Niedriglohnsektor bleibt unverändert groß

Bundeseinheitliche Schwelle zu Niedriglöhnen 2.139 Euro Brutto
Niedriglohnsektor bleibt unverändert groß
Der Niedriglohnsektor hat von der konjunkturellen Hochphase am Arbeitsmarkt wenig profitiert hat. Noch immer arbeitet fast jede fünfte Vollzeitkraft zu Niedriglöhnen. Ändern lässt sich das nur über die Veränderung der institutionellen  Rahmenbedingungen.

Die Debatte um Arbeit zu Niedriglöhnen und mit ihr die Kritik am aufgeblähten Niedriglohnsektor sind in letzter Zeit etwas in den Hintergrund getreten. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Anteil an Niedriglohnbeschäftigten unter den Arbeitnehmern sich in den letzten Jahren nach zuvor starkem Anstieg auf hohem Niveau stabilisiert und zuletzt sogar ein wenig verringert hat. Es mag aber auch damit zusammenhängen, dass sich in der Arbeitsmarktforschung die Schwerpunkte verlagert haben.

Neue Erkenntnisse sind jedenfalls rar, und so bezieht sich die Umschreibung „zuletzt“ auf die Situation im Jahr 2015. Damals bezogen 22,6 Prozent aller abhängig Beschäftigten (ab 18 Jahren; ohne Auszubildende, Schüler/innen und Studierende) Niedriglöhne – also Bruttostundenentgelte, die weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns (Medianlohn) aller Beschäftigten betrugen. 2013 lag der Anteil noch bei 23,0 Prozent, 2014 bei 22,7 Prozent. Für die Folgejahre war bisher nur die Entwicklung bei den Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2016 bekannt. Hier lag der Anteil an Geringverdienern bei 20,1 Prozent. 4,15 Millionen Vollzeitkräfte verdienten damals nicht mehr als 2.088 Euro im Monat (brutto).

Datengrundlage bildet hier die Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA). Sie erfasst jährlich die Verdienstsituation von „Vollzeitbeschäftigten der Kerngruppe“, das sind sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte, die nicht in einem Ausbildungsverhältnis stehen und für die keine gesetzlichen Sonderregeln gelten. Nach Angaben der BA werden damit 98 Prozent aller Vollzeitkräfte erfasst.

Vollzeitbeschäftigung zu Niedriglöhnen im Jahr 2017

Vor wenigen Tagen hat die BA die Zahlen für das Jahr 2017 veröffentlicht. Wie sich zeigt, ist die bundeseinheitliche Schwelle zu Niedriglöhnen auf ein Bruttomonatsentgelt von 2.139 Euro gestiegen. Parallel dazu erhöhte sich auch die Zahl der Vollzeit-Niedriglohnbeschäftigten auf knapp 4,17 Millionen. Ihr Anteil an allen Vollzeitbeschäftigten ist hingegen auf 19,8 Prozent gesunken. Seit 2011 hat sich der Niedriglohnsektor damit leicht, aber stetig verkleinert. Trotzdem zählt immer noch fast jede fünfte Vollzeitkraft zu den Geringverdienenden.

Differenziert man zwischen den westdeutschen und den ostdeutschen Bundesländern, wird deutlich, dass der Niedriglohnsektor zuletzt nur im Osten der Republik geschrumpft ist und zwar von 39,3 Prozent im Jahr 2011 auf 33,6 Prozent in 2017. Auch die absolute Zahl der Niedriglöhner in Vollzeit war in diesem Zeitraum stetig rückläufig. In Westdeutschland setze nach 2013 eine gegenläufige Entwicklung ein. Dort hat sich der Niedriglohnsektor seitdem wieder auf zuletzt 16,7 Prozent ausgeweitet – und auch die absolute Zahl der so beschäftigten Vollzeitkräfte kletterte wieder in die Höhe.

Kaum anders stellt sich die Entwicklung dar, wenn man für Ost- und Westdeutschland getrennt berechnete Niedriglohnschwellen zu Grunde legt. Im Westen bleibt es (auf höherem Niveau) bei einem neuerlichen Anstieg der absoluten Zahl wie auch des Anteils an Niedriglohnbeschäftigten seit 2013. Im Osten bleibt es (auf niedrigerem Niveau) bei der seit 2011 generell rückläufigen Tendenz, wobei die Rückgänge beide etwas schwächer ausfallen.

Niedriglöhne konzentrieren sich auf den Dienstleistungssektor

Differenziert man nach Wirtschaftszweigen, so werden Niedriglöhne besonders häufig in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei gezahlt. 2017 waren fast 57 Prozent der insgesamt dort tätigen 147.000 Vollzeitkräfte Niedriglohnbeschäftigte. Wegen der vergleichsweise geringen Bedeutung des primären Sektors machten die allerdings nur zwei Prozent aller Niedriglöhner aus. Mit fast einer Million waren deutlich mehr Geringverdienende im produzierenden Gewerbe tätig. Das entspricht einem Anteil von 23,0 Prozent an der gesamten Niedriglohnbeschäftigung. Die meisten unterhalb der Niedriglohnschwelle Beschäftigten fanden sich 2017 mit 33,9 Prozent im Wirtschaftszweig „Handel, Gastgewerbe, Verkehr; Information u. Kommunikation“ und mit 41,1 Prozent bei den sonstigen Dienstleistungen.

