Ein zentrales Ergebnis: Arme Menschen leben vor allem in ostdeutschen Städten und im Ruhrgebiet zunehmend in bestimmten Wohnvierteln.

Ungleichheit hinter den Fassaden: Arme Viertel, reiche Viertel? Eine Studie zeigt ein umfassendes Bild der sozialen Segregation in 153 Städten

»Mithilfe von Daten der Kommunalstatistik und der Bundesagentur für Arbeit hat Marcel Helbig, Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), eine soziale Landkarte der 153 größten deutschen Städte entwickelt. Dafür hat er nicht nur die räumliche Verteilung armer Menschen untersucht, sondern auch herausgearbeitet, wo Menschen mit hohem Einkommen, hoher Bildung oder auch mit ausländischer Staatsangehörigkeit wohnen.« Und was hat der Wissenschaftler zu Tage gefördert?

»Ein zentrales Ergebnis: Arme Menschen leben vor allem in ostdeutschen Städten und im Ruhrgebiet zunehmend in bestimmten Wohnvierteln. In süddeutschen Städten geht der Trend dagegen zu mehr sozialer Durchmischung – ein Grund ist der besonders angespannte Mietmarkt«, so der Hinweis in dieser Zusammenfassung der Studie: Trennung von Arm und Reich: Städte im Osten und im Ruhrgebiet besonders betroffen. Hinsichtlich der sozialen Segregation – also die ungleiche räumliche Verteilung verschiedener sozialer Gruppen – habe sich in dem Untersuchungszeitraum (2005 bis 2022) vor allem die Armutssegregation verschärft, also die ungleiche Verteilung von Menschen, die staatliche Transferleistungen beziehen.

Sie hat besonders stark in Städten zugenommen, in denen bereits ein hohes Segregationsniveau erreicht war. Dazu zählen Städte wie Schwerin, Halle (Saale) oder Kiel. Vor allem in den ostdeutschen Städten hat sich die Armutssegregation zugespitzt und mittlerweile ein deutlich höheres Niveau als in den anderen Regionen erreicht. Besonders die soziale Schere zwischen den Plattenbausiedlungen einerseits und den Innenstädten oder Vororten andererseits ist größer geworden.

In den Städten des Ruhrgebiets ist von 2013 bis 2020 ein beständiger Anstieg der Armutssegregation zu beobachten – begleitet von einer wachsenden Armutsquote. Auf die beunruhigende Entwicklung der Armutsbetroffenheit in den Ruhrgebietsstädten wurde auch an anderer Stelle, beispielsweise in den Armutsberichten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, hingewiesen (vgl. dazu bereits Pieper et al. 2019: 30 Jahre Mauerfall – Ein viergeteiltes Deutschland. Der Paritätische Armutsbericht 2019).

Aber es gibt auch eine von diesem Trend abweichende Beobachtung: In den süddeutschen Städten ist eine rückläufige Entwicklung der ungleichen Verteilung von Armut erkennbar. Wie kann das sein? Zum einen hat der wirtschaftliche Aufschwung dazu geführt, dass hier kaum Armutsquartiere entstanden sind. Zum anderen bedingt der angespannte Mietmarkt eine stärkere soziale Durchmischung. „Aufgrund der hohen Mieten können sich hier auch Menschen mit mittlerem Einkommen oft nur noch Wohnungen in ärmeren Stadtteilen leisten“, vermutet Marcel Helbig.

Und wenn man auf der Suche nach halbwegs positiven Befunden ist, dann findet man solche in einem höchst sensiblen Teilbereich der Armutsentwicklung, konkret: der Kinderarmut. Grundsätzlich gilt: Für alle untersuchten Städte zeigt sich, dass die Verteilung bei Kindern noch ungleicher ist als in der Gesamtbevölkerung. Das heißt: Gerade arme Haushalte mit Kindern konzentrieren sich in bestimmten Stadtvierteln.

»Ein positiver Trend lässt sich in ostdeutschen Städten beobachten: Die Anzahl der Stadtteile, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder von Sozialleistungen lebt, ist hier seit 2010 deutlich zurückgegangen. Grund dafür ist die positive wirtschaftliche Entwicklung, sodass weniger Familien mit Kindern auf Transferleistungen angewiesen sind.«

Aber das gilt eben nur für einen Teil der untersuchten Städte. Denn die Entwicklung in den Städten des Ruhrgebiets sieht anders aus: »Hier lebten 2021 mehr Kinder als zuvor in Stadtteilen, in denen mindestens die Hälfte der Haushalte mit Kindern staatliche Unterstützung erhält.«

