»In der Gesamtschau der letzten 25 Jahre zeigt sich eine Erosion auf beiden Ebenen der institutionalisierten Interessenvertretung – betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung.“

Immer weniger Arbeitnehmer in der Kernzone des dualen Systems:

Die Erosion der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung über Betriebsräte geht weiter

In diesen Tagen der umfassenden Corona-Krise wird immer wieder (allerdings bereits mit abnehmender Intensität) über „systemrelevante“ Berufe und über problematische bis schlichtweg schlechte Arbeitsbedingungen gesprochen. Nicht nur die Pflege, vor allem die Altenpflege, wird dabei aufgerufen. Auch die vielen überwiegend Frauen, die im Einzelhandel den Laden am Laufen halten, sind für einen Moment in den Mittelpunkt medialen Interesses gerückt. Schon weitaus weniger oft angesprochen werden die vielen Unsichtbaren, die als Lkw-Fahrer zentrale Versorgungsfunktionen ausüben. Der harte Arbeitsalltag der vielen osteuropäischen Fahrer auf unseren Autobahnen kommt nur punktuell auf die Tagesordnung der Berichterstattung. Und man müsste die ebenfalls osteuropäischen Erntehelfer und die zahlreichen Werkvertragsarbeitnehmer vor allem aus Rumänien und Bulgarien erwähnen, die als billige und gut ausbeutbare Arbeitskräfte in die deutschen Fleischfabriken importiert werden.

Und so unterschiedlich die nur exemplarisch genannten Bereiche unserer Volkswirtschaft sind – immer wieder wird man auf ein einheitliches Strukturmuster stoßen: Wir sehen Branchen, in denen das sowieso schon vorhandenen Ungleichgewicht zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite besonders krass ausgeprägt ist. Wenn man weiß, dass in der Altenpflege oder im Einzelhandel, in denen nicht zufällig besonders viele Frauen arbeiten, weniger als zehn Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, dann wissen das auch die Arbeitgeber und die wissen dann um die schier unüberwindbare Hürde, die man nehmen müsste, um mit dem letzten Mittel einer Auseinandersetzung über strukturelle Verbesserungen der Arbeitsbedingungen auch nur drohen zu können: einem Arbeitskampf.

Und diese „Kelleretagen“ des Arbeitsmarktsystems sind nur ein Teil einer weit umfangreicheren Entwicklung der vergangenen Jahre, die oftmals als „Tarifflucht“ von Arbeitgebern bezeichnet wird. Dazu gehört auch die schrumpfende Begleitung und Absicherung vieler Arbeitnehmer durch einen Betriebsrat, weil der Anteil der Beschäftigten, die in Unternehmen ohne eine solche institutionalisierte Interessenvertretung arbeiten, weiter steigt.

Wie sieht es aktuell aus hinsichtlich der Tarifbindung der Beschäftigten und dem Vorhandensein einer betrieblichen Interessenvertretung? Dazu veröffentlich das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit einmal jährlich Zahlen, die aus dem IBA.Betriebspanel stammen.

➔ Das IAB-Betriebspanel ist eine repräsentative Arbeitgeberbefragung. Jährlich werden von Ende Juni bis Oktober bundesweit knapp 16.000 Betriebe aller Wirtschaftszweige und Größenklassen befragt. Die Befragung wird in persönlich-mündlichen Interviews befragt. Mittlerweile existiert das IAB-Betriebspanel in Westdeutschland seit 1993 und in Ostdeutschland seit 1996 und stellt als umfassender Längsschnittdatensatz die Grundlage für die Erforschung der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes dar. Die Ergebnisse zur Tarifbindung sind repräsentativ für die rund 2,1 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Insgesamt sind in diesen Betrieben knapp 40,9 Millionen Personen beschäftigt. Die Ergebnisse zu den Betriebsräten sind repräsentativ für die rund 1,2 Millionen Betriebe der Privatwirtschaft. Insgesamt sind in diesen Betrieben etwa 31 Millionen Personen beschäftigt.

Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück und in Ostdeutschland bleibt sie auf niedrigen Niveau hängen

»Überbetriebliche Branchen- oder Flächentarifverträge spielen eine wesentliche Rolle bei der Regelung von Arbeitsbedingungen und bei der Lohnfindung. Sie werden meist für Regionen und Branchen ausgehandelt und sorgen dort für einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten«, so Susanne Kohaut in ihrem Artikel Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück, in dem Zahlen für das Jahr 2019 präsentiert werden.

Seit Beginn der Erhebung 1996 bis zur Mitte der 2000er Jahre zeigt die Branchentarifbindung in den alten wie in den neuen Bundesländern eine stark rückläufige Tendenz. In Westdeutschland folgte danach zunächst eine Phase der Stabilisierung bis 2010, während in Ostdeutschland die Reichweite der Tarifbindung mehr oder weniger stetig abnahm. In Westdeutschland ist seit 2010 ebenfalls erneut ein Rückgang zu verzeichnen. In Ostdeutschland ist in den letzten Jahren immerhin eine gewisse Stabilisierung eingetreten:

Quelle der Abbildung: Susanne Kohaut (2020): Tarifbindung geht in Westdeutschland weiter zurück, in: IAB-Forum, 13.05.2020

Für rund 47 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer gab es 2019 keinen Tarifvertrag. Noch krasser sind die werte für die Betriebe:

Von den Betrieben selbst sind derzeit rund 27 Prozent im Westen und rund 17 Prozent im Osten durch Branchentarifverträge gebunden. Haus- oder Firmentarifverträge gelten für 2 Prozent der Betriebe in den alten und etwa 3 Prozent der Betriebe in den neuen Bundesländern. Alle anderen, also etwa 71 Prozent der westdeutschen und sogar 80 Prozent der ostdeutschen Betriebe, sind nicht tarifgebunden.

