Deutscher zu sein.“

Der Rechtspopulismus schwimmt dabei im herrschenden Irrationalismus wie der Fisch im Wasser; er nutzt die verbreiteten Vorurteile weidlich aus – ist aber nicht deren Verursacher.25 Er kann nur deshalb überzeugen und Zustimmung erlangen, weil er an existierende Abwertungsmuster anschließt und sie „systematisiert“. Nicht der Rechtspopulismus entsolidarisiert die Gesellschaft, sondern er instrumentalisiert vorhandene Spaltungen. Aber es geht um mehr: Die von der Krise Gebeutelten können sich durch die Propagandaformeln ein „Bild von der (sozialen) Welt“ machen, auch wenn dieses schief und verzerrt, widersprüchlich, paradox und regelrecht dämlich ist. Sie können mit diesen Trug-bildern der unverständlichen und als bedrohlich erfahrenen Welt wenigstens die (zeitweilig „beruhigende“) Illusion erzeugen, deren Abläufe endlich verstanden zu haben. Deshalb haben in Krisenzeiten rückwärtsgewandte Weltanschauungen Hochkonjunktur. In Situationen sozialer Verunsicherung und Perspektivlosigkeit haben Menschen ein gesteigertes Bedürfnis nach „Welterklärungen“: Sie wollen sich einen Reim auf ihre bedrängende Lage machen.26Aber was kann dagegen getan werden? Auf keinen Fall reicht ein normativer Antifaschismus aus. Wird die geschilderte „existentielle“ Funktionalität rechter „Antworten“ in Rechnung gestellt, ist leicht nachvollziehbar, dass dieser Entwicklung mit bloßen Appellen alleine nicht beizukommen ist. Die antifaschistische Praxis ist nicht falsch – problematisch ist, was sie unterlässt.

Die rechte Gesinnung fungiert für die psychisch und mental Angegriffenen, wenn auch in pervertierter Form, als „Geist geistloser Zustände“ (Marx), als individualpsychischer „Rettungsanker“. Bleibt dies unberücksichtigt, haben der vernunftorientierte Antifaschismus und aufklärende Antirassismus nur begrenzt Wirkung, weil ihre Orientierungsebenen nicht unmittelbar mit den „Interessenlagen“ der Sympathisanten dieser Irrationalismen übereinstimmen. Nationalistische Ideologien sind zudem nicht durch den Hinweis auf ihre Widersprüche und Paradoxien zu neutralisieren, denn bis zu einem gewissen Grad liegt gerade in der inhaltlichen Heterogenität das Geheimnis ihres Erfolges. Die assoziativ-populistischen Argumentationsmuster sind so gestrickt, dass konkrete Erfahrungs-momente mit einem diffusen Weltbild und dumpfen Emotionen vermittelt werden können.

Was ist die Alternative?

Auf die Existenzsorgen der Menschen müssen, um alldem zu begegnen, zuallererst überzeugende und glaubwürdige Antworten, Zukunftsperspektiven gegeben werden. Mit einer (berechtigten) Forderung nach Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro ist es jedenfalls nicht getan, denn ein Bollwerk gegen den rechten Formierungsprozess kann nur eine soziale Bewegung bilden, die nicht nur aufklärend agiert, sondern eine realistische Zuversicht vermittelt, auch wenn ein Blick auf die sozialen Kräfteverhältnisse und die politische Kultur in Deutschland nicht optimistisch stimmt. Es kommt hinzu, dass zukunftsorientierte Konzepte und Phantasien in den öffentlichen Diskussionen kaum noch eine Rolle spielen. Aber an ihrer Entwicklung wäre vorrangig im Rahmen einer politischen Bewegung zu arbeiten, die sich den Interessen einer Bevölkerungsmehrheit verpflichtet fühlt.

Wer den Rechten das Wasser abgraben will, muss für die Rücknahme von Sozialabbau und Rentenkürzungen kämpfen und das Arbeits- und Sozialrecht so „restaurieren“, dass die Misere der Prekarität beseitigt wird. Eine Sofortmaßnahme wäre die Wiederherstellung der Arbeitslosenversicherung auf dem Niveau, das vor den Konterreformen der Schröderschen „Agenda“-Politik bestand, also die Rückkehr zur einkommensabhängigen Zahlung von Unterstützungsleistungen über die einjährige Arbeitslosenphase hinaus. Das sollte zum unverzichtbaren Bestandteil einer antifaschistischen Strategie werden. Jedoch genauso wichtig wären Konzepte zur konsequenten Absenkung der sogenannten Normalarbeitszeit, um vorhandene Arbeit auf alle Köpfe zu verteilen. Für diese politischen Kernpunkte würde es sich schon lohnen „aufzustehen“.

Flankiert werden müssten solche politischen Initiativen von einer gründlichen Aufklärungskampagne, d. h. der Vermittlung eines Wissens, das an die alltäglichen Probleme anschließt und die Gründe für die zunehmende Prekarisierung thematisiert. Denn Not allein lehrt noch nicht das Denken, jedenfalls nicht das kritische. Die isolierte Erfahrung, so bedrängend und belastend sie auch sein mag, muss zu den Ursachen sozialer Ungleichheit in Beziehung gesetzt werden.

