Herner Sozialforum

Frankreich: Renten“reform“ a la Macron mit Rentenkürzungen zwischen 4.000 und über 8.000 Euro pro Jahr !

Wo bleibt die gewerkschaftliche Solidarität ?

Lobenswerte Beispiele:

 

Frankreich: „Am Existenzminimum nach vier Jahrzehnten Knochenarbeit“

In Frankreich wird weiter gegen Emmanuel Macrons Rentenreform protestiert. Ein Zugführer, eine Krankenschwester und ein Lehrer erzählen, warum sie die Arbeit niederlegen.
Frankreich: Lehrerinnen der Gewerkschaft FSU demonstrieren gegen die Rentenreform, aufgenommen am 17. Dezember. Es war der zwölfte Tag der Streiks.
Lehrerinnen der Gewerkschaft FSU demonstrieren gegen die Rentenreform, aufgenommen am 17. Dezember. Es war der zwölfte Tag der Streiks. © Samuel Boivin/​Getty Images 

„Meine frühe Rente ist kein Geschenk“

Stéphane Mollet, 42 Jahre, Zugführer

Stéphane Mollet © privat

Ich war lange Zeit für diese Rentenreform – damit alles einheitlicher und gerechter wird. Meine Gewerkschaft, die CFDT, stand zunächst an Emmanuel Macrons Seite. Wir sind die Reformisten unter den Bahnern. Der Präsident hat sich mit unserem Zuspruch geschmückt. Aber er hat uns am Ende veräppelt: Erst haben wir achtzehn Monate lang minutiös alles verhandelt, das ist doppelt so lang, wie eine Schwangerschaft dauert. Und am Ende kündigt Macron plötzlich über Nacht an – ohne es jemals besprochen zu haben –, dass er das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahren anheben will. Damit hat er eine rote Linie überschritten. Die Alten sind doch schon jetzt arbeitslos oder müde, für wen und wie sollen sie noch länger arbeiten?

Viele denken, dass wir Zugführer privilegiert sind. Das stimmt auch für die älteren Bahner: Ich zum Beispiel habe vor 20 Jahren angefangen zu arbeiten, ich könnte für eine ausreichende Rente mit 57 Jahren in die Rente gehen. Allerdings ist dieses Privileg teuer erkauft: Wir zahlen mehr, um früher pensioniert zu werden, unser Beitragssatz ist 30 Prozent höher als für alle anderen. Wir sparen uns also die lange Rente über Jahrzehnte an. Sie ist kein Geschenk. Und das Leben als Zugführer ist hart. Ich fahre die Strecke zwischen Italien und Marseille. Jede dritte Nacht müssen ich und meine Kollegen in einem Bahnhofshotel übernachten, um morgens den allerersten Zug zu fahren. Das sprengt jede Familie. Hinzu kommt die Arbeit in der Nacht, am Wochenende, an Weihnachten, in den Sommerferien. Am schlimmsten dran sind die Kollegen, die die Gleise instand halten. Sie arbeiten ständig nachts, bei jedem Wetter und in giftiger Luft. Unser einziger Ausgleich ist die frühe Rente. Anders als die Kollegen in der Privatwirtschaft kriegen wir nämlich für die Nachtarbeit nur einen lächerlichen Aufschlag von rund zehn Euro pro Schicht.

Bislang hat die Regierung nicht einmal gesagt, ob sie unsere besonderen Belastungen berücksichtigen will. Kein Wort dazu. Wie sollen wir so einem Ritt ins Unbekannte zustimmen? Unmöglich. Wir haben ohnehin schon viele Vorteile verloren. Diejenigen, die nach 2018 angefangen haben zu arbeiten, besitzen keinen speziellen Status mehr, die gehen mit 62 Jahren wie alle anderen auch in die Rente. Auch dass es als Mindestrente nur rund 85 Prozent vom Mindestlohn geben soll, tragen wir nicht mit. Das ist unmenschlich. Deswegen werden wir nach den Ferien am 9. Januar weiterstreiken. Ende Januar soll das Gesetz im Ministerrat besprochen werden. Bis dahin muss Macron uns erzählen, wie wir im Alter leben sollen.

