12% leben im „Prekariat“: erste Studie zum Ausmaß dieser Lebensverhältnisse in Deutschland
Unsichere Arbeit und Lebensverhältnisse Vier Millionen Erwerbstätige gehören dauerhaft zum Prekariat
Sie sind nicht langzeitarbeitslos und abgehängt, haben aber weder einen sicheren Job noch stabile Lebensumstände – und das auf Dauer: Zum ersten Mal belegt eine Studie, wie groß das Prekariat in Deutschland ist.
Von Florian Diekmann (Quelle: Spiegel online)
Langzeitarbeitslose und weitere Menschen, die seit vielen Jahren von Hartz IV oder anderen Sozialleistungen leben. Menschen, die völlig abgekoppelt sind vom Erwerbsleben und damit aus einer Arbeitsgesellschaft wie der deutschen weitgehend ausgeschlossen – ihre Zahl lässt sich einigermaßen exakt beziffern, sie geht aus den detaillierten und regelmäßig veröffentlichten amtlichen Statistiken etwa der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor.
Vollkommen anders verhält es sich mit einer Gruppe, für die in den vergangenen Jahren ein Begriff zunehmend populär geworden ist: das Prekariat. Gemeint sind Menschen, die ein Leben in der gesellschaftlichen Zwischenzone führen: Sie gehören zwar nicht zu den völlig Abgehängten – aber eben auch nicht zu der Mehrheit der Bevölkerung mit sicherem Arbeitsplatz und weitgehend sorgenfreiem Lebensstandard. Sie haben durchaus Arbeit, müssen aber oft darum bangen, sie auch zu behalten. Sie kommen mehr schlecht als recht über die Runden, Planungssicherheit ist ihnen fremd.
Klar ist: Je mehr sich Leih- oder Werksarbeit, Befristungen und Solo-Selbstständigkeit ausbreiten, desto mehr Menschen leben in dieser gesellschaftlichen Zwischenzone. Aber wie viele Menschen es genau sind, wusste man nicht – und erst recht nicht, wie viele Menschen nicht nur vorübergehend prekär leben und arbeiten müssen, sondern auf Dauer.
Jeder achte Erwerbstätige gehört dazu
Das hat sich nun geändert – und die Zahlen sind beunruhigend: Gut vier Millionen Menschen in Deutschland leben und arbeiten dauerhaft unter prekären Umständen. Das sind mehr als zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam um Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin und Markus Promberger von der Universität Nürnberg-Erlangen in einer Studie, die dem SPIEGEL exklusiv vorab vorlag. Die Untersuchung wurde von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung finanziert.
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Dieses verfestigte Prekariat besteht demnach vor allem aus drei Personengruppen:
Mehr als die Hälfte – insgesamt 6,7 Prozent der Erwerbstätigen – waren Frauen, die zu Beginn des Zehnjahreszeitraums 25 bis 54 Jahre alt waren, die meisten von ihnen waren Mütter.
Die zweitgrößte Gruppe (insgesamt 4,3 Prozent der Erwerbstätigen) bestand aus Vätern, die zu Beginn des Zehnjahreszeitraums 25 bis 54 Jahre alt waren.
Die drittgrößte Gruppe (insgesamt 1,3 Prozent der Erwerbstätigen) bestand aus jungen Männern, die zu Beginn des Zehnjahreszeitraums 15 bis 25 Jahre alt waren.
Die Forscher verwendeten Daten von knapp zehntausend Menschen aus der Langzeitstudie SOEP (Sozio-oekonomisches Panel), für die seit Langem jährlich viele Tausend Personen befragt werden und die als sehr zuverlässig und aussagekräftig gilt. Dabei betrachteten sie, wie sich die Arbeits- und Lebensumstände über zehn Jahre hinweg veränderten – oder eben nicht. Konkret unterteilten sie dazu den Zeitraum von 1993 bis 2012 in zwei Perioden. Dabei zählten sie nur dann jemanden zum verfestigten Prekariat, wenn sich diese Person den überwiegenden Teil dieser zehn Jahre in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen befand. Damit schlossen sie all jene aus, für die das nur vorübergehend galt.