Mit einem Anteil von 75 Prozent konzentriert sich die Niedriglohnbeschäftigung klar auf den Dienstleistungssektor. Dies lässt sich größtenteils dadurch erklären, dass es sich um den mit Abstand beschäftigungsstärksten Wirtschaftssektor handelt. Mittlerweile sind über 70 Prozent aller sozialversicherungspflichtig in Voll- und Teilzeit Beschäftigten im tertiären Sektor tätig. Zugleich wird aber auch deutlich, dass die meisten Dienstleistungsbranchen (nicht alle) weiterhin durch eine hohe Konzentration von schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen geprägt sind, wobei die Qualitäts- und Verdienstdrücker Minijobs und Teilzeit noch gar nicht berücksichtigt sind.

Der Niedriglohnsektor nach Anforderungsniveaus

Niedriglöhne sind keinesfalls nur ein Problem von Geringqualifizierten. 2017 hatten 633.000 Niedriglohn-Vollzeitkräfte keinen Berufsabschluss. Ihr Anteil am Niedriglohnsektor lag damit gerade einmal bei 15,2 Prozent. Ihnen stehen allerdings 2,65 Millionen Niedriglöhner gegenüber, die über einen anerkannten Berufsabschluss verfügten. Mit 63,6 Prozent stellen sie den weitaus größten Anteil in der Gruppe der vollzeitbeschäftigten Geringverdienenden. Die Zahlen korrespondieren mit der Verteilung der Niedriglohnbeschäftigung nach Anforderungsniveaus.

Wie der Grafik entnommen werden kann, haben 2017 die meisten zu Niedriglöhnen Vollzeitbeschäftigten auf dem Anforderungsniveau einer Fachkraft gearbeitet (61 %), während etwa 30 Prozent Helfertätigkeiten ausübten. Innerhalb der Gruppe der Helfer ist mit einem Anteil von gut 48 Prozent allerdings fast jeder Zweite ein Geringverdiener. Die sind damit zwar eindeutig am stärksten von niedrigen Monatsentgelten betroffen, doch belegen die Zahlen auch, dass Niedriglöhne längst weit in den Bereich gut qualifizierter Normalarbeit vorgedrungen sind. Wobei nicht ausgeschlossen werden soll, dass Beschäftigte mit Berufsabschluss zum Teil nicht ausbildungsadäquat eingesetzt werden oder keinen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz gefunden haben.

Institutionelle Rahmenbedingungen verändern

Anhand der von der BA vorgelegten Zahlen muss man ernüchtert zur Kenntnis nehmen, dass der viel beschworene Boom am Arbeitsmarkt zwar dafür gesorgt hat, dass seit einigen Jahren wieder mehr Menschen eine Vollzeiterwerbstätigkeit aufgenommen haben. Gleichwohl bleibt der Niedriglohnsektor davon nahezu unberührt. Verwundern kann das allerdings nicht, denn niemand sollte erwarten, dass eine konjunkturelle Hochphase allein die Ursachen für Niedriglöhne (auch im Segment der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung) beseitigen kann.

Nach Jahrzehnten der neoliberalen Deregulierung zeigt sich der Arbeitsmarkt extrem polarisiert. Kernbereichen mit guter, abgesicherter Beschäftigung stehen wachsende Randbereiche mit schlechten Beschäftigungsbedingungen (nicht nur, aber auch bei der Entlohnung) gegenüber. Damit korrespondiert eine anhaltend hohe Einkommenspolarisierung mit krassen Lohndifferenzen, deren dauerhaftes Fortbestehen allerdings noch auf anderen Ursachen beruht.

In beiden Fällen haben sich zudem die Aufstiegschancen der Beschäftigten extrem verschlechtert, sodass von verfestigten und konjunkturunabhängigen Strukturen segmentierter Teilarbeitsmärkte auszugehen ist.

Nach Jahren des zum Teil freiwilligen Verzichts auf größere Lohnsteigerungen (Bündnis für Arbeit) bemühen sich die großen Gewerkschaften zwar, für die Beschäftigten in den unteren Lohngruppen vergleichsweise höhere Gehaltssteigerungen durchzusetzen, doch bleibt dieser Effekt aufgrund ihrer geschwundenen Verhandlungsmacht sehr begrenzt. Verschärft wird die Lage durch die anhaltende Tarifflucht von Unternehmen, die zudem mit Strategien des Outsourcings gleich zwei entscheidende Hebel zur Durchsetzung von Niedriglöhnen in der Hand haben.

Nicht zuletzt sorgt auch das Sanktionsregime Hartz IV weiterhin dafür, dass Arbeitslose unter starkem Druck stehen, auch Jobs unterhalb ihres Qualifikationsniveaus und/oder zu schlechterer Bezahlung anzunehmen – schließlich gelten Löhne, die deutlich unterhalb der ortsüblichen Bezahlung liegen, offiziell als zumutbar.

Die Ursachenauflistung ließe sich noch weiter fortsetzen, doch sollte der entscheidende Punkt deutlich geworden sein. Wenn der Arbeitsmarkt komplett in Unordnung geraten ist und alte Regulierungsmuster (Korporatismus; Sozialpartnerschaft) ihm nicht mehr den prägenden Stempel aufdrücken können, dann folgt daraus: Wer den Niedriglohnsektor zurückdrängen will, der muss die institutionellen Rahmenbedingungen verändern.

(Quelle: markroskop)

Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen. Unter miese-Jobs.de betreibt er eine Informationsplattform zu atypischer und prekärer Beschäftigung.

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