„Ich sehe, wie kaputt die Körper der Arbeiter sind“

Elodie Caillon-Royer, 44 Jahre, Krankenschwester in der Notaufnahme

Elodie Caillon-Royer © privat

Ich streike für unsere Renten – aber auch für die vielen Patienten, die wir nur noch schlecht behandeln können. Beides hängt zusammen. Seit Monaten protestieren wir gegen die massive Unterbesetzung in den Notaufnahmen und kriegen nur Brotkrumen, etwa einen kleinen Lohnaufschlag. In so einer Situation wollen sie jetzt auch noch unsere Renten kürzen, obwohl das System noch nicht einmal Defizite macht. Die Regierung hat keine Ahnung vom wahren Leben und Leiden. Und die Punkterente von Macron ist für mich nur ein weiteres Symptom dafür, wie krank das ganze System ist. Man nimmt Geld dort weg, wo es die Menschen am nötigsten hätten. Wir Geringverdiener würden noch mehr verlieren. Ich sehe täglich, wie kaputt die Körper der Arbeiter sind, sie sterben ja etliche Jahre früher als die Reichen, die können nicht länger schuften.

Ich als Krankenschwester arbeite immer dort, wo es brennt, zum Beispiel im Krankenwagen oder am Empfang in der Notaufnahme. Es ist ein fantastischer Beruf: Ich stehe unter Adrenalin und fühle mich wirklich nützlich. Bei uns in der Notaufnahme in Belfort-Montbéliard kommen jedes Jahr 80.000 Menschen an. Wir versorgen die gesamte Region. Ich habe drei Minuten, um die Menschen weiterzuleiten: Wer muss sofort operiert werden, wer kann genauso gut zum Hausarzt gehen, wer braucht ein Bett im Krankenhaus? Manchmal muss ich auch Menschen mit Herzstillstand wiederbeleben oder jemanden mit einem Schlaganfall an lebensrettende Infusionen anschließen.

Ich arbeite zwischen Leben und Tod und es macht mich traurig, wie der Staat seine Bürgerinnen und Bürger im Stich lässt. Manchmal sterben die Menschen in der Notaufnahme. Aber wir haben keine Zeit und keinen Platz, sie würdevoll zu begleiten. In der Nacht ist man allein mit 30 Schwerkranken, da bleibt keine Zeit für ein tröstliches Wort. Und die Sterbenden erleben ihre letzten Minuten mutterseelenallein auf einer Bahre im Flur. Das ist so kalt und unbarmherzig. Wenn ich dann nach Hause komme, habe ich das Gefühl, schlecht zu arbeiten. Das nagt an mir.

„Macron und seine Gesundheitsministerin haben kein Herz“

Und jetzt kommt auch noch diese Mammutrentenreform. Macron und seine Gesundheitsministerin haben kein Herz. Dabei gibt es kein Defizit und absolut keine Eile, die Rente zu reformieren. Dringend wäre es hingegen, den Krankenhäusern wieder mehr Betten zu geben und viel mehr Pflegepersonal einzustellen. Aber sie finden natürlich nur dann qualifizierte Leute, wenn das Gehalt stimmt. Ich muss alle zwei Monate 15 Nachtschichten schieben, weil es dafür nicht genug Freiwillige gibt. Das ist sehr hart, weil ich zwei kleine Töchter habe. Pro Stunde Nachtarbeit bekomme ich nur einen Aufschlag von 1,07 Euro – das ist ein Witz. Und das soll ich künftig auch noch mit 64 Jahren durchstehen, um die volle Rente zu bekommen? Ausgeschlossen.

