Bisher waren die Vermögen der reichsten Deutschen eine Blackbox. Forscher haben sie nun geöffnet. Ihre Daten zeigen: Die Vermögen sind ungleicher verteilt als gedacht.

Vermögensverteilung: Das obere Prozent

Bisher waren die Vermögen der reichsten Deutschen eine Blackbox. Forscher haben sie nun geöffnet. Ihre Daten zeigen: Die Vermögen sind ungleicher verteilt als gedacht.

1 Prozent der Erwachsenen besitzen rund 35 Prozent des Gesamtvermögens
9 Prozent der Erwachsenen besitzen rund 32 Prozent des Gesamtvermögens
90 Prozent der Erwachsenen besitzen rund 33 Prozent des Gesamtvermögens

Quelle: Sozio-ökonomisches Panel

Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes „Die Vermögenden“ aus unserem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.

In dieser Woche werden Ökonomen ein Rätsel lösen, von dem man nicht annehmen würde, dass es bisher eines war. Das Rätsel lautet: Wer sind die Millionäre und Superreichen in Deutschland? Und wie viel besitzen sie genau? Bislang gab es zu beiden Fragen zwar viele Schätzungen und Anekdoten. Genau wusste es aber niemand, weil viele große Vermögen statistisch nicht erfasst werden und Millionäre seltener bereit waren, sich befragen zu lassen.

Diese Wissenslücke soll jetzt geschlossen werden. Am Mittwoch wird ein Team um Markus Grabka, Carsten Schröder und Johannes König eine Studie im Auftrag des Arbeitsministeriums vorlegen, die eine neue Verteilungsdebatte auslösen könnte. In drei Jahren Recherche haben die Ökonominnen und Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) die Vermögensverhältnisse am oberen Rand der Bevölkerung zusammengetragen. Es ist die erste Untersuchung der Vermögensmillionäre in Deutschland, die auf einer Zufallsstichprobe basiert – und nicht wie bisher auf Schätzungen oder journalistisch recherchierten Reichenlisten von Forbes oder dem manager magazin. Die Studie liegt ZEIT ONLINE vor.

Das politisch relevanteste Ergebnis: Die Verteilung der Nettovermögen – also des Vermögens nach Abzug der Schulden – ist in Deutschland weit ungleicher als bisher angenommen. Den obersten zehn Prozent der Bevölkerung gehören nicht etwa wie bisher geschätzt 59 Prozent der Vermögen. Sie besitzen rund zwei Drittel. Im reichsten Prozent steigt der Anteil von bisher knapp 22 Prozent auf rund 35 Prozent. „Deutschlands ohnehin schon hohe Vermögensungleichheit wurde bisher deutlich unterschätzt“, sagt Johannes König, einer der Autoren. „Wir sehen jetzt erstmals ein realistischeres Bild von der Verteilung am oberen Rand.“

Um mehr Licht in die Welt der Vermögenden zu bringen, stellte das Forscherteam eine aufwendige Recherche an. Seit der Einführung der Abgeltungssteuer im Jahr 2009 und der Aussetzung der Vermögenssteuer im Jahr 1997 sind große Vermögen in Deutschland statistisch schlecht erfasst. Die Zahl der Menschen mit Millionenvermögen ist zudem so klein, dass die Wahrscheinlichkeit gering war, dass diese in den Zufallsstichproben der großen Bevölkerungsumfragen auftauchten.

Deshalb schauten die Forscher zu Beginn ihrer Untersuchung in Länder wie die USA, Schweden oder Norwegen, in denen bessere Daten über große Vermögen vorlagen. Sie stellten fest, dass die Reichsten dort eines gemeinsam hatten: Sie hielten, oft auch aus steuerlichen Gründen, Beteiligungen an Unternehmen.

Die ärmere Hälfte besitzt fast nichts

 

50 Prozent der Erwachsenen besitzen rund 98,6 Prozent des Gesamtvermögens
50 Prozent der Erwachsenen besitzen rund 1,4 Prozent des Gesamtvermögens

 

In einem zweiten Schritt zapften die Forscher die weltweit größte Datenbank für Unternehmensbesitz an: Orbis. Dort sind die Bilanzen von 270 Millionen Firmen gespeichert. Aus dem gewaltigen Datensatz filterten die Wissenschaftlerinnen die Adressen aller Menschen, die international nennenswerte Firmenanteile halten und einen Wohnsitz in Deutschland haben: 1,7 Millionen Menschen. Von den laut Firmenregister reichsten 600.000 Menschen schrieben sie eine zufällig ausgewählte Gruppe an und baten um ein Interview. 1.956 Haushalte sagten zu, darunter 881 mit einem Nettovermögen von mehr als einer Million Euro.

