Neue Entwicklungen bei den Tarifauseinandersetzungen in der „Zeitenwende“

Neue Entwicklungen bei den Tarifauseinandersetzungen in der „Zeitenwende“ –

Arbeitskämpfe in den Jahren 2022 und 2023 im Zeichen von Sozialpartnerschaft, Konzertierter Aktion und neuem Burgfrieden

Nach drei Jahren Reallohn-Einbußen wären Anfang 2022 Lohnsteigerungen oberhalb der Inflation auf jeden Fall angesagt gewesen. Vor allem brauchen die vielen Millionen Beschäftigten, die nicht tarifgebunden im Niedriglohnsektor arbeiten und die nicht bzw. für die niemand streikt, deutlich höhere Löhne.

Doch sind die Tariflöhne im Jahr 2022 um magere 2,7 Prozent (incl. Sonderzahlungen) gegenüber den Tariflöhnen des Vorjahres gestiegen. Die geringe Steigerung ist dem Wirtschaftskriegskurs des „Wertewestens“ mit seinen heftigen Inflationsschüben und mageren Tarifabschlüssen geschuldet. Diese Entwicklung hat innerhalb eines Jahres zu einem Wohlstandsgefälle um glatt ein Zehntel geführt.

Während Familien mit geringem Einkommen, die von der Teuerung am stärksten betroffene Gruppe sind, nutzen viele Unternehmen die Gunst der Stunde, um Marge und Gewinn kräftig auszuweiten und so die Inflation noch zusätzlich anzuheizen. Man kann durchaus von einer Gewinn-Preis-Spirale sprechen.

Es ist ernüchternd, was die Tarifabschlüsse seit Anfang des Jahres 2022 bis Ende des Jahres 2023 hergeben. Die Ergebnisse sind Deutschlands Weg in eine Kriegsbeteiligung gegen Russland, der massiven Kriegsunterstützung für die Ukraine mit derzeit 50 Milliarden Euro Steuergeldern, den Sanktionen gegen Russland und einer Haushaltsplanung geschuldet, die für 2024 mehr als 90 Milliarden Euro für Militär und Waffen vorsieht als Aufrüstung im Rahmen eines Stellvertreterkrieges von NATO und USA.

In den Tarifverhandlungen sind nicht nur grottenschlechte Ergebnisse erzielt worden, sondern von den Gewerkschaftsführungen wurden teils offen, teils versteckt etliche „Neuerungen“ eingeführt. Dazu gehören beispielsweise Sonderzahlungen, längere Tariflaufzeiten, Abbau von innergewerkschaftlicher Demokratie, fragliche Rechenspiele als Legitimation von Tarifergebnissen bei den Mitgliederbefragungen, die Instrumentalisierung der Arbeitsrechtsprechung und immer mehr in sich sehr differenzierte Regelungen für einzelne Personen- und Altersgruppen, bei hohen oder niedrigen Unternehmensgewinnen und zur Verkürzung oder Erweiterung der Wochenarbeitszeit.

Zahlen des Statistischen Bundesamts zum Stand von April 2022 zeigen, dass die Beschäftigten mit eher bescheidenen Löhnen auskommen mussten: Rund 56 Prozent verdienten weniger als 20 Euro brutto in der Stunde, das betraf insgesamt fast 22 Millionen Menschen. Fast jeder dritte Beschäftigte verdiente sogar weniger als 15 Euro pro Stunde. Hier ging es um rund 12,5 Millionen Personen. Lohnsteigerungen, die seitdem vereinbart und in die Praxis umgesetzt sind, flossen noch nicht ein. Das gilt auch für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro zum Oktober 2022.

Die Erhebungen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass bei den Menschen, deren Lebensstandard von Tariflöhnen, Lohnersatzleistungen oder staatlichen Renten abhängig ist, der Kaufkraftschwund höher ist als die offiziellen Inflationsraten. Festgestellt wurde auch, dass die „soziale Schere“ sich durch die Inflationsprozesse im abgelaufenen Jahr 2022 weiter geöffnet hat und die Tarifabschlüsse noch weiter hinter der Geldentwertung herhinken.

Im Jahr 2022 sind die Tarifverdienste in Deutschland – einschließlich Sonderzahlungen – im Durchschnitt um 2,7 Prozent gegenüber dem Jahresdurchschnitt 2021 gestiegen. Während die Tarifverdienste ohne Sonderzahlungen 2022 im Vergleich zum Vorjahr nur um 1,4 Prozent gestiegen sind, erhöhten sich im gleichen Zeitraum die Verbraucherpreise um 6,9 Prozent.