Das Ausmaß der Tarifbindung variiert je nach Wirtschaftszweig stark. Hier wurde am Anfang des Beitrags auf den Einzelhandel hingewiesen. Dort sehen die Werte so aus: Nur noch 23 Prozent der Beschäftigten werden nach dem Branchentarif entlohnt, 72 Prozent sind außerhalb jeglicher Tarifbindung unterwegs. Zudem steigt der tarifliche Deckungsgrad mit der Betriebsgröße.

Das Fazit von Kohaut: »In Deutschland ist die Tarifbindung seit Jahren rückläufig. Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, so ist der Trend als solcher eindeutig und hält zumindest in Westdeutschland nach wie vor an. Obwohl Branchentarifverträge für viele nicht tarifgebundene Betriebe als Referenzrahmen bei der Aushandlung der Löhne und Arbeitsbedingungen dienen, fehlt in diesen Betrieben die rechtliche Verbindlichkeit und damit die Sicherheit für die Beschäftigten.«

Und wie sieht es mit der betrieblichen Mitbestimmung aus?

»In deutschen Unternehmen werden die Interessen der Beschäftigten vielfach durch Betriebsräte vertreten. Seit der Jahrtausendwende war allerdings in beiden Landesteilen lange Zeit eine schleichende Erosion zu beobachten. In den letzten Jahren nahm der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat jedoch in Ostdeutschland wieder zu. In Westdeutschland zeigte sich zuletzt kein klarer Trend. Damit verringert sich im Osten der langjährige Rückstand bei der betrieblichen Mitbestimmung«, berichtet Peter Ellguth in seinem Artikel Ost- und Westdeutschland nähern sich bei der Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung an. »Die Daten des IAB-Betriebspanels zeigen: Die Verbreitung von Betriebsräten ist heute deutlich geringer als noch Anfang der 2000er Jahre. Zumindest bis etwa Mitte der 2010er Jahre ist eine schleichende Erosion zu beobachten.«

Wenn man in einem ersten Schritt nur auf die Betriebe schaut (hier geht es um Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten, da nur diese zur Wahl eines Betriebsrats berechtigt sind), dann muss man diesen ernüchternden Befund zur Kenntnis nehmen: »Der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat … sank bis Mitte der 2010er Jahre mit gewissen Schwankungen auf 9 Prozent. Seitdem verharrt er in etwa auf diesem Niveau« – im Westen wie im Osten unseres Landes. Die insgesamt doch sehr niedrigen Anteilswerte werden von der großen Zahl der Kleinbetriebe geprägt, in denen die Existenz eines Betriebsrats eher die Ausnahme ist.

Und wie sieht es mit dem Anteil der Beschäftigten aus, die in einem Unternehmen mit/ohne Betriebsrat arbeiten? Auch dieser Anteil sank im Westen seit Mitte der 1990er Jahre von 51 auf heute 41 Prozent, im Osten von 43 auf 36 Prozent.

Ellguth weist darauf hin: »Bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 ging es dem Gesetzgeber unter anderem darum, die Erosion der betrieblichen Mitbestimmung zu stoppen und das Wahlrecht zu entbürokratisieren, damit gerade in Kleinbetrieben mehr Betriebsräte gegründet werden.«

»Diese Hoffnungen haben sich jedoch nicht erfüllt: Der Anteil der Beschäftigten in Betrieben zwischen 5 und 50 Beschäftigten (siehe Abbildung, untere zwei Reihen), die einen Betriebsrat haben, ging seit der Jahrtausendwende in Westdeutschland von 14 auf 9 Prozent, in Ostdeutschland von 14 auf 10 Prozent zurück.«

»Stärkere Aufmerksamkeit verdient die Entwicklung in Betrieben zwischen 51 und 500 Beschäftigten (siehe Abbildung, mittlere Reihen). Dort fielen die Anteilswerte seit dem Jahr 2000 von 67 auf 52 Prozent im Westen und von 63 auf 52 Prozent im Osten und damit stärker als im Durchschnitt aller Beschäftigten.« Offensichtlich verliert gerade hier die betriebliche Mitbestimmung an Boden.

Nur eine Minderheit der Beschäftigten arbeitet in tariflich organisierten Betrieben mit Betriebsrat

Zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung – in Betrieben also, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören: »Diese Zone umfasst nur ein knappes Viertel (24%) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14%) in Ostdeutschland.«

Das Fazit von Ellguth: »In der Gesamtschau der letzten 25 Jahre zeigt sich eine Erosion auf beiden Ebenen der institutionalisierten Interessenvertretung – betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung. Dabei wechseln sich Phasen relativer Stabilität und weiteren Rückgangs immer wieder ab. Für die jüngste Entwicklung ergibt sich ein eher uneinheitliches Bild. Zum einen scheint die Tarifbindung in Westdeutschland weiter zu erodieren, zum anderen könnte sich in Ostdeutschland eine Trendwende abzeichnen. Festzuhalten ist, dass inzwischen nur noch ein kleiner Teil der Beschäftigten in Betrieben der Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretungen arbeitet. Zudem ist in den jüngsten Zahlen eine gewisse Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland zu erkennen.«

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