Geschulte Interviewer besuchten die Vermögenden zu Hause. Gemeinsam füllten sie dort den umfangreichen Fragebogen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus, eine der ältesten Langzeituntersuchungen in Deutschland. 16.000 Privathaushalte werden jedes Jahr für dieses Panel befragt. Dabei geht es nicht nur um die Höhe des Vermögens und wie es sich zusammensetzt: zum Beispiel aus Geldanlagen, Betriebsvermögen, privaten Versicherungen, Immobilien oder Fahrzeugen. Gefragt wird auch: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben? Mit Ihrer Gesundheit? Mit Ihrer Freizeit? Haben Sie das Gefühl, dass das, was Sie in Ihrem Leben machen, wertvoll und nützlich ist? Wie viele Stunden in der Wochen arbeiten Sie?

Anschließend integrierten die Wissenschaftlerinnen die Spezialstichprobe in den bisherigen Datensatz. Außerdem rechneten sie die Reichenliste des manager magazins mit ein, um auch Menschen mit einem Vermögen von mehr als 250 Millionen Euro abbilden zu können. Am Ende befanden sich in dem Datensatz rund 1.200 Menschen mit einem Nettovermögen von mehr als einer Million Euro.

Der Befund, zu dem die Forscher auf Basis der neuen Daten kommen, dürfte die Debatte um die Beteiligung der Reichen an den Kosten der aktuellen Krise weiter befeuern. Das international gängige Maß für Ungleichheit ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Beträgt er Null, herrscht keine Ungleichheit (die Vermögen sind völlig gleich verteilt). Erreicht er eins, ist die Ungleichheit maximal (ein Einzelner besitzt alles). Schon vor der neuen Erhebung lag der Wert bei 0,78. Jetzt beträgt er 0,81. Bezieht man die Reichenliste mit ein, sogar 0,83. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland damit schlecht ab.

Wo Menschen mit hohen Firmenbeteiligungen wohnen

Vermögende haben oft eines gemeinsam: Sie halten Beteiligungen an Firmen. Unsere Karte zeigt, an welchen Orten prozentual die meisten Top-Anteilseigner wohnen, je dunkler die Felder, desto höher ihr Anteil.

Quelle: Review of Income and Wealth, doi.org/10.1111/roiw.12452 © ZEIT ONLINE

Das hat nach Ansicht der DIW-Forscher mehrere Ursachen. Zum einen gibt es in Deutschland ein vergleichsweise gut ausgebautes Sozialsystem. Die Notwendigkeit privat vorzusorgen ist deshalb geringer als in anderen Ländern. Die Forscher zählen Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung in ihrer Betrachtung nicht zum Vermögen. Täten sie es, würde die Ungleichheit geringer ausfallen. Zum anderen ist Deutschland traditionell ein Land der Mieter, nur ein kleiner Teil der Bevölkerung wohnt in einer eigenen Immobilie. Das Geld, das in die Miete fließt, fehlt den ärmeren Haushalten zum Sparen. Vor allem in osteuropäischen Ländern, in denen Immobilienbesitz stärker verbreitet ist, fällt die Vermögensungleichheit geringer aus.

Doch auch die Politik hat die ungleiche Entwicklung beeinflusst. Die Senkung des Spitzensteuersatzes durch die frühere rot-grüne Bundesregierung habe dazu geführt, dass die Bezieher hoher Einkommen mehr Geld zur Verfügung hatten, um zu sparen, sagt der DIW-Ökonom Carsten Schröder. „Dadurch sind die Vermögen am oberen Rand absolut zuletzt schneller gewachsen.“ Seit Ende der Neunzigerjahre fällt außerdem die Vermögensteuer weg, die die ungleiche Entwicklung gebremst hatte.