Eine solche Entwicklung wurde von Politik und Unternehmertum ausdrücklich im Rahmen der „Zeitenwende“ mit einem 100 Milliardenprogramm zur Aufrüstung bei gleichzeitigem enormen Sozialabbau erwünscht.

Große Koalition, um den Wirtschaftsstandort in Deutschland neu auszurichten

Um den Wirtschaftsstandort in Deutschland neu auszurichten und den Arbeitsmarkt „zu sichern“, hat sich nach dem Regierungswechsel eine große Koalition aus den Regierungsparteien, Unternehmen, Gewerkschaften, Betriebsräten, Verbänden und der Bundesagentur für Arbeit (BA) als die „Partner der Transformation im Arbeitsmarkt“ gebildet. Diese Partnerschaft hat sich vorgenommen u.a. mit dem Zuzug von billigen Arbeitskräften und den Möglichkeiten des neuen Bürgergeldes den größten europäischen Niedriglohnsektor in Deutschland weiter auszubauen.

Für die Regierung war es wichtig, die DGB-Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Auch deshalb hatte bei einer immens angestiegenen offiziellen Inflationsrate von 10 Prozent im Sommer 2022 Bundeskanzler Scholz die „Sozialpartner zu einer konzertierten Aktion“ eingeladen, bei der man auf die hohen Preise reagieren wollte und um gleichzeitig die Gewerkschaften davon abzuhalten, dass sie ihre Forderung in Höhe der Inflationsrate stellen. Dabei haben sie das Märchen von der „Lohn-Preis-Spirale“ aus der Mottenkiste geholt und sich untereinander erzählt. Als das Märchen zu Ende erzählt war, hatte man dann auch die Sonderzahlung als Wunderwaffe in Tarifkonflikten auf dem Tisch. Mit den nicht tabellenwirksamen Sonderzahlungen war auch gleichzeitig eine permanente Lohnabsenkung vereinbart. Dieses Vorgehen ist von langer Hand vorbereitet und geschickt verpackt worden. Die Sonderzahlungen werden in Zukunft zu Regeleinmalzahlungen weiter ausgebaut und immer mehr mit Bedingungen, wie z.B. sie an einer Gewinnentwicklung des Unternehmens auszurichten, verbunden. Beschäftigte in Betrieben mit großem Profit erhalten dann höhere Einmalzahlungen als die, die sich in kleineren Betrieben der Branche verdingen müssen.

Die Sozialpartnerschaft hat ganz konkret zur Folge, dass immer mehr Menschen in die prekäre Beschäftigung abrutschen und sich dabei von ihrer Gewerkschaft verraten und verkauft fühlen.

Der neue Burgfrieden und seine Auswirkungen im Arbeitskampf

Das Vorhaben der Ampelkoalition, Anfang des Jahres 2022 die gigantische Aufrüstung sogar im Grundgesetz zu verankern, ist mit dem neuen Burgfrieden ohne Probleme realisiert worden. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat für eine Änderung des Grundgesetzes galt schon in der Sondersitzung des Bundestages im Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz die „Zeitenwende“ ankündigte, als sicher. Unter stehendem Applaus erschreckend vieler Mitglieder des Bundestages wurde parteiübergreifend das gigantische Aufrüstungsvorhaben und die angekündigte neue weltpolitische Rolle Deutschlands gefeiert.

Der neue Burgfrieden sieht so aus, dass

  • eine riesige Koalition aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP entstanden ist, die meint, länger als eine Legislaturperiode zusammenarbeiten zu können und eine kontinuierliche Aufrüstung in den Verfassungsrang gehoben hat. Dadurch möchte sie gewährleisten, dass zukünftige, anders zusammengesetzte Koalitionen das Megarüstungsprogramm weder stoppen, kürzen oder verändern können, weil es in Verfassungsstein gemeißelt ist.
  • alle Beteiligten den Trick der Regierung, die angekündigte Aufrüstung ausschließlich über neue Schulden zu finanzieren und das Ganze „Sondervermögen“ zu nennen, als besonders clever und als tollen Coup loben. Wenn nämlich das 100-Milliarden-Programm zur Förderung der Rüstungsindustrie durch Steuererhöhungen finanziert werden müsste, käme es voraussichtlich zu größeren Widerständen. Als „Paket Sondervermögen“ geschnürt, werden die Vermögen der Reichen und Superreichen verschont und die Kosten bei den Beschäftigten und Sozialleistungsbeziehern eingespart.
  • bei einer offiziellen Inflationsrate von über 10 Prozent im Sommer 2022 Bundeskanzler Scholz die „Sozialpartner“ zu einer „konzertierten Aktion“ eingeladen hatte, bei der man die Gewerkschaften eingehegt hat und davon abhielt, ihre zukünftigen Lohnforderungen in Höhe der Inflationsrate zu stellten

