Im Jahr 2000 erster Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Böckler-Stiftung nimmt die Geschichte kritisch unter die Lupe

Neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung

Die Einführung des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung im Jahr 2000 war das Ergebnis zweier außerordentlicher Ereignisse in der sozialpolitischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum einen wurde im Jahr 1998 erstmals eine rot-grüne Bundesregierung gewählt, deren explizites Ziel die Erstellung einer nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung war.

Im Koalitionsvertrag von 1998 war zu lesen:

Die Bekämpfung der Armut ist ein Schwerpunkt der Politik der neuen Bundesregierung. Besonders die Armut von Kindern muss reduziert werden. Die neue Bundesregierung wird regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht erstatten.“ (Sozialdemokratische Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen 1998)

Zum anderen geht die Einführung des Armuts- und Reichtumsberichts auf den oben geschilderten Wandel in der gesellschaftlichen Problematisierung des Verhältnisses von Armut und Reichtum einher und im parlamentarischen Raum war infolge dessen eine kompromissfähige Mitte entstanden, die sich nicht auf die rot-grüne Bundestagsmehrheit beschränkte, sondern die sozialpolitischen Kräfte aus dem konservativen Spektrum mit einschloss. Da die Kohl-Regierung sich jahrelang weigerte einen Regierungsbericht zu verfassen, war im Zuge der Ablehnungen der oppositionellen Anträge (s. o.) ein gesprächsfähiges Bündnis von sozialpolitischen Akteuren aus beiden Lagern des parteipolitischen Betriebs entstanden. Eine zentrale Figur spielte darin der saarländische Bundestagsabgeordnete und ehemalige Caritas-Referatsleiter Peter Weiß (CDU), der die Erstellung des Berichts parteiübergreifend unterstützte. Auf der anderen Seite wurde Reichtum durch solch prominente Figuren wie den Münchener Oberbürgermeister Georg Kronawitter (SPD) thematisiert und flankiert von Veranstaltungen und Veröffentlichungen, die deutschlandweit Beachtung fanden. So entstand ein Gelegenheitsfenster, in dem die soziale Frage in die parlamentarische Arena einziehen konnte und eine verbands- und parteiübergreifende Allianz ermöglichte.

In diesem Gelegenheitsfenster konnte der SPD-Bundestagsabgeordnete Konrad Gilges eine parlamentarische Mehrheit für die Einführung des Armuts- und Reichtumsberichts mobilisieren. Ein Interviewpartner beschreibt die damalige Stimmung der SPD vor dem Regierungswechsel 1998 wie folgt:

Ich bin 1996 in den Bundestag gekommen und da gab es seit ungefähr einem dreiviertel Jahr, längstens ein Jahr, also seit 1995 eine Arbeitsgruppe Armut innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion, die geleitet wurde vom Abgeordneten Konrad Gilges […]. Und die haben angefangen, das Thema auch in der Bundestagsfraktion so richtig hochzuziehen. Diese Arbeitsgruppe Armut war eine, die sich dann aus unterschiedlichen dieser klassischen Fraktionsarbeitsgruppen zusammengesetzt hat. […] Nach meinem Eindruck ist das Interesse nicht zuletzt dadurch entstanden, dass auch von der Böckler-Stiftung und dem Paritätischen, ich glaube das war 1990, eine große Studie, damals von Walter Hanesch herausgekommen, gemacht wurde, über Armut in Deutschland. So, es gab damals dann eine Reihe von Veranstaltungen. Das hat also im Grunde immer größere Kreise gezogen, weil das Thema damals Konjunktur hatte.“

Das, was ein Interviewpartner als „Konjunktur“ bezeichnet, lässt sich als Verschiebung der Diskursverhältnisse deuten, die einen bislang vernachlässigten Bereich des sozialen Lebens in den Fokus der politischen Aufmerksamkeit rückt und dies durch eine parlamentarische Gremienarbeit leistet, die sich an die unterschiedlichen Formate der zivilgesellschaftlichen Akteure zumindest thematisch anschließt. Zwar hat sich das keineswegs so linear vollzogen, wie es heute aus rekonstruktiver Perspektive erscheint. Aber es waren eine Reihe unterschiedlichster Akteure erforderlich und wurden verschiedenste Bemühungen unternommen, um aus der anfänglichen Bagatellisierung oder Leugnung des Armutsphänomens einen periodisch zu veröffentlichenden Armutsbericht in die staatliche Praxis einzuführen.