Nachtpförtner, Verkäuferin im Billigladen
Um die Größe des verfestigten Prekariats bestimmen zu können, leisteten die Forscher aber erst einmal eine andere Pionierarbeit: Sie mussten den diffusen Begriff des „Prekären“ erst einmal trennscharf definieren. Dafür entwickelten sie jeweils ein Messinstrument für prekäre Arbeit und eins für prekäre Lebensbedingungen. Nur wenn beides gleichzeitig zutraf, zählten sie die Person zum Prekariat. Dahinter steht eine einleuchtende Überlegung: Jemand kann durchaus prekär beschäftigt sein und dennoch auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen – zum Beispiel der Minijobber, der mit einer Chefärztin verheiratet ist und in einem komfortablen Eigenheim lebt. Andererseits ist es durchaus möglich, dass jemand völlig sicher und in Vollzeit beschäftigt ist, aber dennoch nur mit Mühe über die Runden kommt – zum Beispiel ein Polizeibeamter als Alleinverdiener mit Frau und vier Kindern in einer Großstadt. Auch er zählt sicher nicht zum verfestigten Prekariat.
Die Forscher definierten also sowohl für prekäre Arbeit als auch für prekäre Lebensumstände jeweils sieben Indikatoren, die sie wiederum in verschiedene Bereiche gruppierten. Nur wenn mehrere dieser Kriterien gleichzeitig erfüllt waren, galten die Arbeit oder die Lebensumstände der Person als prekär. So reichte zum Beispiel ein sehr niedriger Stundenlohn allein nicht – gleichzeitig musste entweder auch ein erhöhtes Risiko bestehen, den Arbeitsplatz unvermittelt zu verlieren, oder der Arbeitsplatz nicht sozialversichert sein.
Im Detail haben die Forscher folgende Indikatoren entwickelt:
Prekäre Arbeit: Merkmale
Wann ist Arbeit prekär?
Eine Arbeit gilt dann als prekär, wenn mindestens in zwei von drei Bereichen ein Kriterium erfüllt wird.
Ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer, der zu einem Niedriglohn arbeitet (Bereich „Einkommen“ erfüllt), aber sonst keine Kriterien erfüllt, gilt nicht als prekär beschäftigt. Arbeitet er aber zudem noch in einem Kleinstbetrieb ohne Kündigungsschutz (Bereich „mangelnde soziale Absicherung“ erfüllt), gilt er als prekär beschäftigt.
Einkommen
Mangelnde soziale Absicherung
Arbeitsplatzunsicherheit
Prekäres Leben: Merkmale
Wann sind Lebensumstände prekär?
Lebensumstände gelten dann als prekär, wenn mindestens in zwei von vier Bereichen jeweils mindestens ein Kriterium erfüllt wird. Im Unterschied zu prekärer Arbeit wird hier der gesamte Haushalt betrachtet, in dem ein Mensch lebt.
Wohnsituation
Finanzielle Situation
Besondere Belastungen
Fehlende rechtliche Absicherung
Durch dieses Vorgehen stellten die Forscher sicher, dass sie nur Personen zählten, deren Arbeit und Lebensumstände tatsächlich beide eindeutig von prekären Bedingungen geprägt sind – und für die dieses prekäre Leben zum Dauerzustand geworden ist, dem sie nicht entkommen. Als Beispiele nennen sie die Verkäuferin im Billigschuhladen, den Nachtpförtner oder die alleinerziehende Krankenschwester.
Angesichts der strengen Auswahl verdeutlicht die Zahl von knapp vier Millionen betroffenen Erwerbstätigen: Das verfestigte Prekariat ist groß, und es findet sich vielerorts.
Zur Studie der Hans-Böckler-Stiftung:
PrekariatDie neue Klasse (Tageszeitung junge Welt)
Zur Studie des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: