Herner Sozialforum

„Wir haben einfach einen sehr großen Niedriglohnsektor in Deutschland, insgesamt arbeiten neun Millionen Menschen für Niedriglöhne. Und das ist genau die Zone, in der Armut stattfindet.“

Stand Dez. 2017: 12,80 Mindestlohn bei einer 38,5 Stundenwoche zur Verhinderung von Sozialhilfe/“Grundsicherung“

Bettina Kohlrausch:

„Homeoffice ist ein Privileg der Reichen“

Der jüngste „Armutsbericht“ der Bundesregierung zeigt, dass sich Armut verfestigt – erst recht durch Corona. Die Soziologin Bettina Kohlrausch warnt vor Polarisierung.

Bettina Kohlrausch forscht zu sozialer Ungleichheit und Armut in Deutschland. Seit 2020 ist sie Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

ZEIT ONLINE: Frau Kohlrausch, an diesem Mittwoch hat das Kabinett den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verabschiedet. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Bettina Kohlrausch: Die wichtigste Erkenntnis ist: Es wird immer schwieriger, aus der Armut herauszukommen. Armut verfestigt sich, nicht erst seit der Pandemie. Der Bericht hat gezeigt, dass 70 Prozent der Menschen, die zwischen 2008 und 2012 arm waren, im Zeitraum von 2013 bis 2017 immer noch arm waren. Ein weiterer Befund ist die ökonomische Polarisierung: Die Anteile der mittleren Einkommensgruppen nehmen ab, dafür wächst die Zahl der Menschen, die sehr viel oder sehr wenig verdienen. Auch die Vermögen sind sehr ungleich verteilt – sogar ungleicher als die Einkommen. Viele Auswirkungen der Corona-Krise wird man aber erst in zwei, drei Jahren abschätzen können.

ZEIT ONLINE: Fast alle Parteien haben sich in diesem Wahlkampf vorgenommen, Hartz IV abzuschaffen. Was sind aus Ihrer Sicht politische Konzepte, um die Armut zu reduzieren?

Kohlrausch: Ich glaube, ein Mindestlohn von mindestens zwölf Euro wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Auch eine Stärkung der Tarifbindung würde helfen. Wir haben einfach einen sehr großen Niedriglohnsektor in Deutschland, insgesamt arbeiten neun Millionen Menschen für Niedriglöhne. Und das ist genau die Zone, in der Armut stattfindet. Die Folgen davon sind groß, vor allem, wenn man sie über das weitere Leben fortschreibt. Diese Menschen werden am Ende auch nur niedrige Renten beziehen können. Auch die Regelsätze für Harz IV – wie immer man sie dann nennt – sollten auf ein bedarfsgerechtes Niveau angehoben werden.

ZEIT ONLINE: Hat die ökonomische Polarisierung auch politische Folgen?

Kohlrausch: Auf jeden Fall. Wir sehen in unseren Daten, die auf einer repräsentativen Befragung von circa 6.000 Erwerbspersonen beruht, dass diejenigen, die Einkommensverluste in der Corona-Pandemie erlitten haben, eher bereit sind, Verschwörungstheorien anzuhängen. Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen Einkommensverlusten in der Pandemie und rechtspopulistischen Einstellungen.

ZEIT ONLINE: Wie genau stellen Sie das fest?

Kohlrausch: In früheren Erhebungen, in denen wir wahlberechtigte Personen nach ihren sozialen Lebenslagen und politischen Einstellungen gefragt haben, konnten wir sehen, dass die soziale Verunsicherung und Abstiegsängste nicht nur arme Menschen betreffen, sondern weit in die mittleren Schichten hineinreichen. Dort haben wir auch gesehen, dass Abstiegsängste im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Einstellungen stehen. Und diese Sorgen wachsen natürlich, je stärker die Polarisierung der Gesellschaft ist. Im Armuts- und Reichtumsbericht wird übrigens auch darauf verwiesen, dass die Wahlbeteiligung in den unteren Einkommensschichten überproportional zurückgegangen ist. Wer Armut bekämpft, festigt am Ende auch die Grundlage unserer Demokratie. Das betrifft uns alle.

ZEIT ONLINE: 3,3 Millionen Menschen sind aktuell in Kurzarbeit, gerade im Hotel- und Gaststättengewerbe hat die Corona-Krise dramatische Auswirkungen. Befürchten Sie, dass die Pandemie die Armut in Deutschland erhöht?

Kohlrausch: Auf jeden Fall. Bei unserer jüngsten Befragung von Erwerbstätigen haben wir gesehen: In der Corona-Krise waren diejenigen in den unteren Einkommensgruppen häufiger von Einkommensverlusten betroffen. Dafür gibt es mehrere Faktoren: Viele geringfügige Beschäftigungen sind in der Pandemie weggebrochen. Andere Geringverdiener arbeiten in Branchen wie dem Gastgewerbe, die in der Pandemie besonders häufig von Kurzarbeit betroffen sind. Wer mit seinem Einkommen nur knapp über der Armutsschwelle liegt, und dann über Monate zehn oder zwanzig Prozent weniger verdient, droht abzurutschen und gerät auf jeden Fall in eine sehr belastende Situation.

ZEIT ONLINE: Wer gilt in Deutschland eigentlich als arm?

Kohlrausch: Hierzulande ist arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient. Diese relative Definition von Armut orientiert sich an der Teilhabe-Idee, ob ein Mensch in einer Gesellschaft teilnehmen kann. Wenn sich alle Freunde regelmäßige Kinobesuche leisten können, man selbst aber nicht, dann ist das mangelnde Teilhabe. Diese Definition geht also darüber hinaus, dass bestimmte Grundbedürfnisse abgedeckt sind und fragt danach, ob man am durchschnittlichen Lebensstandard in diesem Land teilhaben kann.

„Schon das Gesundheitsrisiko in der Pandemie ist ungleich verteilt“

ZEIT ONLINE: Wie gut wirken Hilfsleistungen wie die Corona-Hilfen für Selbstständige oder das Kurzarbeitergeld, um die Folgen der Pandemie abzumildern?

Kohlrausch: Für viele Menschen, die schon vor der Krise nur knapp über der Armutsgrenze verdient haben, reicht das Kurzarbeitergeld nicht. Hinzu kommt, dass viele Menschen ihre Arbeitszeit auch aus anderen Gründen reduzieren mussten, beispielsweise, um ihre Kinder zu betreuen. Und dann sind da natürlich noch die Selbstständigen, die besonders stark von der Krise betroffen sind. Unter denen gibt es natürlich nicht nur die Geringverdiener. Aber wer beispielsweise vor der Pandemie selbstständig Musikunterricht gegeben hat, der gehörte wahrscheinlich schon vorher nicht zu den Großverdienern, und durch die Pandemie sind ihm fast alle Einnahmen weggebrochen.

ZEIT ONLINE: Hat die Pandemie auch die sozialen Folgen von Armut verändert oder verstärkt?

Kohlrausch: Schon das Gesundheitsrisiko in der Pandemie ist ungleich verteilt und trifft die Armen besonders stark. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass sie exponierter sind. Homeoffice ist ein Privileg der Reichen. Auch die Bildungsungleichheiten verschärfen sich. Wie Kinder mit der Pandemie umgehen, wie sie Lernrückstände aufholen können, hängt stark vom Einkommen der Eltern ab.

ZEIT ONLINE: Wird Armut in Deutschland vererbt?

Kohlrausch: Also vererbt klingt so, als ob die Kinder es zwangsläufig von ihren Eltern mitbekommen würden. Da würde ich widersprechen. Was man sagen kann: Die Strukturen machen es den Kindern schwer, aus der Armut herauszukommen. Man braucht gewisse Ressourcen, um einen guten Bildungsabschluss zu schaffen. Das wurde in der Corona-Krise besonders deutlich. Und Leistungsbewertung in der Schule ist natürlich auch schichtspezifisch.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Kohlrausch: Ein Kind aus einer bildungsfernen Familie muss mehr leisten für eine gute Bewertung. Es ist aber schwer, die Ursachen wissenschaftlich zu erforschen, weil es dabei um unterschwellige Prozesse geht. In der Soziologie erklärt man das unter anderem mit dem schichtspezifischen Habitus. Man traut Kindern aus ärmeren Haushalten womöglich generell weniger zu. So könnte es beispielsweise sein, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten eine Sprache benutzen, die Lehrkräfte weniger mit Intelligenz und Können verknüpfen.

teilen mit …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

45 − = 44