Nicht zuletzt geht es um eine radikale Demokratisierung aller Arbeits- und Lebensverhältnisse. Für die Gewerkschaften ist es überfällig, ein umfassendes politisches Mandat in Anspruch zu nehmen. Dabei kann durchaus an vergessene Traditionen angeschlossen werden, „denn die Gewerkschaften hatten nach Kriegsende ganz selbstverständlich ein umfassendes politisches Mandat wahrgenommen; es ging ihnen um die Legalisierung von Erfahrungen, welche die Arbeiterbewegung mit dem Faschismus und dem Krieg gemacht hatte“.27■

Anmerkungen

1 Andrea Nahles, zit. n. „Welt am Sonntag“ vom 8. 7. 2007

2 Vgl. das Kapitel „Strukturveränderungen der Klassengesellschaft“ in: Werner Seppmann: Kapital und Arbeit. Klassenanalysen I. Kassel 2017, S. 41 ff.; vgl. auch: Ekkehard Lieberam: Die Wiederentdeckung der Klassengesellschaft. Klassenohnmacht, Klassenmobilisierung und Klassenkampf von oben. Bergkamen 2018

3 Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin 2017, S. 150

4 Nach korrigierten aktuellen Zahlen leben mittlerweile 4,4 Millionen Kinder in der BRD in Armutsverhältnissen.

5 Boike Rehbein u. a.: Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschland. Konstanz und München 2015, S. 57

6 Vgl.: Armin Mohler: Von rechts gesehen. Stuttgart 1974, S. 32 ff.

7 Donatella Di Cesare: Handwerker der Wut. Lega und Fünf-Sterne-Bewegung an der Macht: Ist Italien auf dem Weg in einen neuen Faschismus? in: „Die Zeit“, Nr. 27, 2018

8 Vgl.: Andreas Speit: Bürgerliche Scharfmacher. Deutschlands neue rechte Mitte – von AfD bis Pegida. Zürich 2016

9 Bernd Müller: Erfolg rechter Medienarbeit, in: „Unsere Zeit“ vom 5. 1. 2018

10 Samuel Salzborn: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Baden-Baden 2015, S. 77

11 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main 1973, S. 49

12 Dieter Sauer, zitiert nach: „Die Zeit“, Nr. 12, 2018

13 Melanie Amann: Die Abstauber, in: „Der Spiegel“, Nr. 11, 2017, S. 39

14 Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016, S. 124

15 Vgl. Werner Seppmann: Ausgrenzung und Herrschaft. Prekarisierung als Klassenfrage. Hamburg 2013

16 Vgl. Klaus Dörre, Anja Hänel, Ingo Matuscheck (Hg.): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg 2013

17 Bernhard Müller, Dieter Sauer, Joachim Bischoff, Richard Detje, Ursula Stöger: Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche. Hamburg 2018, S. 58. Die Veröffentlichung präsentiert und interpretiert die Ergebnisse einer aktuellen Befragung von Beschäftigten aus Industrie- und Dienstleistungsbetrieben.

18 Ebd., S. 3

19 Zit. n.: ebd., S. 54

20 Ebd., S. 39

21 Ebd., S. 41. Ein Beschäftigter eines Transportunternehmens: „Was vielen Deutschen Angst macht, daß sie die Arbeitsplätze verlieren, das sind nicht die Asylanten, die bei uns im Hof stehen, das sind die EU-Mitglieder. Das sind die Rumänen, (…) das sind die Litauer und alle, die von da kommen“. (Ebd., S. 47)

22 Vgl. Eribon, a. a. O.

23 Horst Kahrs: Neuer Nationalismus: Verteidigungsstrategie in globalen Verteidigungskämpfen, in: „Sozialismus“, H. 4/2017, S. 20

24 Vgl. Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt und New York 2017, S. 96 ff.

25 Vgl. Werner Seppmann: Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt. Hamburg 2012

26 Vgl. Peter Rath-Sangkhakorn, Werner Seppmann: Aufstand der Massen? Rechtspopulistische Mobilisierung und linke Gegenstrategien. Bergkamen 2017

27 Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Göttingen 2004, S. 56

 

 

Werner Seppmann, Jg.  1950. Nach Berufstätigkeit Studium der Sozialwissenschaften und Philosophie. Langjährige Zusammenarbeit mit Leo Kofler. Vorstandsmitglied und zeitweiliger Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal. Langjähriger Mitherausgeber der Marxistischen Blätter. Zusammen mit Ekkehard Lieberam Leitung des Projekts Klassenanalyse@BRD im Rahmen der Marx-Engels-Stiftung.

Zahlreiche Publikationen zur Sozialstrukturanalyse, Marxismusforschung, Ideologie-Theorie, Kritischen Gesellschaftstheorie, Klassenanalyse und Kultursoziologie.

Letzte Buchveröffentlichung: Risiko-Kapitalismus. Krisenprozesse, Widerspruchserfahrungen und Widerstandsperspektiven (2011), Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt (2012), Marxismus und Philosophie. Über Leo Kofler und Hans Heinz Holz (2012), (Herausgeber) Ästethik der Unterwerfung. Das Beispiel Documenta (2013), Kapitalismuskritik und Sozialismuskonzeption. In welcher Gesellschaft leben wir ? (2013), Ausgrenzung und Ausbeutung. Prekarisierung als Klassenfrage (2013), Neoliberalismus, Prekarisierung und zivilisatorischer Zerfall. Die langen Schatten von Hartz IV (2015), (Zusammen mit Erich Hahn und Thomas Metscher) Kritik des gesellschaftlichen Bewußtseins. Über Marxismus und Ideologie (2016), Kritik des Computers. Der Kapitalismus und die Digitalisierung des Sozialen (2016), Die fragmentarisierte Klasse. Strukturveränderungen der Arbeiterklasse (im Druck)

 

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