Die Debatten waren dabei nicht nur politischer Natur. Während unter politischem Streit die Interessendivergenz streitender Akteure oder Akteurskonstellationen verstanden wird, die ihre Positionen infolge innerparteilicher Aushandlungsprozesse bereits festgelegt haben und auf dieser Grundlage strategisch handeln, ließ das Anliegen, Armut von der politischen auf die staatliche Agenda zu heben, einen solchen Prozess nur bedingt zu. Denn die kompromissfähige „Mitte“ musste erst um eine angemessene Vorstellung von dem ringen, was unter Armut zu verstehen ist, sodass sich der politische Kampf in erster Linie als ein Deutungskampf vollzog, in dem es mehr um Definitionen und Ideen als um hinlänglich klare Forderungen ging. Ein zentraler Streitpunkt war hier die Frage, ob Armut überhaupt angemessen zu bestimmen sei, wenn man nicht auch Reichtum als sein Gegenüber mitdenke. Nur sukzessive setzte sich die Idee durch, dass Armut und Reichtum politische Phänomene sind, die gemeinsam zu untersuchen seien. Dies war ein innovativer Schritt, der nicht nur die Armuts-, sondern auch die bislang eher unabhängig davon laufende Reichtumsforschung wesentlich voranbrachte.

Wie eine Reichtumsforscherin und Mitglied des wissenschaftlichen Gremiums des fünften Armuts- und Reichtumsberichts beschreibt:

Da wurden tatsächlich für den Bericht 2001 mal so die ersten Grundlagen der Reichtumsforschung in Deutschland geschaffen.“

Vielleicht am bedeutsamsten in diesem Zusammenhang war die Entscheidung der treibenden Akteure, den Armuts- und Reichtumsbericht als ein staatliches Dokument anfertigen zu lassen und seine Veröffentlichung zur Regierungspflicht zu erklären. Diese Entscheidung ließ sich so begründen, dass die Bundesregierung, anders als die Gewerkschaften oder die Kirchen- und Wohlfahrtsverbände, eine nicht-partikularistische Sicht auf Armut, Reichtum und Ungleichheit versprach und durch das staatliche Neutralitätsgebot dem Anliegen eine besondere Legitimität verleihen konnte, die anders nicht zu erreichen war:

Weil wir natürlich immer gesagt haben, das muss eine Berichterstattung des Bundes sein, ja. Das sieht ganz anders aus, wenn da der Bundesadler irgendwo drübersteht oder das Logo irgendeines Ministeriums, als wenn das schon wieder nur in dicken Anführungszeichen der Paritätische, das Rote Kreuz oder auch die Böckler-Stiftung macht.“

Es war, wie Interviewpartner 12 2018 weiter ausführt, ein politisch prekäres Unterfangen, den Bericht erstens als ein Dokument der Bundesregierung mit Kabinettsbeschluss durchzusetzen, der im Auftrag des Bundestages entsteht. Das sollte den Abgeordneten die Möglichkeit verschaffen, regelmäßig zur Mitte jeder Legislaturperiode eine Debatte über die Inhalte der im Bericht vorgelegten Erkenntnisse noch vor dessen Verabschiedung durch die Bundesregierung zu führen. Zweitens legten die Antragsteller Wert darauf, dass der anvisierte Armuts- und Reichtumsbericht als ein Prozess konzipiert wird, der die Debatte über Aus-maß und Verhältnis von Armut und Reichtum auf Dauer stellt:

Wir haben von Anfang an immer das Wort ‚Berichterstattung‘ benutzt. Wir haben nie Bericht benutzt, weil uns ganz wichtig gewesen ist, dass da ein Prozess angelegt wird und sich keiner darauf zurückziehen kann: ‚Hier guck mal, Bericht, den haben wir 2001 abgegeben, damit ist das Thema erledigt.‘“

Um beide Entscheidungen wurde in den Wohlfahrtsverbänden wie in den kirchlichen Organisationen „gestritten wie die Kesselflicker“. Auch waren sie innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten. Den größten Streitpunkt, damals wie heute, stellt die Gefahr einer potenziellen Beschönigung der sozialen Lage durch die Regierung dar. Wenn die Bundesregierung die Entscheidungshoheit über die Bestimmung der sozialen Lage im Land erhält, liegt schließlich die Vermutung nahe, dass sie entweder den Bericht einer Reihe exekutiver Kalküle unterzieht, die ihn verwässern, oder dass er zum bloßen Legitimierungsmittel der Regierungen verkommt, die aus den Daten eher die eigenen Leistungen ablesen, als sich substantiell an der Problematik abzuarbeiten. Die Furcht vor dem Verlust der Deutungshoheit über die „Faktenlage“ in der politischen Diskussion war besonders prägend:

Die Befürchtung haben wir nie richtig ausgeräumt gekriegt. An einigen Stellen hat sich ja dann auch herausgestellt, dass die nicht so unbegründet gewesen ist.“

Interviewpartner 17 2018, der als Pionier noch bis zum dritten Armuts- und Reichtumsbericht im wissenschaftlichen Gutachtergremium beteiligt war, beschreibt die Kontroversen über die Gestaltung des Berichts so:

Da gab es verschiedene Meinungen. Die erste Meinung war, das müssen Wissenschaftler schreiben und das Ministerium kommentiert es. So wird z. B. der Familienbericht geschrieben. Den schreiben Wissenschaftler und das Ministerium sagt dann was dazu. Und nennt natürlich die Maßnahmen, die wir schon er-griffen haben und die, die in Arbeit sind. Und eine andere Methode war eben das Ministerium schreibt den Bericht und holt Gutachten ein. Und darauf lief es dann auch hinaus.“

Am Ende wurde das wissenschaftliche Gremium wie folgt ausgestaltet:

Das Ministerium hat dann einen Beirat von Anfang an gegründet, von Wissenschaftlern, in denen auch viele Themen diskutiert wurden. Und die Gutachten sind auch alle veröffentlicht.“

Diese Ausgestaltung blieb aber nicht ohne Kritik in wichtigen wissenschaftlichen Kreisen. Wie Walter Hanesch et al. (2000, S. 22 zitiert in Butterwegge 2016, S. 59) beschreibt:

Das eher zögerliche und halbherzige Vorgehen bei der Planung und Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts macht […] deutlich, dass auch diese Regierung vor der Brisanz dieser Thematik zurückschreckt und sie unter Kontrolle zu halten versucht, statt sie offensiv anzugehen.“

Hier wurde vor allem die Konzeption des Berichts als neutrales Dokument hinterfragt: Es handelt sich um ein Regierungsdokument, welches auf Expertise beruht, aber keinen ExpertInnenbericht darstellt (Butterwegge 2016, S. 59). Es darf allerdings nicht unterschätzt werden, wie wichtig dieses Ereignis für die gesellschaftliche Wahrnehmung über Armut in Deutschland war. Erstmals wurde Armut als gesellschaftliches Phänomen auf der staatlichen Ebene gesetzlich anerkannt. Darüber hinaus wurden Daten zu Reichtum erhoben, die in der deutschen Reichtumsforschung bahnbrechend waren und als Pionierarbeit verstanden wurden. So war die Existenz von Armut in Deutschland nicht mehr bestreitbar und wurde somit auf staatlicher Ebene „offiziell“ anerkannt.

Hier gibt es das gesamte Forschungspapier:

 

Armuts-undReichtumsbericht

 

 

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