und

es in Wahrheit um autoritäres Durchregieren ging und geht.

Die Bevölkerung, vielfach mit coronagestähltem autoritären Charakter versehen, soll möglichst kritiklos „unpopuläre“ Maßnahmen mitmachen und immer mehr bereit sein „neue Realitäten und radikale Kurswechsel“ hinzunehmen.

Der DGB als Dachverband der Gewerkschaften in Deutschland war über Jahrzehnte hinaus ein einflussreicher Akteur und eine wichtige Stimme in der bundesdeutschen Friedensbewegung. Heute steht der DGB bei vielen Mitgliedern in der Kritik, weil er für die Aufrüstung trompetet, sich eher als Partner der Konzerne und Unternehmen versteht, es unterlässt, den bürgerlichen Staat grundlegend zu kritisieren und nicht mehr als Kampforganisation der Beschäftigten angesehen wird.

Eine solche Entwicklung der Gewerkschaften wurde erst ermöglicht, als sie im Rahmen der Sozialpartnerschaft über jedes Stöckchen sprangen, egal wie hoch es hingehalten wurde. Vor allem auch dann, wenn die Gewerkschaften als „Partner der Transformation im Arbeitsmarkt“ bereitstehen.

Neue Entwicklungen bei den Tarifauseinandersetzungen

Längere Tariflaufzeiten

Viele Kommentatoren der Tarifergebnisse von 2022 und 2023, die vor der Lohn-Preis-Spirale warnen, gehen von der Automatik der jährlich angepassten Tarifabschlüsse aus. Sie werden von der Vorstellung geleitet, dass man für ein Jahr verhandelt und dann im darauffolgenden Jahr eine neue Verhandlung stattfindet. Doch schon seit den 1990er Jahren ist man von den jährlichen Tarifverhandlungen abgegangen und hat die Laufzeiten der Tarifverträge sukzessive erheblich ausgeweitet, Standard sind mittlerweile zweijährige Laufzeiten.

Gerne werden die verlängerten Laufzeiten unter der Decke gehalten, denn so kann man sich die Tarifergebnisse schön rechnen, in dem ein bestimmtes Volumen auf ein Jahr bezogen wird, obwohl es für die gesamte Laufzeit des Vertrages gilt. Dann wird seitens der Unternehmen und auch vermehrt von den Gewerkschaften kommuniziert, dass für die Beschäftigten ein Lohnzuwachs von teilweise über 10 Prozent erzielt wurde. Geflissentlich verschweigt man aber, dass die Anhebung des Lohns beispielsweise in zwei einzelnen Schritten innerhalb einer eben nicht 12-monatigen Laufzeit, sondern in einem Zeitraum von 24 oder mehr Monaten stattfinden soll. Damit schrumpfen die 10 Prozent auf eine viel geringere Prozentzahl.

Das Beispiel Tarifeinigung im Öffentlichen Dienst zeigt dies klar auf: Die Dienstleistungsgewerkschaft forderte im Januar 2023 noch 10,5 Prozent mehr Geld für alle, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Auszubildende sollten 200 Euro mehr bekommen und ­unbefristet übernommen werden. Der Tarifvertrag sollte eine Laufzeit von zwölf Monaten haben.

Das Ergebnis lautete aber: 14 Nullmonate / ab März 2024: plus 200 Euro, plus 5,5 Prozent, insgesamt mindestens 340 Euro / Inflationsausgleichsprämie von insgesamt 3.000 Euro (im Juni 2023 einmalig 1.240 Euro und ab Juli 2023 bis Februar 2024 jeweils 220 Euro monatlich) / Laufzeit: 24 Monate.

