Das deutsche Jobwunder hat eine Schattenseite: In fast keinem anderen Industrieland verdienen so viele Menschen wenig.

Ein Blick aus der Schweiz auf den Arbeitsmarkt in Deutschland

In Deutschland arbeiten Menschen zwei Mal so häufig zu niedrigen Löhnen wie in der Schweiz.

Dafür gibt es vier Gründe

Das deutsche Jobwunder hat eine Schattenseite: In fast keinem anderen Industrieland verdienen so viele Menschen wenig. Ein Erklärungsversuch.

Christoph Eisenring, Berlin

Deutschland darf stolz sein auf sein Jobwunder. Heutzutage sind 6 Mio. mehr Menschen in Lohn und Brot als noch 2005. Die Erwerbslosenquote, wie sie die Internationale Arbeitsorganisation berechnet, lag jüngst nur noch bei 3%, was selbst die Schweiz in den Schatten stellt. Das sind gute Nachrichten. Doch ein zweiter Blick auf den Arbeitsmarkt enthüllt weniger Schmeichelhaftes: In Deutschland gibt es einen riesigen Niedriglohnsektor.

Was ist damit gemeint? Als Geringverdiener gilt gemeinhin, wer pro Stunde weniger als zwei Drittel des mittleren Lohnes erzielt. Es geht also nicht um einen «Armutslohn», sondern um den Vergleich mit dem Lohn, der typischerweise in einem Land bezahlt wird. Ein Trumpf der Schweiz ist, dass das Land nicht nur hohe Löhne zahlt, sondern gleichzeitig einen vergleichsweise kleinen Niedriglohnsektor hat. Dies wirkt sich stabilisierend auf eine Gesellschaft aus.

Immer weniger Tarifbeschäftigte

Deutschland kommt laut Berechnungen von Soziologen der Universität Wien im Jahr 2015 auf einen Niedriglohnanteil von 22%, die Schweiz auf einen Anteil von 12%. Deutschland hat innerhalb der OECD denn auch einen der grössten Niedriglohnsektoren. Das war jedoch nicht immer so. Noch 1996 wies die Statistik einen Anteil von 14% für Deutschland aus, womit man unter den Industriestaaten im Mittelfeld lag. Es handelt sich somit um einen kräftigen Anstieg, während die Situation in der Schweiz weitgehend stabil blieb.

Gut jeder fünfte Arbeitnehmer verdient in Deutschland nur einen Niedriglohn. (Bild: Gaetan Bally / Keystone)

Gut jeder fünfte Arbeitnehmer verdient in Deutschland nur einen Niedriglohn.

Was steckt hinter diesen gegenläufigen Entwicklungen? Man findet dafür mindestens vier Gründe: Nicola Brandt, die bei der OECD die Deutschland-Abteilung leitet, verweist im Gespräch auf die Öffnung Osteuropas nach dem Fall der Mauer 1989. Damit gerieten in Deutschland besonders die Löhne von wenig qualifizierten Arbeitnehmern unter Druck. Eine vergleichbare Dynamik hat es am Schweizer Arbeitsmarkt nicht gegeben.

Damit eng verbunden ist der zweite mögliche Grund: der Rückgang der Tarifbindung in Deutschland. In Skandinavien, aber auch in Österreich gelten für die meisten Arbeitnehmer Tarifverträge. Diese Staaten haben auch einen kleinen Niedriglohnsektor. In Deutschland ist der Anteil der Mitarbeiter mit Tarifverträgen laut OECD von 1996 bis 2016 von 81% auf 56% gesunken. In der Schweiz ging es in die entgegengesetzte Richtung: Hier nahm der Anteil von 43% auf 49% zu. Erstaunlich ist vielleicht, dass die beiden Länder hier gar nicht mehr so weit auseinanderliegen.