Ethnische Segregation: »In allen Städten zeigt sich: Dort, wo besonders viele arme Menschen wohnen, leben auch besonders viele Menschen mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit . Vor allem in ost- und norddeutschen Städten sowie in den Städten des Ruhrgebiets erfolgte ab 2013 die Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland besonders in die von Armut geprägten Stadtteile. Bis 2013 gab es in den ostdeutschen Städten nur einen geringen Zusammenhang zwischen Ausländeranteilen und Armut.«

Die Studie misst soziale Segregation auch über die räumliche Verteilung von Menschen mit akademischem Abschluss und mit hohem Einkommen. Im Blick auf hohe Bildung und hohe Einkommen ist die Segregation jedoch weniger stark ausgeprägt als bei der Armut.

Helbig (2023) identifiziert in seiner Studie unterschiedliche sozialräumliche Verteilungsmuster der Segregation in den untersuchten Städten:

So gibt es eine Gruppe von Städten, in denen sich Armut stark im Zentrum konzentriert (z. B. Gelsenkirchen und Wolfsburg). In einer anderen Gruppe von Städten wohnen im Zentrum vor allem Akademiker; das betrifft besonders Universitätsstädte wie Münster und einige Metropolen wie Berlin und Frankfurt a. M. Für ostdeutsche Städte wiederum zeigt sich das Muster, dass arme Menschen in den großen Plattenbausiedlungen leben. Süddeutsche Städte wie zum Beispiel Bayreuth, Fürth und Tübingen stehen für ein relativ homogenes Muster mit wenig Segregation.

Hier der Link zur Originalversion der Studie:

➔ Marcel Helbig (2023): Hinter den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in den deutschen Städten. Discussion Paper P 2023–003, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Dezember 2023

Hinweis: Die Untersuchung beruht auf bislang einzigartigen Daten. Neben Daten der Kommunalstatistik für 101 deutsche Städte wurden erstmals auch räumlich vergleichbare Daten der Bundesagentur für Arbeit für 153 Städte ausgewertet. Der Datensatz ist frei verfügbar.

Was tun?

Natürlich wird dem einen oder anderen angesichts des datengestützten differenzierten Blicks auf soziale Segregation die Frage auf der Seele brennen, ob und was man denn tun könnte, um die negativen Entwicklungslinien, die in der Studie ausgeleuchtet wurden, aufzuhalten. Und tatsächlich findet man bei Helbig (2023: 1333 ff.) einen eigenen Abschnitt, der so überschrieben ist: „Was kann man gegen soziale Segregation tun“.

»Um die soziale Segregation innerhalb der Städte zu verringern, müsste in den (freien) Wohnungsmarkt eingegriffen werden. Dies kann entweder durch die Bereitstellung von Wohnraum für ärmere Menschen in Stadtteilen geschehen, in denen sie sich normalerweise keine Wohnung leisten können. Dies kann durch den Bau von Sozialwohnungen oder durch den Erwerb von Belegungsrechten in hochpreisigen Stadtteilen geschehen. Der soziale Wohnungsbau ist in Deutschland jedoch seit Jahren rückläufig.« Und nicht nur das: Es gibt Hinweise, »dass der soziale Wohnungsbau nicht (mehr) dem Ziel dient, eine soziale Durchmischung in deutschen Städten zu erreichen, sondern nur noch Wohnraum zur Verfügung zu stellen, damit sich ärmere Personengruppen überhaupt noch Wohnraum leisten können.« Und noch mehr Wasser wird in den gerade aufgetischten Wein gegossen: »Diese Sozialwohnungen sind dann auch eher in ohnehin benachteiligten Quartieren zu finden und verstärken die Armutssegregation zusätzlich. Der Bau von Sozialwohnungen oder der Erwerb von Belegungsrechten in wohlhabenderen Stadtteilen ist zudem teuer und kann dazu führen, dass gerade die (untere) Mittelschicht in ärmere Stadtteile verdrängt wird.