Konkret bedeutet dieser Tarifabschluss einen weiteren Verlust an Kaufkraft und Wohlstand für die Beschäftigten, weil nach einer Inflationsrate von acht Prozent 2022, sechs Prozent 2023 und geschätzt drei Prozent 2024 die Löhne im Öffentlichen Dienst am Ende der Laufzeit rund sechs Prozent weniger Kaufkraft haben werden. Dies bedeutet gleichzeitig, dass es mindestens noch weitere fünf Jahre dauern wird, bis die Löhne im Öffentlichen Dienst diesen Kaufkraftverlust wieder aufgeholt haben.

Einmalzahlungen/ Inflationsausgleichsprämie

Seit der konzertierten Aktion im Sommer 2022 gibt es kaum eine Tarifrunde, in der Einmalzahlungen zum Ausgleich der Inflation nicht auf den Tisch kommen.

Auch hier liegt die Tücke im „Kleingedruckten“.

Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung outen sich die Einmalzahlungen auf fünf Jahre bezogen sogar als VerlustgeschäftDie steuer- und abgabenfreie Prämie wird nur einmal gezahlt und steigert das Einkommen nicht dauerhaft wie etwa eine Lohnerhöhung um mehrere Prozente.

Im ersten Jahr rechnet sich eine abgabenfreie Einmalzahlung noch für die Beschäftigten. Sie sparen ja Steuern und ihren Beitrag zur Sozialversicherung ein und Brutto ist also gleich Netto.

Bei einer Lohnsteigerung um einen bestimmten Prozentsatz wären die Abgaben angefallen. Doch schon bei einer Prozenterhöhung im Jahr drauf entfällt der Vorteil, weil bei der Verhandlung neuer Tarife die aktuellen Löhne als Grundlage – ohne Einmalzahlungen – dienen. Wäre der Lohn prozentual gestiegen statt nur einmal in Form der Prämie, wäre der Ausgangslohn höher, mit dem die weitere Erhöhung berechnet wird. Dieser Effekt wiederholt sich dann in den folgenden Jahren.

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat ein Beispiel durchgerechnet mit einer Lohnsteigerung von vier Prozent und einem Bruttoeinkommen von 48.000 Euro. Nach fünf Jahren macht der Unterschied demnach über 7.000 Euro aus.

Die steuer- und abgabenfreien Ausgleichsprämien tragen zwar in vielen Tarifbranchen dazu bei, die Reallöhne zu sichern. Da es sich hierbei um Einmalzahlungen handelt, wirken sie sich mit ihrem Auslaufen in den Folgejahren jedoch stark dämpfend auf die Lohnentwicklung aus und führen auf Dauer zu Einkommensverlusten.

Undemokratisches Vorgehen durch die Abschaffung der Streik-Delegierten-Konferenzen und der Einführung der Tarifbotschafter

Die Erfahrungen aus dem Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst im Jahr 2015 haben gezeigt, dass der Erfolg des Arbeitskampfes davon abhängig ist, wie groß die Möglichkeit der aktiven Beteiligung der Streikenden in demokratischen Strukturen der Organisation ist. Die aktiven Mitglieder hatten es satt, von „oben“ informiert zu werden, wann sie und für welche Forderungen sie streiken sollen.

Für jeden Streik sollte gelten, dass die Mitglieder selbst über jeden Schritt im Arbeitskampf bestimmen können, dafür sollten schon in der Vorbereitung örtliche Streikleitungen gewählt werden, die auch rechenschaftspflichtig sind.

Die örtlichen Streikleitungen sollten sich regional und bundesweit treffen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Auch über die Beendigung von Streikmaßnahmen sollte von den Streikenden selbst diskutiert und abgestimmt werden, da ein Streik nicht mal schnell ausgesetzt und wieder gestartet werden kann. Wie so oft, wird ein Ergebnis angenommen, auch wenn die Mehrheit der Streikenden der Meinung ist, länger streiken zu müssen. Beim Streik 2015 konnte mit einer demokratisch gewählten Streik-Delegierten-Konferenz, die verpflichtet war, sich mit den örtlichen Versammlungen und Streikleitungen rückzukoppeln, verhindert werden, dass der Streik ausgesetzt und der Schlichterspruch angenommen wurde. Das war für die hauptamtliche Arbeitskampfleitung zu viel des Guten.