Die DIW-Forscher nennen aber noch einen anderen, entscheidenden Faktor: Den Menschen am unteren Rand war es bisher kaum möglich, nennenswerte Vermögen aufzubauen. „Viele Fördermaßnahmen wie das Baukindergeld oder die Eigenheimzulage waren Geschenke an die Mittelschicht“, sagt Markus Grabka, Mitautor der Studie. „Den Menschen am unteren Rand hat diese Förderpolitik wenig geholfen.“ Die Folgen zeigen sich heute: Die Hälfte der Bevölkerung hat kein oder nur ein geringes Vermögen von bis zu 22.800 Euro. Im Schnitt beträgt das Nettovermögen dieser Gruppe rund 3.700 Euro.

Alt, westdeutsch, männlich

Doch wer sind im Gegensatz dazu die reichsten 1,5 Prozent, die mehr als eine Million Euro besitzen? Auch darüber gibt die Studie Auskunft und räumt zugleich mit Vorurteilen auf.  „Die Vorstellung, dass reiche Menschen Privatiers sind, die nicht arbeiten und ihr Geld verkonsumieren, lässt sich in unseren Daten nicht bestätigen“, sagt der Ökonom Carsten Schröder.

Rund drei Viertel der Millionäre in Deutschland sind selbstständig oder unternehmerisch tätig. Häufig arbeiten sie in leitender Funktion. Anders als im Rest der Bevölkerung ist kaum ein Millionär angestellt. Rund ein Drittel ist in Rente, nur fünf Prozent arbeiten gar nicht. Vor allem aber legen Millionäre ihr Vermögen anders an als der Rest der Bevölkerung. Während die Mittelschicht ein Großteil ihres Vermögens in Immobilien oder Geldanlagen hält, steckt rund 40 Prozent des Vermögens der Millionäre in Firmenanteilen. Ihr Vermögen ist Betriebsvermögen, an dem Arbeitsplätze, Gehälter und Steuereinnahmen hängen.

73 Prozent der erwerbstätigen Millionäre in Deutschland sind selbstständig

Das Vermögen aller Millionäre (38 Prozent des Gesamtvermögens)

Das Vermögen aller anderen (62 Prozent des Gesamtvermögens)

73 Prozent der Millionäre sind selbstständig, 27 Prozent sind angestellt

Millionäre in Deutschland sind zudem überdurchschnittlich oft männlich (69 Prozent), überdurchschnittlich gut ausgebildet und leben überdurchschnittlich häufig in Westdeutschland. Sie sind mit im Schnitt 56 Jahren älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und sie verdienen mit mehr als 7.600 Euro netto im Monat mehr als dreimal so viel wie der Durchschnitt. Nur 14 Prozent haben einen Migrationshintergrund, im Rest der Bevölkerung gilt das für jede vierte Person.

Die reichsten Deutschen sind überwiegend männlich

Das Vermögen aller Millionäre (38 Prozent des Gesamtvermögens)

Das Vermögen aller anderen(62 Prozent des Gesamtvermögens)

69 Prozent der Millionäre sind Männer, 31 Prozent sind Frauen

Die Daten liefern zudem neue Einsichten in die Frage, ob reiche Menschen glücklicher sind als arme. Frühere Studien betrachteten dabei vor allem die Einkommen. Die Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und Angus Deaton berechneten vor rund zehn Jahren, dass die Zufriedenheit ab einem jährlichen Einkommen von 75.000 Dollar nicht mehr ansteigt. Auch spätere Studien zeigten, dass das Glück ab einer gewissen Einkommensschwelle nicht mehr zunimmt.

Dieses Bild ändert sich jedoch, wenn man die Vermögen mit einbezieht. In der DIW-Befragung zeigten sich die Millionäre in nahezu allen Lebensbereichen deutlich zufriedener als der Rest der Bevölkerung. Die Reichen waren nicht nur glücklicher mit ihrem Einkommen, ihrer Gesundheit, ihrer Familiensituation und ihrem Wohnumfeld, sondern auch mit dem Leben insgesamt. Nur hinsichtlich der Freizeit war die Zufriedenheit geringer. Das führen die Autoren auf die deutlich höheren Arbeitszeiten zurück. Den Befragungsdaten zufolge arbeiten die Millionäre im Schnitt 47 Wochenstunden – rund zehn Stunden mehr als der Rest der Bevölkerung.