Eine weitere Handlungsoption: Die Einführung flexiblerer KdU- Grenzen in einer Kommune, um darüber Transferleistungsempfängern den Zugang zu Quartieren mit höheren Mieten zu ermöglichen. Die segregationsverschärfende Wirkung einer bestimmten Ausgestaltung der vom Jobcenter übernommenen Aufwendungungen für die Unterkunft liegt auf der Hand: »Wenn Transferleistungsempfängern nur Wohnungen in Gebieten mit sehr niedrigen Mieten bezahlt werden, werden sie auch in diese Gebiete ziehen. In stark gespreizten Mietmärkten führt dies zwangsläufig dazu, dass Transferleistungsempfänger nur in wenigen Quartieren eine Wohnung finden können und die Armutssegregation über die KdU weiter verschärft wird.« Diesen segregationsverstärkenden Mechanismus könnte man mit einer flexiblen Regelung abmildern, man wird dann aber sogleich konfrontiert mit einem neuen Problem, mit dem wir beispielsweise auch in der aktuell mal wieder hochgetriebenen Debatte über mangelhafte Abstände zwischen Transferleistung (Bürgergeld) und Einkommen aus Erwerbsarbeit im unteren Lohnbereich konfrontiert werden: »Setzt man aber innerhalb einer Stadt unterschiedliche KdU-Sätze an und ermöglicht es Transferleistungsempfängern, auch in sozial besser gestellte Gebiete zu ziehen, dann dürfte damit in den Augen vieler Bürger auch ein Gerechtigkeitsproblem verbunden sein. Warum dürfen Transferleistungsempfänger ohne eigene Leistung in besseren Wohngegenden leben, während sich die arbeitende Mittelschicht diese Wohnungen nicht mehr leisten kann?«

»Eine weitere Möglichkeit, der sozialen Segregation entgegenzuwirken, besteht darin, die am stärksten benachteiligten Gebiete so attraktiv zu machen, dass auch einkommensstärkere Gruppen in diese Stadtteile ziehen wollen. Dies kann durch die Sanierung von Wohngebäuden oder die Schaffung attraktiver Erholungs- und Freizeitflächen geschehen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, besonders attraktive Angebote zu schaffen, die auch für höhere Einkommensgruppen interessant sind. Dazu gehört z.B. die Schaffung attraktiver Schulgebäude oder die stärkere finanzielle Unterstützung von Schulen in benachteiligten Lagen. Hier lassen sich durchaus positive Beispiele anführen.« Aber das sind eher Einzelfälle, keine flächendeckenden Beobachtungen. »Am Beispiel ärmerer Quartiere mit hohen Akademikeranteilen konnte in dieser Studie aber auch für eine Minderheit von Städten gezeigt werden, dass solche Prozesse funktionieren können.« Man muss zur Kenntnis nehmen: »Ist die Konzentration benachteiligter Gruppen jedoch zu hoch, entsteht wiederum ein Standortnachteil, der den Zuzug der Mittelschicht unwahrscheinlich macht.«

Was bleibt sind dann oftmals (eher kleindimensionierte) Bearbeitungsversuche der Folgen sozialer Segregation: »Diese Maßnahmen werden z.B. durch den Einsatz von Sozialarbeitern in benachteiligten Quartieren und Schulen verfolgt, um die potenziell negativen sozialen Folgen von Armutsquartieren abzumildern und für gerechtere Startchancen zu sorgen. Auch das aktuell angekündigte Startchancenprogramm setzt hier an, ebenso wie verschiedene Schulentwicklungsprogramme der Länder, wie z.B. die Perspektivschulen in Schleswig- Holstein, die Talentschulen in Nordrhein-Westfalen, D23 in Hamburg oder das Bonus-Programm in Berlin. Ob diese Maßnahmen die sozialen Folgen benachteiligter Quartiere abmildern oder, wie im Fall der Schulentwicklungsprogramme, die Bildungsnachteile von Kindern in ärmeren Quartieren ein Stück weit ausgleichen, bleibt weitgehend offen.«

»Die hier eingesetzten Mittel müssen daher kontinuierlich gezahlt werden, während bauliche Maßnahmen … eher kurzfristig sehr hohe Investitionen erfordern und allenfalls langfristig wirken können.«

Gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Segregation erfordern eine differenziertes Wissen über die der Segregation zugrundeliegenden Prozesse. Und hier verweist Helbig selbst im Sinne offener Forschungsfragen auf methodische Limitationen, die sich aus Begrenzungen der vorhandenen Daten ergeben:

»Bei den in dieser Studie gemessenen Disparitäten handelt es sich um Befunde, die Querschnitte im Trend untersuchen. Die dahinter liegenden Prozesse können mit den vorliegenden Daten nicht untersucht werden. So stellt sich z.B. die Frage, inwieweit die Veränderung der Armutsquoten in einem Stadtteil darauf zurückzuführen ist, dass Personen aus einem anderen Stadtteil zu- oder in einen anderen Stadtteil wegziehen, welche Rolle Zu- oder Fortzüge mit umliegenden Gemeinden spielen oder ob SGB II-Bezieher in Bedarfsgemeinschaften hineingeboren werden, die sich bereits im Stadtteil befinden. Die Kenntnis dieser Prozesse ist wichtig, um sozialer Segregation gezielt entgegenwirken zu können.« (Helbig 2023: 135).

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