Die kraftvolle Streik-Delegierten-Konferenzen als gutes Beispiel für Demokratie im Arbeitskampf wurde dann still und leise einfach abgeschafft und damit in der anstehenden Auseinandersetzung die Demokratie und Entscheidungsmacht den Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst entzogen.

Als demokratische Neuerung wurden dann die Tarifbotschafter eingeführt. Auf den ersten Blick sah das Vorhaben recht gut aus, der zweite Blick offenbarte, dass dieses Modell nichts anderes ist, als das der alt bekannten Vertrauensleute. In neuer Verpackung soll das nun genutzt werden, damit bei den Tarifverhandlungen die Basis die Füße stillhält und nicht das passiert, was 2015 beim großen Streik der Erzieherinnen passierte: Auf der Grundlage einer demokratisch gewählten Streik-Delegierten-Konferenz wurde der Schlichterspruch kassiert.

Die Informationsweitergabe und Transparenz über den aktuellen Verhandlungsstand durch die Verhandlungsführung mit Hilfe des Modells der Tarifbotschafter ist weder ein Ersatz einer demokratisch gewählten Streik-Delegierten-Konferenz noch Ausdruck einer vertrauensvollen und demokratischen Zusammenarbeit der haupt- und ehrenamtlichen Akteure im Arbeitskampf.

Urabstimmungen und Mitgliederbefragungen

1. Post

Urabstimmungen und Mitgliederbefragungen haben in den vergangenen Tarifauseinandersetzungen meist nur noch dazu gedient, die Ergebnisse im Nachhinein schönzurechnen.

Zuletzt beim Poststreik hat die Dienstleistungsgewerkschaft mit diesem Vorgehen die Beschäftigten vor den Kopf gestoßen. Statt das Tarifergebnis aufzuhübschen, hätte der Bundesvorstand die Ergebnisse der Urabstimmung ernstnehmen müssen. Denn bei der Urabstimmung der Post-Beschäftigten stimmten 85,9 Prozent der Befragten gegen das Angebot der Post-Geschäftsleitung und für einen unbefristeten Streik. Damit wurde das Quorum der erforderlichen 75 Prozent deutlich übertroffen. Anstatt den Erzwingungsstreik vorzubereiten und durchzuführen, einigten sich ver.di und die Post unmittelbar nach dieser hohen Streikzustimmung auf ein leicht verbessertes Tarifergebnis.

In der zweiten Urabstimmung über das Tarifergebnis votierten 61,7 Prozent der Befragten für die Annahme. Im Internet war viel Kritik und Frust der Mitglieder über den Abschluss nachlesbar. Unter anderem wurde sogar kritisiert, dass in der zweiten Befragung über das Ergebnis nicht alle die Möglichkeit zur Abstimmung hatten.

2. Sozial- und Erziehungsdienst

Die Mitgliederbefragung über den mageren Abschluss für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst ist Mitte Juni 2022 mit einem erschreckenden Ergebnis zu Ende gegangen: Die Streikenden, überwiegend Frauen, die in den Auseinandersetzungen von 2009 und 2015 eine unglaubliche Frauenpower, engagiertes und solidarisches Handeln zeigten, haben mit den Füßen abgestimmt und erst gar nicht an der Abstimmung teilgenommen. Die Abstimmungsbeteiligung lag bei 20 Prozent und von diesen 20 Prozent haben sich 51,8 Prozent für das Ergebnis ausgesprochen. Umgekehrt heißt das, rund 90 Prozent der ver.di Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst befürworten das Ergebnis nicht. Ihnen wurde einfach die Entscheidungsmacht entzogen und sie wurden mit Zahlenspielereien betrogen.

Arbeitsgerichte bekämpfen schon immer das Streikrecht und werden im Tarifstreit instrumentalisiert

Während in anderen europäischen Ländern das Streikrecht ohne Unterschiede besteht, gilt in Deutschland ein Streik, der nicht durch Tarifforderungen begründet wird, als unzulässig. Nicht aufgrund eines im Gesetzeswerk zusammengefassten Rechts, sondern aufgrund der Ansicht des damaligen Bundesarbeitsgerichtes unter Vorsitz von Carl Nipperdey, dem früheren Nazi-Rechtsideologen.

Bei der vor einigen Monaten beendeten Tarifauseinandersetzung zwischen der Eisenbahngewerkschaft (EVG) und der Bahn AG war es wieder einmal ein Arbeitsgericht, das massiv in den Arbeitskampf eingriff.