Die Beobachtung, dass ein höheres Einkommen irgendwann nicht mehr glücklicher macht, scheint also einen wesentlichen Faktor zu vernachlässigen: das dahinter liegende Vermögen. Bezieht man das mit ein, lässt sich zeigen, dass auch Menschen mit geringem Einkommen zufriedener sind, solange sie ein Vermögen haben. „Vermögen hat eine zentrale Sicherungsfunktion“, sagt der DIW-Ökonom Grabka. Es kann wegbrechende Einnahmen – wie etwa jetzt in der Corona-Pandemie – auffangen. „Vermögen gibt aber auch Freiheit. Man kann zum Beispiel den Job wechseln, wenn man damit unglücklich ist.“

Lieber Armen helfen als Reiche besteuern

Die DIW-Ökonomen plädieren dennoch dafür, die neuen Ergebnisse nicht für Neiddebatten zu nutzen. Wichtiger sei eine politische Diskussion darüber, wie auch ärmere Menschen ein Vermögen aufbauen könnten. Bislang besitzt die untere Hälfte nicht nur kaum Vermögen, sie spart auch kaum für die Zukunft. Reiche hingegen sparen größere Anteile ihres Einkommens. Die Folge: Ihr Reichtum vermehrt sich, während das geringe Vermögen der anderen stagniert.

Der Ökonom Markus Grabka hält auch die Diskussion um eine Wiederbelebung der Vermögensteuer für verfehlt. Selbst wenn diese großzügig bemessen wäre, würde sie an der hohen Vermögenskonzentration wenig ändern. „Die Vermögensteuer ist nicht die Lösung des Problems“, sagt Grabka. „Dem Großteil der Bevölkerung würde es erheblich mehr dienen, wenn wir den Fokus umschwenken auf eine bessere Vermögensakkumulation.“

Statt die Reichen zu besteuern, sollte die Regierung sich stärker um Modelle des Vermögensaufbaus für breite Teile der Bevölkerung kümmern, argumentieren die DIW-Forscher. Ein Beispiel sei Schweden, wo die bürokratischen Hürden für den privaten Vermögensaufbau geringer seien und die staatlich geförderten Renditen höher.

Denkbar wäre auch eine veränderte Immobilienförderung für ärmere Menschen. Der Staat könnte etwa die Grunderwerbssteuer für Erstkäufe von Immobilien abschaffen und dafür weitere Immobilienkäufe stärker besteuern. Das würde jenen nützen, die wenig Immobilienvermögen haben, und jene härter treffen, die im großen Stile in Immobilien investieren.

Der DIW-Forscher Johannes König hält auch direkte Finanzhilfen des Staates für denkbar, um dem ärmeren Teil der Bevölkerung beim Vermögensaufbau zu helfen. „Wenn man am unteren Ende drehen möchte, muss man die Leute dort gezielt fördern“, sagt König. „Vergangene Studien zur Riesterförderung zeigen, dass man den Leuten das Geld auf ihr Sparkonto legen muss.“

Das könnte zum Beispiel auf persönlichen Vermögenskonten geschehen. Der Staat würde darauf einzahlen, das Geld wäre ab einem bestimmten Alter verfügbar. Noch weiter geht der US-Bundesstaat Alaska mit seinem Alaska Permanent Fund. Der Staat zahlt dort die Hälfte des jährlichen Fondsgewinns aus Öleinnahmen jedem Einwohner zur freien Verfügung aus – pro Kopf umgerechnet einige Tausend Euro.

Die DIW-Forscher hoffen darauf, dass ihre Studie eine neue Debatte über Vermögenspolitik in Deutschland anstößt. Dank der neuen Daten sei es nun möglich, die Vermögenden jedes Jahr zu befragen und zu beobachten – und damit auch die Vermögenskonzentration in Deutschland. Vermutlich im Herbst wird die Untersuchung Teil des sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Spätestens dann könnte die Diskussion über Arm und Reich in Deutschland wieder lauter werden.

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Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes „Die Vermögenden“ aus unserem Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.

Text: Philip Faigle, Vanessa Vu
Redigatur: David Hugendick, Meike Dülffer
Datenvisualisierung: Paul Blickle, Fabian Dinklage,
Annick Ehmann, Julian Stahnke

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