Weil ich nur halbtags arbeite, um Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, muss ich ohnehin schon länger als die jetzt gültigen 62 Jahre arbeiten, um eine halbwegs würdige Rente zu erhalten. Wie soll es erst meinen Kindern ergehen? Sie werden irgendwann bis 70 Jahre arbeiten müssen. Ich werde weiterstreiken. Für unsere Patienten, für meine Rente und vor allem für meine Kinder.

„Am Existenzminimum nach vier Jahrzehnten Knochenarbeit“

Philippe Gandin, 47 Jahre, Lehrer am Collège (Mittelstufe)

Philippe Gandin © privat

Wir Lehrer sind die größten Verlierer von Macrons Rentenreform: Würden unsere Altersbezüge auf das von ihm vorgeschlagene allgemeine Punkteniveau angehoben, verlören wir rund 700 Euro Rente im Monat. Statt 2.600 bekäme ich dann nur noch 1.900 Euro monatlich. Das haben alle Kollegen sofort kapiert. Bei uns haben mehr als vier von fünf Lehrern gestreikt, das ist ein absoluter Rekord. Schließlich ist es nicht leicht zu streiken: Mit jedem Tag verliere ich rund 150 Euro. Aber diesmal geht es ums Ganze, deshalb werden wir auch im Januar die Arbeit niederlegen.

Bislang wurden die Pensionen so berechnet: Wir erhalten 75 Prozent des Gehalts der letzten sechs Monate vor Renteneintritt, also 75 Prozent des höchsten Gehalts. Aber künftig soll die gesamte Karriere als Grundlage für die Rente gelten. Auch die schlecht bezahlten Jahre zählen dann. Das zieht die Rente enorm nach unten. Denn unser Anfangsgehalt ist mit 1.400 Euro netto extrem niedrig. Erst nach vielen Jahrzehnten steigt der Lohn an. Ich verdiene nach 25 Jahren Dienst 2.700 Euro, inklusive einer Zulage, weil ich in einem besonders schwierigen Viertel unterrichte. Mit Macrons Reform landen wir Lehrer nach vier Jahrzehnten psychisch aufreibender Knochenarbeit am Existenzminimum.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meinen Beruf. Ich unterrichte 11- bis 15-Jährige, das ist ein ganz wichtiges Alter. An meiner Schule sind die Eltern häufig arm, sie sind auf Montage für die Industrie und sie können ihre Kinder zu Hause nur wenig unterstützen. Ich kann meinen Schülern die Augen öffnen für die Welt, das ist fantastisch. Aber ich bin nicht bereit, irgendwelche neoliberalen Sparfantasien des Präsidenten zu tragen. Bislang gibt es einen ungeschriebenen Deal zwischen den Lehrern und dem Pariser Bildungsministerium: Wir werden im aktiven Leben vergleichsweise schlecht bezahlt, kriegen aber dann eine hohe Rente. So wenig wie wir am Anfang verdient kein zweiter Lehrer in Europa. Das war schwierig für mich und meine Familie in jungen Jahren, in denen wir viel Geld für unsere beiden Töchter gebraucht hätten. Seit fast zwei Jahrzehnten haben wir keinen Inflationsausgleich mehr erhalten. Praktisch haben wir dadurch ein Fünftel unseres Gehalts verloren.

Ich glaube, die Reform ist dazu da, die Rente ein für allemal mühelos verändern zu können. Alles soll nur noch auf Punkten basieren, an denen jede Regierung leicht herumschrauben kann. Das ist gefährlich. Und worüber bislang nur wenige Ökonomen sprechen: Die ganz großen Gehälter über 10.000 Euro monatlich zahlen nach Macrons Idee sogar noch weniger ein als vorher. Die Superreichen sind die wahren Gewinner – wie so häufig bei Macron. Das wollen und werden wir nicht akzeptieren. Am 9. Januar werden wir weiterstreiken.

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