Zuletzt gab es zwei Warnstreiks, bei keinem wurde verständlich erklärt, warum eigentlich nur einen halben Tag gestreikt wird, obwohl die Stimmung glasklar für einen ganztägigen Streik war. Dann wieder eine katastrophale Kommunikation bei dem geplanten 50-Stunden-Streik, den es gar nicht gab, weil das Frankfurter Arbeitsgericht ihn mit einem Vergleich einkassierte. Die EVG hätte klar machen müssen, dass Bahnkonzern und Staat einen kapitalen Angriff auf das Streikrecht verübt hatten und die Gewerkschaft vor der Wahl stand, sich auf den Vergleich einzulassen oder eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht zu riskieren.

Eine kämpferische und demokratische EVG-Führung hätte die Mitgliedschaft darauf vorbereiten und im Vorfeld ein Mandat für das weitere Vorgehen einholen müssen. Hier hätte ganz schnell das Scheitern der Verhandlungen erklärt und eine Urabstimmung abgehalten werden können. Stattdessen wurde der abgesagte Streik zu einem Sieg in der Mindestlohnfrage umgedeutet und einfach weiter vor sich hin verhandelt.

Das Anrufen der Arbeitsgerichtsbarkeit in dem Arbeitskampf von EVG und Bahn AG ist ein typisch deutsches Phänomen und hat seit dem deutschen Faschismus eine ungute Kontinuität eingenommen.

Letzte Tarifabschlüsse bei ver.di und IG Metall im Dezember 2023 spiegeln die grottenschlechten Verhandlungsergebnisse der vergangenen zwei Jahre bei allen DGB-Gewerkschaften wider

1. Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst der Länder im Dezember 2023 bedeutet für die die Länderbeschäftigten: Sie erhalten durch den Tarifvertrag eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichszahlung in Höhe von insgesamt 3.000 Euro. Davon wird für den Dezember 2023 ein Betrag von 1.800 Euro netto gewährt. Von Januar bis einschließlich Oktober 2024 gibt es monatliche Zahlungen in Höhe von je 120 Euro netto. Die Einkommen der Beschäftigten steigen dann ab dem 1. November 2024 tabellenwirksam um einen Sockelbetrag von 200 Euro. Ab dem 1. Februar 2025 kommt darauf eine weitere Entgelterhöhung von 5,5 Prozent.

Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 25 Monate bis zum 31. Oktober 2025.

Dual Studierende, Auszubildende und Praktikantinnen und Praktikanten erhalten demnach im Dezember 2023 ein Inflationsausgleichsgeld von 1.000 Euro sowie in der Zeit vom Januar bis zum Oktober 2024 monatlich jeweils 50 Euro netto. Die Ausbildungsentgelte steigen ab 1. November 2024 um 100 Euro, ab dem 1. Februar 2025 um weitere 50 Euro. Außerdem konnte eine unbefristete Übernahme von Auszubildenden vereinbart werden, die eine Abschlussnote von 3 oder besser erzielt haben.

Bei den weiteren Regelungen konnte unter anderem die Ausweitung der bestehenden Pflegezulage auf den Justiz- und Maßregelvollzug und der Zulage für den Gesundheitsdienst erreicht werden. Für die Sozial- und Erziehungsdienste verständigten sich die Tarifvertragsparteien auf die Gewährung von Zulagen von 130 und 180 Euro für bestimmte Entgeltgruppen in den Stadtstaaten.

2. In der nordwestdeutschen Stahlindustrie haben die Tarifparteien Mitte Dezember 2023 folgende Einigung erzielt: Die und 68.000 Beschäftigten erhalten zum 1. Januar 2024 eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.500 Euro netto, Auszubildende erhalten 1.000 Euro. Von Februar bis November 2024 gibt es monatliche Zahlungen in Höhe von 150 Euro netto, Auszubildende erhalten 80 Euro. Ab dem 1. Januar 2025 steigen die Entgelte und Auszubildendenvergütung um 5,5 Prozent.

Der Tarifvertrag läuft bis zum 30. September 2025.