Nachwehen schlechter Zeiten

Nicht vergessen dürfe man, drittens, woher Deutschland komme, sagt Hermann Gartner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Das Land hatte 2005 eine Arbeitslosenquote von über 10%. Die Reformen der «Agenda 2010» unter der Regierung Schröder sowie die über Jahre praktizierte Lohnzurückhaltung animierten die Firmen, neue Stellen zu schaffen. Arbeitslose erhielten eine Chance, wenn auch oft zu einem niedrigen Lohn – schliesslich hatten ihre Qualifikationen unter der Arbeitslosigkeit gelitten. In der Schweiz gab es dagegen kein Heer von Arbeitslosen. Die lange ungünstige Entwicklung wirkt in Deutschland bis heute nach.

Schliesslich gibt es, viertens, einen wichtigen institutionellen Unterschied zwischen den Nachbarstaaten: Um die Jahrtausendwende wurden besonders von der rot-grünen Regierung «Minijobs» etabliert. Das sind Arbeiten, für die man im Monat maximal 450 € verdient. Der Arbeitgeber führt hierbei eine Pauschale an den Staat ab, während der Lohn für den Arbeitnehmer steuerfrei ist und dieser darauf keine Sozialabgaben zahlt. Die Idee dahinter war, bürokratische Hürden bei der Anstellung zu beseitigen und die Schwarzarbeit zu verringern. In Deutschland gibt es 7,5 Mio. «Minijobber», von denen 4,8 Mio. ausschliesslich einen «Minijob» haben. 40% der «Minijobber» sind Hausfrauen (und wenige Hausmänner), je 20% Studierende und Rentner.

Laut einer Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation verdienen 37% der ausländischen Beschäftigten einen Niedriglohn, bei den deutschen sind es 21%. Auch die zugewanderten Flüchtlinge starten meist in einfachen Jobs und steigen erst langsam auf. Und während von den Männern 17% im Niedriglohnsektor arbeiten, sind es bei den Frauen gut 29%.

Millionen von «Minijobbern»

Woran liegt diese Diskrepanz zwischen den Geschlechtern? Zweitverdiener, immer noch meist Frauen, sehen sich in Deutschland hohen Grenzsteuersätzen gegenüber. «Minijobs» schaffen nun die Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen, ohne dass die hohen Steuern und Sozialabgaben schon greifen. Der Nachteil ist, dass sie damit nicht unbedingt einen Job ausüben, der ihren Qualifikationen entspricht.

Mögliche Reformen für Deutschland liegen für die beiden befragten Experten auf der Hand: Hürden, die Menschen davon abhalten, mehr zu arbeiten oder bessere Stellen anzunehmen, gilt es zu beseitigen. Wer im Niedriglohnbereich tätig ist, muss oft befürchten, dass er unter dem Strich kaum mehr Geld hat, wenn er mehr arbeitet, weil ihm staatliche Leistungen gestrichen werden. Ähnlich wirkt das deutsche Ehegatten-Splitting. Es führt zu einer hohen Steuerbelastung beim Zweitverdiener. Dem würde der Übergang zur Individualbesteuerung entgegenwirken. Die Sozialabgaben auf (niedrigen) Löhnen zu senken, wäre eine weitere Option.

Die Schweiz hat dank niedrigen Steuern und Sozialabgaben gegenüber Deutschland einen gewichtigen Vorteil. Sie ist zudem international gesehen ein statistischer Ausreisser, weil sie trotz vergleichsweise liberalem Arbeitsmarkt und dezentralen Lohnverhandlungen nur einen kleinen Niedriglohnsektor hat. Es gibt jedenfalls keinen Grund, die Lohnverhandlungen stärker zu zentralisieren (etwa indem immer mehr Gesamtarbeitsverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden). Was übrigens den Lohnschutz anbelangt, haben die beiden Länder ähnliche Regeln, die nur anders heissen: Was in der EU das Entsendegesetz ist, nennt die Schweiz «flankierende Massnahmen».

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