Kompliziert wird es bei der Arbeitszeitverkürzung. Die IG Metall forderte ein Lohnplus von 8,5 Prozent bei einer Laufzeit von zwölf Monaten und die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Die Einigung sieht nun vor, dass – ausgehend von der Regelarbeitszeit von 35 Stunden – die Arbeitszeit um drei Stunden auf 32 Stunden abgesenkt werden kann. Die IG Metall konnte dafür keinen vollen Lohnausgleich erreichen, nur eine Bezahlung von dann 33 Stunden. Bei einem Mehrbedarf, etwa wegen eines zeitweisen  Parallelbetriebs von alten und neuen Technologien, kann die Arbeitszeit auch um bis zu drei Stunden erhöht werden

Die Einigung sieht außerdem die Möglichkeit vor, die individuelle Arbeitszeit auf 33,6 Stunden abzusenken, aber ohne Lohnausgleich und nur, sofern keine betrieblichen Gründe dagegen sprechen. Nur wer 60 Jahre und älter ist und im Schichtdienst arbeitet, soll dann 34,1 Stunden bezahlt bekommen. In den Jahren 2026 und 2027 wird die Altersgrenze jeweils um ein Jahr abgesenkt. Im Jahr 2027 soll die Regelung neu bewertet werden.

Die Gewerkschaftsbasis, Beschäftigte, erwerblose und arme Menschen werden auf Verzicht eingeschworen – dazu gehören auch die mageren Tarifabschlüsse in der „Zeitenwende“

Die Tarifauseinandersetzungen seit der „Zeitenwende“ haben gezeigt, wie Gewerkschaftsführungen mit ihren „Spielchen“ und der beschworenen Sozialpartnerschaft einen permanenten Lohnsenkungsprozess mitgetragen haben.

Der Abstand zwischen Löhnen und Preisen hat sich immer weiter vergrößert und die Einzelgewerkschaften sind dem wie fallende Dominosteine gefolgt. Ganz im Geiste der Konzertierten Aktion bei der Gewerkschaften, Unternehmerschaft und Regierung ihre Reihen schließen und den neuen Burgfrieden feiern.

Die Tarifabschlüsse werden nicht nur zum weiteren Verlust der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in den Belegschaften führen – dort müssen die aktiven, ehrenamtlichen Mitglieder ihren Kopf für die enttäuschenden Ergebnisse hinhalten – auch bei den Unternehmen und der Politik haben sie sich als Erfüllungsgehilfe und als erpressbar präsentiert.

Wie schon 1914 unterstützt die Gewerkschaftselite mit ihren unklaren Stellungnahmen die Aggression der deutschen Weltmachtfantasien. Ohne große Not stellt sie sich hinter den Wirtschaftskrieg gegen Russland und schwört die Gewerkschaftsbasis, Beschäftigte und Menschen in prekären und verarmten Verhältnissen auf Verzicht ein.

Auch seitens der Politik wird Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt, ihre bisherigen Friedenspositionen aufzugeben und der Druck hat schon Erfolg. So sprechen die Dienstleistungsgewerkschaft und auch der DGB bereits von der Neubewertung der Situation und haben über Nacht Forderungen wie ein Nein zu Waffenexporten fallengelassen.

Anstatt die Kontakte und Zusammenarbeit der Beschäftigten in den östlichen Ländern zu fördern, internationale Solidarität zu praktizieren und Demonstrationen gegen Weltkriegsgefahr und Verarmung zu organisieren, unterstützt eine Mehrheit in den Führungsgremien der Gewerkschaften Demonstrationen mit Forderungen einer „gerechten Verteilung der Lasten“ verbunden mit der Bitte die „Armen im Lande nicht zu vergessen“. Der DGB-Bundesvorstand möchte gerne handzahm „Echt gerecht – solidarisch durch die Krise.“

Sozialpartnerschaft zahlt sich in der allgemeinen Krise für die Politik, die mit ihr verbandelte organisierte Unternehmerschaft und die Gewerkschaftsbürokratie doch aus, auf dem Rücken der Krisenverlierer, die den Reichtum erst schaffen und an die Krisengewinner zahlen müssen.

Nur leise und vereinzelt melden sich Einzelne in den DGB-Gewerkschaften zu Wort und warnen vor einer langen Rezession und dem ökonomischen Zusammenbruch Deutschlands, wenn die Regierung ihre Politik so weiterführt.

Diese wenigen Personen scheinen zu ahnen, dass ein eskalierender Wirtschaftskrieg auch das Ende der Gewerkschaften besiegeln würde und sie sich den Ast absägen, auf dem sie sitzen.

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